Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal."Die Literaturgeschichte wird seinen ungefälligen Namen nicht vergessen, In einer kleinen Landstadt lebten zwei Brüder, Michael und Gabriel Engel; „Die Literaturgeschichte wird seinen ungefälligen Namen nicht vergessen, In einer kleinen Landstadt lebten zwei Brüder, Michael und Gabriel Engel; <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197787"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1075"> „Die Literaturgeschichte wird seinen ungefälligen Namen nicht vergessen,<lb/> und wenn er auch nur vor diesem einen Buche gestanden hat": mit dieser<lb/> glänzenden Zensur versah ein Wohlbestalter Professor der Literaturgeschichte<lb/> um einer berühmten Universität das Buch „Im Bruch." Kann man es mir<lb/> verargen, daß ich mich beeilte, es zu kaufen und mit der Gier eines Men¬<lb/> schen, der lange der rechten poetischen Kost entbehrt hat, zu lesen? Konnte<lb/> ein neues Talent verheißungsvoller in die Literatur eingeführt werden? Muß<lb/> nicht der offizielle Vertreter der Wissenschaft am besten wissen, was auch zu¬<lb/> künftig die Literaturgeschichte vou dem Werke des Autors mit dem wirklich „un¬<lb/> gefälligen Namen" denken wird? Freilich soll es vorgekommen sein und zuweilen<lb/> noch jetzt vorkommen, daß einer ein sehr hübsches Kollegienheft aus einer Bibliothek<lb/> von Kritiken über Schiller oder Goethe zusammenstellen konnte, selbst aber eines<lb/> treffenden Urteils über literarische Erscheinungen, bei denen ihm keine Schlegel<lb/> oder Gervinus die Kritik vorgedacht hatte, so ziemlich entbehrte. Es soll ein<lb/> Unterschied zwischen dem Historiker und dem Kritiker bestehen, und nicht immer<lb/> sollen beide Begabungen in einer Person sich vereinigt finden. Aber daran<lb/> dachte ich erst, nachdem ich, auf die Autorität vertrauend, das Buch getauft und<lb/> gelesen hatte, wonach es mir als eines der trautesten und peinlichsten dichterischen<lb/> Erzeugnisse erschien, die mir seit langer Zeit zu Gesichte gekommen sind. Da<lb/> der Autor einen polnischen Namen trägt und ich gleich hinzufüge, daß mir sein<lb/> Werk in tiefster Seele undeutsch, vielmehr recht slawisch, turgenjewisch empfunden<lb/> erscheint, ohne jedoch durch des Meisters geniale Form zu befriedigen, so ver¬<lb/> dächtige man mich deswegen nicht des Chauvinismus, denn ich erkenne ebenso<lb/> bereitwillig die vortreffliche deutsche Prosa der Dichtung an. Übrigens haben<lb/> auch andre Kritiker, freilich von geringerer Autorität als der eines Universitäts¬<lb/> professors, sich für diesen Autor als einen „deutschen Naturalisten" begeistert,<lb/> sodaß es wohl gerechtfertigt erscheint, wenn ich dieses Wert hier einer unbe¬<lb/> fangenen Betrachtung zu unterziehen versuche.</p><lb/> <p xml:id="ID_1076" next="#ID_1077"> In einer kleinen Landstadt lebten zwei Brüder, Michael und Gabriel Engel;<lb/> so verschieden sie auch in ihren Charakteren waren, lebten sie doch als gutge-<lb/> artete Menschen brüderlich liebevoll miteinander. Sie waren Söhne eines Gelb¬<lb/> gießers, doch nur Michael betrieb das väterliche Handmerk weiter, Gabriel ent¬<lb/> schied sich früh für die Schlosserei. In diesem Berufe hatte er das Unglück,<lb/> dnrch einen glühenden Eisenkern, der ihm bei der Arbeit ins Gesicht flog, sein<lb/> rechtes Ange zu verlieren, el» Unglück, durch das der ohnedies von Jugend auf<lb/> in sich gekehrte Gabriel sich noch mehr zur Einsamkeit und zur Trennung von<lb/> den lauten Freuden seiner Alters- und Berufsgenossen gestimmt fühlte. Michael<lb/> Zedvch wurde ein Mensch, der es, ohne deswegen Beruf und Pflicht zu ver¬<lb/> nachlässigen, wie andre junge Männer trieb: er besuchte das Wirthans, liebte<lb/> Spiel und Tanz u. dergl. in. Bei einem Turnfeste, an einem schönen Sommer-<lb/> tage, lernten beide Brüder zugleich ein schönes Mädchen kenne»; sie hieß Cres-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0363]
„Die Literaturgeschichte wird seinen ungefälligen Namen nicht vergessen,
und wenn er auch nur vor diesem einen Buche gestanden hat": mit dieser
glänzenden Zensur versah ein Wohlbestalter Professor der Literaturgeschichte
um einer berühmten Universität das Buch „Im Bruch." Kann man es mir
verargen, daß ich mich beeilte, es zu kaufen und mit der Gier eines Men¬
schen, der lange der rechten poetischen Kost entbehrt hat, zu lesen? Konnte
ein neues Talent verheißungsvoller in die Literatur eingeführt werden? Muß
nicht der offizielle Vertreter der Wissenschaft am besten wissen, was auch zu¬
künftig die Literaturgeschichte vou dem Werke des Autors mit dem wirklich „un¬
gefälligen Namen" denken wird? Freilich soll es vorgekommen sein und zuweilen
noch jetzt vorkommen, daß einer ein sehr hübsches Kollegienheft aus einer Bibliothek
von Kritiken über Schiller oder Goethe zusammenstellen konnte, selbst aber eines
treffenden Urteils über literarische Erscheinungen, bei denen ihm keine Schlegel
oder Gervinus die Kritik vorgedacht hatte, so ziemlich entbehrte. Es soll ein
Unterschied zwischen dem Historiker und dem Kritiker bestehen, und nicht immer
sollen beide Begabungen in einer Person sich vereinigt finden. Aber daran
dachte ich erst, nachdem ich, auf die Autorität vertrauend, das Buch getauft und
gelesen hatte, wonach es mir als eines der trautesten und peinlichsten dichterischen
Erzeugnisse erschien, die mir seit langer Zeit zu Gesichte gekommen sind. Da
der Autor einen polnischen Namen trägt und ich gleich hinzufüge, daß mir sein
Werk in tiefster Seele undeutsch, vielmehr recht slawisch, turgenjewisch empfunden
erscheint, ohne jedoch durch des Meisters geniale Form zu befriedigen, so ver¬
dächtige man mich deswegen nicht des Chauvinismus, denn ich erkenne ebenso
bereitwillig die vortreffliche deutsche Prosa der Dichtung an. Übrigens haben
auch andre Kritiker, freilich von geringerer Autorität als der eines Universitäts¬
professors, sich für diesen Autor als einen „deutschen Naturalisten" begeistert,
sodaß es wohl gerechtfertigt erscheint, wenn ich dieses Wert hier einer unbe¬
fangenen Betrachtung zu unterziehen versuche.
In einer kleinen Landstadt lebten zwei Brüder, Michael und Gabriel Engel;
so verschieden sie auch in ihren Charakteren waren, lebten sie doch als gutge-
artete Menschen brüderlich liebevoll miteinander. Sie waren Söhne eines Gelb¬
gießers, doch nur Michael betrieb das väterliche Handmerk weiter, Gabriel ent¬
schied sich früh für die Schlosserei. In diesem Berufe hatte er das Unglück,
dnrch einen glühenden Eisenkern, der ihm bei der Arbeit ins Gesicht flog, sein
rechtes Ange zu verlieren, el» Unglück, durch das der ohnedies von Jugend auf
in sich gekehrte Gabriel sich noch mehr zur Einsamkeit und zur Trennung von
den lauten Freuden seiner Alters- und Berufsgenossen gestimmt fühlte. Michael
Zedvch wurde ein Mensch, der es, ohne deswegen Beruf und Pflicht zu ver¬
nachlässigen, wie andre junge Männer trieb: er besuchte das Wirthans, liebte
Spiel und Tanz u. dergl. in. Bei einem Turnfeste, an einem schönen Sommer-
tage, lernten beide Brüder zugleich ein schönes Mädchen kenne»; sie hieß Cres-
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