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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gladstone und die irische Frage.

vermutlich mit weitergehenderen Forderungen zusetzen, als sie an seinen Vorgänger
gerichtet hätten, und kein Tüpfelchen von ihrem Anspruch ans volle Selbst¬
regierung für Irland aufgeben. So befindet sich das Gladstonesche Kabinet in
einer verzweifelten Lage, die derjenigen des Mannes ähnelt, der ans der Flucht
vor einem Löwen an den Rand eines Stromes gelangte, in welchem ihn ein
Krokodil erwartete. Blickt es vor sich, so begegnen seine Augen einer irischen
Partei, welche bereits gezeigt hat, daß sie die Macht besitzt, Ministerien zu schaffen
und zu stürzen, und bei welcher Führer und Gefolgschaft gleich stark verpflichtet
sind, kein Zugeständnis als befriedigend anzunehmen als die legislative Unab¬
hängigkeit ihres Landes. Blickt es hinter sich, so gewahrt es eine englische
Partei, die in ihrer Ansicht geteilt ist und dnrch das Band der Anhänglichkeit
an einen Führer, dem die Mehrheit der Mitglieder bis jetzt noch nicht geneigt
ist, so weit wie die Jrländer wolle", zu folgen, nur locker zusammengehalten
wird. Neben und hinter diesen beiden Parteien aber steht in Angst und Unrnhe
die britische Nation, die öffentliche Meinung in England und Schottland. Sie
ist sich der großen Wichtigkeit der Frage, um die es sich hier handelt, vollständig
bewußt, und sie hat ohne Zweifel den aufrichtigen Wunsch, daß jeder vernünftige
Versuch gemacht werde, die Jrländer zufrieden zu stellen, ist aber anderseits
auch fest überzeugt, daß das legislative Band, welches die beiden Nationen
östlich und westlich vom Georgskanal verknüpft, nicht zerschnitten werden darf,
und entschlossen, selbst eine wesentliche Lockerung desselben nicht zu dulden.
Niemand kann in Zweifel ziehen, daß die Ansichten und Empfindungen, die
hier der liberalen Partei und dem englischen Publikum überhaupt zugeschrieben
werden, auch im Schoße des Gladstvneschcn Kabinets vertreten sind. Es ist
ans der Basis einer Untersuchung und Prüfung der irischen Frage gebildet
worden, und es hat nicht viel zu sagen, ob dieser Prozeß auf den Umkreis
des Ministerrates beschränkt bleiben oder ob auch das Parlament sich daran
beteiligen soll, und es hat sehr wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß unter den
zwölf oder vierzehn Staatsmännern, welche sich mit der Untersuchung zunächst
beschäftigen sollen, Einmütigkeit in einem Plane zu erzielen sein werde, der
Parnell und allen seinen Anhängern annehmbar wäre. Viel wahrscheinlicher
ist es, daß ihre Erörterungen mit hoffnungslosen Zwiespalt hinsichtlich der
Hauptfrage oder, was fast ebenso verhängnisvoll für die Fortexistenz des
Ministeriums sein würde, mit fast einstimmigem Beschluß, deren Lösung zu ver¬
schiebe,,, endigen werden. Diejenigen Mitglieder des Kabinets, welche be¬
haupten, daß die Lösung der Lcmdfrage den Vorrang vor allem andern haben
müsse, werden eine starke Stellung haben, und wenn Gladstone zu der Ansicht
gelangt, daß die Frage des Home Unke jener vorgehen sollte, so kaun er bei
jenen auf unüberwindlichen Widerstand stoßen.

Es ist sehr denkbar, daß wir in drei oder vier Wochen den englischen Pre¬
mierminister in ärgster Klemme sehen werden, zwischen einer fest geschlossenen


Gladstone und die irische Frage.

vermutlich mit weitergehenderen Forderungen zusetzen, als sie an seinen Vorgänger
gerichtet hätten, und kein Tüpfelchen von ihrem Anspruch ans volle Selbst¬
regierung für Irland aufgeben. So befindet sich das Gladstonesche Kabinet in
einer verzweifelten Lage, die derjenigen des Mannes ähnelt, der ans der Flucht
vor einem Löwen an den Rand eines Stromes gelangte, in welchem ihn ein
Krokodil erwartete. Blickt es vor sich, so begegnen seine Augen einer irischen
Partei, welche bereits gezeigt hat, daß sie die Macht besitzt, Ministerien zu schaffen
und zu stürzen, und bei welcher Führer und Gefolgschaft gleich stark verpflichtet
sind, kein Zugeständnis als befriedigend anzunehmen als die legislative Unab¬
hängigkeit ihres Landes. Blickt es hinter sich, so gewahrt es eine englische
Partei, die in ihrer Ansicht geteilt ist und dnrch das Band der Anhänglichkeit
an einen Führer, dem die Mehrheit der Mitglieder bis jetzt noch nicht geneigt
ist, so weit wie die Jrländer wolle», zu folgen, nur locker zusammengehalten
wird. Neben und hinter diesen beiden Parteien aber steht in Angst und Unrnhe
die britische Nation, die öffentliche Meinung in England und Schottland. Sie
ist sich der großen Wichtigkeit der Frage, um die es sich hier handelt, vollständig
bewußt, und sie hat ohne Zweifel den aufrichtigen Wunsch, daß jeder vernünftige
Versuch gemacht werde, die Jrländer zufrieden zu stellen, ist aber anderseits
auch fest überzeugt, daß das legislative Band, welches die beiden Nationen
östlich und westlich vom Georgskanal verknüpft, nicht zerschnitten werden darf,
und entschlossen, selbst eine wesentliche Lockerung desselben nicht zu dulden.
Niemand kann in Zweifel ziehen, daß die Ansichten und Empfindungen, die
hier der liberalen Partei und dem englischen Publikum überhaupt zugeschrieben
werden, auch im Schoße des Gladstvneschcn Kabinets vertreten sind. Es ist
ans der Basis einer Untersuchung und Prüfung der irischen Frage gebildet
worden, und es hat nicht viel zu sagen, ob dieser Prozeß auf den Umkreis
des Ministerrates beschränkt bleiben oder ob auch das Parlament sich daran
beteiligen soll, und es hat sehr wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß unter den
zwölf oder vierzehn Staatsmännern, welche sich mit der Untersuchung zunächst
beschäftigen sollen, Einmütigkeit in einem Plane zu erzielen sein werde, der
Parnell und allen seinen Anhängern annehmbar wäre. Viel wahrscheinlicher
ist es, daß ihre Erörterungen mit hoffnungslosen Zwiespalt hinsichtlich der
Hauptfrage oder, was fast ebenso verhängnisvoll für die Fortexistenz des
Ministeriums sein würde, mit fast einstimmigem Beschluß, deren Lösung zu ver¬
schiebe,,, endigen werden. Diejenigen Mitglieder des Kabinets, welche be¬
haupten, daß die Lösung der Lcmdfrage den Vorrang vor allem andern haben
müsse, werden eine starke Stellung haben, und wenn Gladstone zu der Ansicht
gelangt, daß die Frage des Home Unke jener vorgehen sollte, so kaun er bei
jenen auf unüberwindlichen Widerstand stoßen.

Es ist sehr denkbar, daß wir in drei oder vier Wochen den englischen Pre¬
mierminister in ärgster Klemme sehen werden, zwischen einer fest geschlossenen


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[0381] Gladstone und die irische Frage. vermutlich mit weitergehenderen Forderungen zusetzen, als sie an seinen Vorgänger gerichtet hätten, und kein Tüpfelchen von ihrem Anspruch ans volle Selbst¬ regierung für Irland aufgeben. So befindet sich das Gladstonesche Kabinet in einer verzweifelten Lage, die derjenigen des Mannes ähnelt, der ans der Flucht vor einem Löwen an den Rand eines Stromes gelangte, in welchem ihn ein Krokodil erwartete. Blickt es vor sich, so begegnen seine Augen einer irischen Partei, welche bereits gezeigt hat, daß sie die Macht besitzt, Ministerien zu schaffen und zu stürzen, und bei welcher Führer und Gefolgschaft gleich stark verpflichtet sind, kein Zugeständnis als befriedigend anzunehmen als die legislative Unab¬ hängigkeit ihres Landes. Blickt es hinter sich, so gewahrt es eine englische Partei, die in ihrer Ansicht geteilt ist und dnrch das Band der Anhänglichkeit an einen Führer, dem die Mehrheit der Mitglieder bis jetzt noch nicht geneigt ist, so weit wie die Jrländer wolle», zu folgen, nur locker zusammengehalten wird. Neben und hinter diesen beiden Parteien aber steht in Angst und Unrnhe die britische Nation, die öffentliche Meinung in England und Schottland. Sie ist sich der großen Wichtigkeit der Frage, um die es sich hier handelt, vollständig bewußt, und sie hat ohne Zweifel den aufrichtigen Wunsch, daß jeder vernünftige Versuch gemacht werde, die Jrländer zufrieden zu stellen, ist aber anderseits auch fest überzeugt, daß das legislative Band, welches die beiden Nationen östlich und westlich vom Georgskanal verknüpft, nicht zerschnitten werden darf, und entschlossen, selbst eine wesentliche Lockerung desselben nicht zu dulden. Niemand kann in Zweifel ziehen, daß die Ansichten und Empfindungen, die hier der liberalen Partei und dem englischen Publikum überhaupt zugeschrieben werden, auch im Schoße des Gladstvneschcn Kabinets vertreten sind. Es ist ans der Basis einer Untersuchung und Prüfung der irischen Frage gebildet worden, und es hat nicht viel zu sagen, ob dieser Prozeß auf den Umkreis des Ministerrates beschränkt bleiben oder ob auch das Parlament sich daran beteiligen soll, und es hat sehr wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß unter den zwölf oder vierzehn Staatsmännern, welche sich mit der Untersuchung zunächst beschäftigen sollen, Einmütigkeit in einem Plane zu erzielen sein werde, der Parnell und allen seinen Anhängern annehmbar wäre. Viel wahrscheinlicher ist es, daß ihre Erörterungen mit hoffnungslosen Zwiespalt hinsichtlich der Hauptfrage oder, was fast ebenso verhängnisvoll für die Fortexistenz des Ministeriums sein würde, mit fast einstimmigem Beschluß, deren Lösung zu ver¬ schiebe,,, endigen werden. Diejenigen Mitglieder des Kabinets, welche be¬ haupten, daß die Lösung der Lcmdfrage den Vorrang vor allem andern haben müsse, werden eine starke Stellung haben, und wenn Gladstone zu der Ansicht gelangt, daß die Frage des Home Unke jener vorgehen sollte, so kaun er bei jenen auf unüberwindlichen Widerstand stoßen. Es ist sehr denkbar, daß wir in drei oder vier Wochen den englischen Pre¬ mierminister in ärgster Klemme sehen werden, zwischen einer fest geschlossenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/381>, abgerufen am 05.02.2025.