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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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neuesten Evangeliums von der unmittelbaren unverfälschten, unverkünstelten
Wiedergabe der Natur, er teilt deu tiefen Widerwillen gegen alles Konventionelle
und, fügen nur hinzu, gegen alles für konventionell erklärte in der Kunst, er
strebt zum Kern der Erscheinungen zu dringen, zunächst unbekümmert, ob sich
Freude und Genuß an deu Erscheinungen gewinnen läßt, er teilt die Losung,
das; die Poesie die ganze Wahrheit, die Wahrheit um jeden Preis darstellen
solle, gleichviel was darüber aus ihr selbst werde. Nun ist gewiß, daß der
Roman dieser Auffassung der Dichtung besser entgegenkommt als das Drama.
Eine Drama ohne künstlerische Absicht, ohne Aufbau, ohne Steigerung, ohne
Konzentration, ohne Weglassung des Zufällige!,. Unwesentlichen und bloß Äußer¬
lichen kaun nicht gedacht werden. Ein Drama fordert von vornherein eine so straffe
Zusammennahme der Fäden, eine Beschränkung der Motive und eine Folgerichtig¬
keit der innern und äußern Entwicklung, wie sie nach der Meinung der Natura¬
listen vom reinsten Wasser aller ..wahren" Menschen- und Lebensdarstellung
widerstreben. Allerdings räumen die Herren ein, daß anch bei einigen drama¬
tischen Dichtern in einzelnen Charakteren und einzelnen Zügen das zu finden
sei, was sie echte Natur nennen, und nicht alle mögen den Beruf des Schrift¬
stellers, der ein Dichter ist. mit dem des modernen Romanschreibers, des Analy¬
tikers vertauschen, der, jede Vergleichung mit den Dichtern früherer Zeiten ab¬
lehnend, ein Physiolog, ein Zootom, ein Chemiker, wenn es sein muß alles, nnr
kein Künstler heißen will. Wir werden demnächst bessere Gelegenheit haben,
diese neuästhetischeu oder vielmehr antiästhetischen Prinzipien an ihren deutschen
Resultaten genauer zu besprechen oder zu prüfen, aber das hier angedeutete
reicht hin, um die Bevorzugung des Romans vor allen poetischen Formen bei
jedem Naturalisten zu erklären. Ob die Zolaschüler reinen Blutes Auzengruber
sür einen reinen und vollen Naturalisten gelten lassen, bleibt allerdings fraglich,
da er weder ausschließlich noch mit Vorliebe aus deu großstädtischen Kloaken
schöpft, die den kastalischen Quell der unbedingt modernen bilden. Indes braucht
uns das nicht zu kümmern, so weit die Geschichte der dentschen Literatur dereinst
Notiz nehmen wird von den Bestrebungen des Naturalismus, so weit wird sie
sicher Auzengruber als eines der frischesten, eigentümlichsten und unbefangensten
Talente unter den Naturalisten ehren.

Das jüngste Werk des österreichischen Dichters, der Roman Der Stern¬
steinhof (Leipzig. Breitkopf ^ Härtel), wird zwar nicht durch eine Schutzvvrrede
eröffnet, aber es folgt ihm ein Nachwort, welches den Leser mit aller wünschens¬
werten Deutlichkeit über die Absichte" des Verfassers unterrichtet. Da heißt es:
"Der Leser hat eine Frage frei. Warum erzählt man solche Geschichten, die nnr auf¬
weisen "wie es im Leben zugeht"? Allerdings giebt das ein unfruchtbares Wissen,
da es nichts an den Vorgängen ändern lehrt und was es lehrt doch nie, selbst von
den Wissenden nicht, mit dem Handeln in Einklang zu bringen versucht wird; so
bleibt es denn voraussichtlich noch lange mit allem menschlichen Treiben und


Grenzboten I. 1886. ut

neuesten Evangeliums von der unmittelbaren unverfälschten, unverkünstelten
Wiedergabe der Natur, er teilt deu tiefen Widerwillen gegen alles Konventionelle
und, fügen nur hinzu, gegen alles für konventionell erklärte in der Kunst, er
strebt zum Kern der Erscheinungen zu dringen, zunächst unbekümmert, ob sich
Freude und Genuß an deu Erscheinungen gewinnen läßt, er teilt die Losung,
das; die Poesie die ganze Wahrheit, die Wahrheit um jeden Preis darstellen
solle, gleichviel was darüber aus ihr selbst werde. Nun ist gewiß, daß der
Roman dieser Auffassung der Dichtung besser entgegenkommt als das Drama.
Eine Drama ohne künstlerische Absicht, ohne Aufbau, ohne Steigerung, ohne
Konzentration, ohne Weglassung des Zufällige!,. Unwesentlichen und bloß Äußer¬
lichen kaun nicht gedacht werden. Ein Drama fordert von vornherein eine so straffe
Zusammennahme der Fäden, eine Beschränkung der Motive und eine Folgerichtig¬
keit der innern und äußern Entwicklung, wie sie nach der Meinung der Natura¬
listen vom reinsten Wasser aller ..wahren" Menschen- und Lebensdarstellung
widerstreben. Allerdings räumen die Herren ein, daß anch bei einigen drama¬
tischen Dichtern in einzelnen Charakteren und einzelnen Zügen das zu finden
sei, was sie echte Natur nennen, und nicht alle mögen den Beruf des Schrift¬
stellers, der ein Dichter ist. mit dem des modernen Romanschreibers, des Analy¬
tikers vertauschen, der, jede Vergleichung mit den Dichtern früherer Zeiten ab¬
lehnend, ein Physiolog, ein Zootom, ein Chemiker, wenn es sein muß alles, nnr
kein Künstler heißen will. Wir werden demnächst bessere Gelegenheit haben,
diese neuästhetischeu oder vielmehr antiästhetischen Prinzipien an ihren deutschen
Resultaten genauer zu besprechen oder zu prüfen, aber das hier angedeutete
reicht hin, um die Bevorzugung des Romans vor allen poetischen Formen bei
jedem Naturalisten zu erklären. Ob die Zolaschüler reinen Blutes Auzengruber
sür einen reinen und vollen Naturalisten gelten lassen, bleibt allerdings fraglich,
da er weder ausschließlich noch mit Vorliebe aus deu großstädtischen Kloaken
schöpft, die den kastalischen Quell der unbedingt modernen bilden. Indes braucht
uns das nicht zu kümmern, so weit die Geschichte der dentschen Literatur dereinst
Notiz nehmen wird von den Bestrebungen des Naturalismus, so weit wird sie
sicher Auzengruber als eines der frischesten, eigentümlichsten und unbefangensten
Talente unter den Naturalisten ehren.

Das jüngste Werk des österreichischen Dichters, der Roman Der Stern¬
steinhof (Leipzig. Breitkopf ^ Härtel), wird zwar nicht durch eine Schutzvvrrede
eröffnet, aber es folgt ihm ein Nachwort, welches den Leser mit aller wünschens¬
werten Deutlichkeit über die Absichte« des Verfassers unterrichtet. Da heißt es:
„Der Leser hat eine Frage frei. Warum erzählt man solche Geschichten, die nnr auf¬
weisen »wie es im Leben zugeht«? Allerdings giebt das ein unfruchtbares Wissen,
da es nichts an den Vorgängen ändern lehrt und was es lehrt doch nie, selbst von
den Wissenden nicht, mit dem Handeln in Einklang zu bringen versucht wird; so
bleibt es denn voraussichtlich noch lange mit allem menschlichen Treiben und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/409>, abgerufen am 05.02.2025.