Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Konservatorien und Kmistlerproletariat. muß als in allen andern Fällen, die Talcntfrage, mit allem Nachdruck und ini Wohl ist es wahr, daß die Konservatorien, sogut wie alle höhern Bildungs¬ Konservatorien und Kmistlerproletariat. muß als in allen andern Fällen, die Talcntfrage, mit allem Nachdruck und ini Wohl ist es wahr, daß die Konservatorien, sogut wie alle höhern Bildungs¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0042" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197466"/> <fw type="header" place="top"> Konservatorien und Kmistlerproletariat.</fw><lb/> <p xml:id="ID_100" prev="#ID_99"> muß als in allen andern Fällen, die Talcntfrage, mit allem Nachdruck und ini<lb/> Bewußtsein einer großen, ja schweren Verantwortung zu stellen. Die sinnlose<lb/> Koukurrenzwirtschnft, die auch auf dem Gebiete des höhern und höchsten<lb/> Unterrichts sich geltend macht, hat diese Fragestellung längst beseitigt. Wohl<lb/> figurirt die Voraussetzung musikalischen Talents in den Statuten und Aus¬<lb/> nahmebedingungen aller Konservatorien, aber meist stellt sie sich als purer Schein<lb/> heraus. Wo die Klassen um jeden Preis gefüllt, im Jahresbericht und in<lb/> Zeitungen die Schülerzahlen gegen die Konkurrcnzanstalteu ausgespielt werden<lb/> sollen, wo die pekuniäre Existenz eines zahlreichen Lehrerpersonals zum guten<lb/> Teil von der Füllung, ja Überfüllung aller Fächer abhängig ist, wo man des<lb/> Glaubens lebt, daß zehn verdorbne und unselige Existenzen einen guten Dung<lb/> für eine elfte, glanzreiche abgeben, da hört die gewissenhafte Beantwortn»«, der<lb/> Vorfrage ebensowohl auf als die Überlegung, was aus den Hunderten werden<lb/> soll, die man alljährlich als fertig und durchgebildet entläßt. Talent ist zudem<lb/> ein sehr dehnbarer Begriff, und die, deren Finger jeder Klavierdressnr widerstreben,<lb/> pflegen sich ja bei den Musikschulen nicht zu melden. Für die empfindlichsten<lb/> Mängel des Ohrs, für die ersichtlichste Trägheit des Auffassungsvermögens,<lb/> für jede noch so schreiende Unzulänglichkeit aber, die das Ergreifen der Musik<lb/> als Lebensberuf geradezu untersagen müßte, tröstet man sich mit der eignen treff¬<lb/> lichen Methode, mit der Zuversicht, daß man zwar kein Genie, aber etwas<lb/> „ganz Tüchtiges" aus dem oder der machen werde. Etwas „Tüchtiges," daß<lb/> Gott erbarm! Wir rufen alle ehrlichen und tüchtigen Musiker auf, ihr Urteil<lb/> über dreiviertel dieser Tüchtigkeit abzugeben!</p><lb/> <p xml:id="ID_101" next="#ID_102"> Wohl ist es wahr, daß die Konservatorien, sogut wie alle höhern Bildungs¬<lb/> stätten, vom wilden Andrang der Berufsbedürftigeu, der „Strebenden," über¬<lb/> flutet werden, daß sie (wenigstens die bessern unter ihnen) keine andern Reiz¬<lb/> mittel als die unvermeidlichen Inserate anwenden, um fortgesetzt Schüler und<lb/> namentlich Schülerinnen in Überzahl zu erhalten, daß in sehr zahlreichen Fällen<lb/> geradezu an die Nachgiebigkeit und das Mitleid der mit der Aufnahmeprüfung<lb/> betrauten appellirt wird, wahr auch, daß es gewisse Fälle giebt, in denen der<lb/> gewiegteste Beurteiler nicht weiß, ob er einem wirklichen Talent oder einem so¬<lb/> genannten „Blender" gegenübersteht. Allein angesichts des weit größern Elends<lb/> und Unheils, welches aus der Überfüllung der künstlerischen Berufsarten mit<lb/> Unbernfncn hervorgeht, als aus der (ja gleichfalls auf einen unerträglichen<lb/> Grad gestiegenen) Überfüllung andrer liberalen Berufszweige, sollten und<lb/> müßten die Konservatorien strenger, viel strenger verfahren. Es hat keine<lb/> Schwierigkeit, die Anforderung an die Befähigung zu steigern, wenn man nur<lb/> Ernst machen will. Universitäten und technische Hochschulen schützen sich (un¬<lb/> zulänglich genug) vor der schrankenlosen Überflutung durch die Forderung eines<lb/> vor der Aufnahme erlangten Maturitätszeugnisses und durch Verschärfung ihrer<lb/> eignen Prüfungsforderungen. Kunstakademien und Musikschulen könnten mit dem</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0042]
Konservatorien und Kmistlerproletariat.
muß als in allen andern Fällen, die Talcntfrage, mit allem Nachdruck und ini
Bewußtsein einer großen, ja schweren Verantwortung zu stellen. Die sinnlose
Koukurrenzwirtschnft, die auch auf dem Gebiete des höhern und höchsten
Unterrichts sich geltend macht, hat diese Fragestellung längst beseitigt. Wohl
figurirt die Voraussetzung musikalischen Talents in den Statuten und Aus¬
nahmebedingungen aller Konservatorien, aber meist stellt sie sich als purer Schein
heraus. Wo die Klassen um jeden Preis gefüllt, im Jahresbericht und in
Zeitungen die Schülerzahlen gegen die Konkurrcnzanstalteu ausgespielt werden
sollen, wo die pekuniäre Existenz eines zahlreichen Lehrerpersonals zum guten
Teil von der Füllung, ja Überfüllung aller Fächer abhängig ist, wo man des
Glaubens lebt, daß zehn verdorbne und unselige Existenzen einen guten Dung
für eine elfte, glanzreiche abgeben, da hört die gewissenhafte Beantwortn»«, der
Vorfrage ebensowohl auf als die Überlegung, was aus den Hunderten werden
soll, die man alljährlich als fertig und durchgebildet entläßt. Talent ist zudem
ein sehr dehnbarer Begriff, und die, deren Finger jeder Klavierdressnr widerstreben,
pflegen sich ja bei den Musikschulen nicht zu melden. Für die empfindlichsten
Mängel des Ohrs, für die ersichtlichste Trägheit des Auffassungsvermögens,
für jede noch so schreiende Unzulänglichkeit aber, die das Ergreifen der Musik
als Lebensberuf geradezu untersagen müßte, tröstet man sich mit der eignen treff¬
lichen Methode, mit der Zuversicht, daß man zwar kein Genie, aber etwas
„ganz Tüchtiges" aus dem oder der machen werde. Etwas „Tüchtiges," daß
Gott erbarm! Wir rufen alle ehrlichen und tüchtigen Musiker auf, ihr Urteil
über dreiviertel dieser Tüchtigkeit abzugeben!
Wohl ist es wahr, daß die Konservatorien, sogut wie alle höhern Bildungs¬
stätten, vom wilden Andrang der Berufsbedürftigeu, der „Strebenden," über¬
flutet werden, daß sie (wenigstens die bessern unter ihnen) keine andern Reiz¬
mittel als die unvermeidlichen Inserate anwenden, um fortgesetzt Schüler und
namentlich Schülerinnen in Überzahl zu erhalten, daß in sehr zahlreichen Fällen
geradezu an die Nachgiebigkeit und das Mitleid der mit der Aufnahmeprüfung
betrauten appellirt wird, wahr auch, daß es gewisse Fälle giebt, in denen der
gewiegteste Beurteiler nicht weiß, ob er einem wirklichen Talent oder einem so¬
genannten „Blender" gegenübersteht. Allein angesichts des weit größern Elends
und Unheils, welches aus der Überfüllung der künstlerischen Berufsarten mit
Unbernfncn hervorgeht, als aus der (ja gleichfalls auf einen unerträglichen
Grad gestiegenen) Überfüllung andrer liberalen Berufszweige, sollten und
müßten die Konservatorien strenger, viel strenger verfahren. Es hat keine
Schwierigkeit, die Anforderung an die Befähigung zu steigern, wenn man nur
Ernst machen will. Universitäten und technische Hochschulen schützen sich (un¬
zulänglich genug) vor der schrankenlosen Überflutung durch die Forderung eines
vor der Aufnahme erlangten Maturitätszeugnisses und durch Verschärfung ihrer
eignen Prüfungsforderungen. Kunstakademien und Musikschulen könnten mit dem
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