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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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wohl erfuhr sie, wie der gedachte Aufsatz erzählt, in ihrer ersten Jugend die
stärksten Hindernisse bei der von ihr ersehnten Ausbildung für die Musik. Mutter
und Großmutter erachteten es für ersprießlicher, daß sie sich mit Saumnaht,
Überhcmdnccht und doppelter Naht beschäftige, als mit Zweinnddreißigstelpassagcn,
daß sie Mehlspeisen und Pastctendeckel herstellen lernte, anstatt zu phantasiren.
Johanna Kinkel fügt der Erzählung von allen diesen Dingen hinzu: "Es gelang
für eine Reihe von Jahren, die Kunst bei mir in den Hintergrund zu drängen,
Schicksale auf Schicksale wälzten sich zwischen jenen Jugendtraum und meine
Zukunft -- und dennoch, der Faden riß nie ganz ab, der mich an die geliebte
Musik band. Es ist trotz tausend Hindernissen dahin gekommen, daß sie mein
legitimer Lebensberuf ward, und ich bin in London und habe den "Messias" in
Exeter-Hall gehört." Der ganze Aufsatz ist von Johanna Kinkel offenbar zu
Nutz und Frommen junger Talente und zur Besiegung der philiströsen An¬
schauungen geschrieben, mit denen sie in ihrer Jugend zu kämpfen hatte.

Wir sind geneigt, eine sehr andre Konsequenz aus der Erzählung Johanna
Kinkels zu ziehen. Wie Jahrhunderte fern scheinen die Tage zu liegen, in
denen man einem wahrhaften, ausgiebigen und ungewöhnlichen Talente den
Weg zur Musik als Lebensberuf versperrte, in denen man naiv des guten
Glaubens lebte, daß "eine glückliche Hausfrau die größte Künstlerin nicht be¬
neide," in denen es aller Anstrengungen eines starken Talentes und eines
starken Charakters bedürfte, um an ein Ziel zu gelangen, das nur für die Aus-
erwählten ein glückliches Ziel ist. Heutzutage ist wenig oder gar keine Gefahr
vorhanden, daß auch nur der Schein eines Talents verkümmere, und die that¬
sächliche Gefahr, Hunderte, ja tausende von ciusgesprvchnen Nichttalenten die
künstlerische Laufbahn betreten zu sehen, steigert sich mit jedem Tage, mit der
Gründung jeder neuen Musikschule, beinahe jedes Privatinstitutes. D. F. Strauß
hat einmal irgendwo gesagt, auf nichts verstehe sich die liebe Menschheit schlechter,
als an der rechten Stelle innezuhalten und den "Fortschritt" nicht über den
Punkt hinauszutreiben, von welchem an er kläglicher Rückschritt wird. In
keinem Gebiete trifft dies mehr zu, als in dem der gesellschaftlichen Sitte und
Meinung. Wenn es eine armselige Beschränktheit und ein dürftiges Vorurteil
war, Menschennaturen, und namentlich Frauen, die einen ausgesprochnen Beruf
zur Kunst und künstlerischen Pädagogik in sich trugen, gewaltsam beim Her¬
kömmlichen festzuhalten, so ist doch -- dank der Widerstandskraft des echten
Talents -- dabei unendlich viel weniger gesündigt worden als heutzutage, wo
leidige Not, falschgerichteter Ehrgeiz, platte Eitelkeit und der dunkle, die Massen
beherrschende Trieb nach bessern Lebensverhältnissen, genußvollerem Dasein
tausende und abertausende von modernen Töchtern zur Kunst und, der ganzen
Bewegung gemäß, vorzugsweise zur herrschenden, zur Modekunst der Musik
führen. In witzigen und witzigseinsollendeu Feuilletons, in den "Eingescmdts"
unsrer Zeitungen und in dem Kncipenjcirgon, welcher bei gewissen Gruppen mo-


wohl erfuhr sie, wie der gedachte Aufsatz erzählt, in ihrer ersten Jugend die
stärksten Hindernisse bei der von ihr ersehnten Ausbildung für die Musik. Mutter
und Großmutter erachteten es für ersprießlicher, daß sie sich mit Saumnaht,
Überhcmdnccht und doppelter Naht beschäftige, als mit Zweinnddreißigstelpassagcn,
daß sie Mehlspeisen und Pastctendeckel herstellen lernte, anstatt zu phantasiren.
Johanna Kinkel fügt der Erzählung von allen diesen Dingen hinzu: „Es gelang
für eine Reihe von Jahren, die Kunst bei mir in den Hintergrund zu drängen,
Schicksale auf Schicksale wälzten sich zwischen jenen Jugendtraum und meine
Zukunft — und dennoch, der Faden riß nie ganz ab, der mich an die geliebte
Musik band. Es ist trotz tausend Hindernissen dahin gekommen, daß sie mein
legitimer Lebensberuf ward, und ich bin in London und habe den „Messias" in
Exeter-Hall gehört." Der ganze Aufsatz ist von Johanna Kinkel offenbar zu
Nutz und Frommen junger Talente und zur Besiegung der philiströsen An¬
schauungen geschrieben, mit denen sie in ihrer Jugend zu kämpfen hatte.

Wir sind geneigt, eine sehr andre Konsequenz aus der Erzählung Johanna
Kinkels zu ziehen. Wie Jahrhunderte fern scheinen die Tage zu liegen, in
denen man einem wahrhaften, ausgiebigen und ungewöhnlichen Talente den
Weg zur Musik als Lebensberuf versperrte, in denen man naiv des guten
Glaubens lebte, daß „eine glückliche Hausfrau die größte Künstlerin nicht be¬
neide," in denen es aller Anstrengungen eines starken Talentes und eines
starken Charakters bedürfte, um an ein Ziel zu gelangen, das nur für die Aus-
erwählten ein glückliches Ziel ist. Heutzutage ist wenig oder gar keine Gefahr
vorhanden, daß auch nur der Schein eines Talents verkümmere, und die that¬
sächliche Gefahr, Hunderte, ja tausende von ciusgesprvchnen Nichttalenten die
künstlerische Laufbahn betreten zu sehen, steigert sich mit jedem Tage, mit der
Gründung jeder neuen Musikschule, beinahe jedes Privatinstitutes. D. F. Strauß
hat einmal irgendwo gesagt, auf nichts verstehe sich die liebe Menschheit schlechter,
als an der rechten Stelle innezuhalten und den „Fortschritt" nicht über den
Punkt hinauszutreiben, von welchem an er kläglicher Rückschritt wird. In
keinem Gebiete trifft dies mehr zu, als in dem der gesellschaftlichen Sitte und
Meinung. Wenn es eine armselige Beschränktheit und ein dürftiges Vorurteil
war, Menschennaturen, und namentlich Frauen, die einen ausgesprochnen Beruf
zur Kunst und künstlerischen Pädagogik in sich trugen, gewaltsam beim Her¬
kömmlichen festzuhalten, so ist doch — dank der Widerstandskraft des echten
Talents — dabei unendlich viel weniger gesündigt worden als heutzutage, wo
leidige Not, falschgerichteter Ehrgeiz, platte Eitelkeit und der dunkle, die Massen
beherrschende Trieb nach bessern Lebensverhältnissen, genußvollerem Dasein
tausende und abertausende von modernen Töchtern zur Kunst und, der ganzen
Bewegung gemäß, vorzugsweise zur herrschenden, zur Modekunst der Musik
führen. In witzigen und witzigseinsollendeu Feuilletons, in den „Eingescmdts"
unsrer Zeitungen und in dem Kncipenjcirgon, welcher bei gewissen Gruppen mo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/40>, abgerufen am 05.02.2025.