Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Zur sozialen Frage. Eigennutz. Menschenliebe in ihrer vollendetsten Form wird bei uns einkehren. Wir lassen diesen letzten Teil unsers Buches auf sich beruhen. Man wird Das Maß dessen, was jeder als Lebensbedarf bezieht, bestimmt sich in Zur sozialen Frage. Eigennutz. Menschenliebe in ihrer vollendetsten Form wird bei uns einkehren. Wir lassen diesen letzten Teil unsers Buches auf sich beruhen. Man wird Das Maß dessen, was jeder als Lebensbedarf bezieht, bestimmt sich in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0594" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198018"/> <fw type="header" place="top"> Zur sozialen Frage.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1760" prev="#ID_1759"> Eigennutz. Menschenliebe in ihrer vollendetsten Form wird bei uns einkehren.<lb/> Auch das Weib wird eine andre Stellung haben. Jeder Unterschied der<lb/> moralischen und rechtlichen Auffassung der Handlungsweise beider Geschlechter<lb/> muß aufhören. Bei der Eheschließung wird geschlechtliche Auswahl, frei von<lb/> allen konventionellen und materiellen Nebenrücksichten, das allein bestimmende<lb/> Moment sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1761"> Wir lassen diesen letzten Teil unsers Buches auf sich beruhen. Man wird<lb/> sich erinnern, daß schon Thomas Morus im Jahre 1516 eine ähnliche Be¬<lb/> schreibung von der Insel Utopia geliefert hat. Was aber deu ganzen Aufbau<lb/> des Verfassers betrifft, so müsse« wir denselben schon in seiner ersten Grund¬<lb/> lage bestreiten. Zwar ist es richtig, daß es bei uns — sowie es überall und<lb/> immer gewesen ist — eine Anzahl Menschen giebt, die mehr oder minder mit<lb/> wirklicher Not zu kämpfeu habe». Daß aber die große Masse unsers Volkes<lb/> in tiefstem Elende lebe, ist eine durchaus unwahre Übertreibung. Der größte<lb/> Teil unsers Volkes führt zwar kein glänzendes, aber doch ein ganz erträgliches<lb/> Dasein. Dies gilt namentlich von der Masse unsrer Arbeiter, solange nicht<lb/> den einen oder andern ein besondres Unglück trifft, das ihn in Not bringt.<lb/> Während wir dieses schreiben, zieht gerade ein Karncvalszug von Tausenden,<lb/> größtenteils aus Arbeiter» bestehend, an unserm Fenster vorüber. Sieht das<lb/> aus wie Massenelend? Unrichtig ist es auch, wenn der Verfasser der Masse<lb/> der „Elenden" einzelne, welche in größter Üppigkeit leben, gegenüberstellt.<lb/> Zwischen den auf die geringste Existenz beschränkten und deu übermüßig reichen<lb/> zieht sich ein breiter Gürtel mittlerer Existenzen hin, welche, ohne reich zu sein,<lb/> sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen. So bildet die bürgerliche Gesellschaft<lb/> in Beziehung auf Wohlstand eine Pyramide, in welcher die unterste Schicht der<lb/> auf den geringsten Lebensbedarf angewiesenen allerdings die breiteste ist, die<lb/> aber von da an bis zu den wahrhaft reichen sich allmählich zuspitzt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1762" next="#ID_1763"> Das Maß dessen, was jeder als Lebensbedarf bezieht, bestimmt sich in<lb/> erster Linie nach der Summe der Güter, die wir erzeugen. Diese werden ver¬<lb/> teilt nach Maßgabe des Verdienstes eines Jeden. Unter diesem Verdienste ist<lb/> znnüchst Geldverdienst gedacht. Man kann ja zugeben, daß dieser Geldverdienst<lb/> nicht immer dem moralischen Verdienste entspricht. Aber wir haben keinen<lb/> andern Maßstab für die Schätzung des Verdienstes eines Jeden als den Wert,<lb/> der seinen Leistungen von der gemeinen Meinung wirtschaftlich beigelegt<lb/> wird. Und das ist das Geld, welches dafür bezahlt wird. Es entspricht der<lb/> Natur der Sache, daß die große Masse derjenigen, welche für die Arbeit der<lb/> menschlichen Gesellschaft nichts andres als die gewöhnliche Menschenkraft und<lb/> den gewöhnlichen Menschenverstand mitbringen können, auf den relativ geringsten<lb/> Anteil an den zu verteilenden Gütern angewiesen ist. Das Maß dieser Ver¬<lb/> teilung wird stets davon abhängen, daß bei ihr noch die große Masse der<lb/> Arbeiter nutzbringend beschäftigt werden kann. Hat einmal längere Zeit ein</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0594]
Zur sozialen Frage.
Eigennutz. Menschenliebe in ihrer vollendetsten Form wird bei uns einkehren.
Auch das Weib wird eine andre Stellung haben. Jeder Unterschied der
moralischen und rechtlichen Auffassung der Handlungsweise beider Geschlechter
muß aufhören. Bei der Eheschließung wird geschlechtliche Auswahl, frei von
allen konventionellen und materiellen Nebenrücksichten, das allein bestimmende
Moment sein.
Wir lassen diesen letzten Teil unsers Buches auf sich beruhen. Man wird
sich erinnern, daß schon Thomas Morus im Jahre 1516 eine ähnliche Be¬
schreibung von der Insel Utopia geliefert hat. Was aber deu ganzen Aufbau
des Verfassers betrifft, so müsse« wir denselben schon in seiner ersten Grund¬
lage bestreiten. Zwar ist es richtig, daß es bei uns — sowie es überall und
immer gewesen ist — eine Anzahl Menschen giebt, die mehr oder minder mit
wirklicher Not zu kämpfeu habe». Daß aber die große Masse unsers Volkes
in tiefstem Elende lebe, ist eine durchaus unwahre Übertreibung. Der größte
Teil unsers Volkes führt zwar kein glänzendes, aber doch ein ganz erträgliches
Dasein. Dies gilt namentlich von der Masse unsrer Arbeiter, solange nicht
den einen oder andern ein besondres Unglück trifft, das ihn in Not bringt.
Während wir dieses schreiben, zieht gerade ein Karncvalszug von Tausenden,
größtenteils aus Arbeiter» bestehend, an unserm Fenster vorüber. Sieht das
aus wie Massenelend? Unrichtig ist es auch, wenn der Verfasser der Masse
der „Elenden" einzelne, welche in größter Üppigkeit leben, gegenüberstellt.
Zwischen den auf die geringste Existenz beschränkten und deu übermüßig reichen
zieht sich ein breiter Gürtel mittlerer Existenzen hin, welche, ohne reich zu sein,
sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen. So bildet die bürgerliche Gesellschaft
in Beziehung auf Wohlstand eine Pyramide, in welcher die unterste Schicht der
auf den geringsten Lebensbedarf angewiesenen allerdings die breiteste ist, die
aber von da an bis zu den wahrhaft reichen sich allmählich zuspitzt.
Das Maß dessen, was jeder als Lebensbedarf bezieht, bestimmt sich in
erster Linie nach der Summe der Güter, die wir erzeugen. Diese werden ver¬
teilt nach Maßgabe des Verdienstes eines Jeden. Unter diesem Verdienste ist
znnüchst Geldverdienst gedacht. Man kann ja zugeben, daß dieser Geldverdienst
nicht immer dem moralischen Verdienste entspricht. Aber wir haben keinen
andern Maßstab für die Schätzung des Verdienstes eines Jeden als den Wert,
der seinen Leistungen von der gemeinen Meinung wirtschaftlich beigelegt
wird. Und das ist das Geld, welches dafür bezahlt wird. Es entspricht der
Natur der Sache, daß die große Masse derjenigen, welche für die Arbeit der
menschlichen Gesellschaft nichts andres als die gewöhnliche Menschenkraft und
den gewöhnlichen Menschenverstand mitbringen können, auf den relativ geringsten
Anteil an den zu verteilenden Gütern angewiesen ist. Das Maß dieser Ver¬
teilung wird stets davon abhängen, daß bei ihr noch die große Masse der
Arbeiter nutzbringend beschäftigt werden kann. Hat einmal längere Zeit ein
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