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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gin realistischer Roman.

Empfindung von Liebe und Haß über den Wert, den die Dinge für ihn haben;
nur von den obersten leitenden Ideen seiner Epoche hängt die Färbung und
Stimmung seines ganzen Gefühlslebens ab. Aber eben auf die allgemeine
Wahrheit dieses Gefühlslebens kommt es an, eine Wahrheit, die mit jeder
produktive" Zeit wechselt und ihre überzeugende Kraft nur innerhalb bestimmter
Voraussetzungen besitzt. Auch Jean Jacques Rousseau erhob den Ruf nach
Natur in der Zeit der Herrschaft des Rokoko und des Klassizismus. Aber wer
wird heutzutage in seineu Romanen ein wahres Abbild der Welt finden? Seine
Zeitgenossen jedoch jubelten über die neu entdeckte Wirklichkeit, welche ihnen
der uaturschwärmendc Genfer entfaltete. So ist es jetzt mit dem Realismus
auch. Wir empfinden die Wirklichkeit mehr, schärfer, reicher, als man sie früher
empfunden hat. Die Wissenschaften haben uns gründlich über Natur und Ge¬
schichte unterrichtet. Wenn uns ein Dichter daher fesseln soll, muß er dieselbe
entwickelte Empfindung für die Wirklichkeit haben wie wir selbst, sonst lang¬
weilt er uns mit seinen unwahren Gemälden. Um dieses unser Wirklichkcits-
gesühl zu befriedigen, bedarf es durchaus noch nicht des Apparates der
französischen Naturalisten; Realismus und Naturalismus sind noch lange nicht
identisch. Der Naturalist ist vom Materialismus und Pessimismus nicht zu
trennen; in dem Übel der Welt glaubt er den rechten Gehalt derselben, im
Auswurf der Gesellschaft ihr Wesen zu finden; der Begründer des Naturalismus
hat nicht zufällig zu Claude Bernard, dem experimentirenden Physiologen, als
Vorbild für den experimentirenden Romanschreiber aufgeblickt. Die Forderung
des Realismus hebt nicht ein einziges jener ewigen Gesetze der Poesie und des
guten Geschmackes auf, die der malerische Naturalist fortwährend verletzt; der
ästhetische Realismus steht einem sittlichen Idealismus nicht im geringsten im
Wege; man denke an Jeremias Gotthelf, an Fritz Reuter. Nur die eine
Forderung stellt er auf: wahr sein, aus dem Herzen der Zeit schaffen, ihr
Wirklichkeitsgefühl befriedigen, das ein andres ist als das vergangner Zeiten,
eine Forderung, die mit der nach echter Poesie schlechthin zusammenfällt.

Wenn der Leser nach dieser etwas lang geratene!, Einleitung nnn von mir
einen Hymnus auf einen jener Autoren erwartet, die sich in neuester Zeit mit
vielem Lärm als die wahren Realisten geberden, etwa ans den Autor des
"Apotheker Heinrich" oder seine Freunde, so bedaure ich sehr, ihm dieses recht
zweifelhafte Vergnügen nicht bereiten zu können, denn ich glaube nicht, daß aus
der obigen Reflexion gefolgert werde" könne, daß ich mich für die Poesie des
Küchenzettels oder der Toilcttensorgen einer kleinstädtische" Apvthckerin begeistern
müsse. Ein andres als realistisches Meisterwerk angepriesene Buch*) gab mir
den Anlaß, über den Begriff des Realismus selbst nachzudenken, und vielleicht
ist es doch nicht fruchtlos, daß ich etwas laut nachdachte.



*) Im Bruch. Eine Biographie von Heinrich Krzyzanowski. Berlin und Stutt¬
gart, Spemcuui, 13L5.
Gin realistischer Roman.

Empfindung von Liebe und Haß über den Wert, den die Dinge für ihn haben;
nur von den obersten leitenden Ideen seiner Epoche hängt die Färbung und
Stimmung seines ganzen Gefühlslebens ab. Aber eben auf die allgemeine
Wahrheit dieses Gefühlslebens kommt es an, eine Wahrheit, die mit jeder
produktive» Zeit wechselt und ihre überzeugende Kraft nur innerhalb bestimmter
Voraussetzungen besitzt. Auch Jean Jacques Rousseau erhob den Ruf nach
Natur in der Zeit der Herrschaft des Rokoko und des Klassizismus. Aber wer
wird heutzutage in seineu Romanen ein wahres Abbild der Welt finden? Seine
Zeitgenossen jedoch jubelten über die neu entdeckte Wirklichkeit, welche ihnen
der uaturschwärmendc Genfer entfaltete. So ist es jetzt mit dem Realismus
auch. Wir empfinden die Wirklichkeit mehr, schärfer, reicher, als man sie früher
empfunden hat. Die Wissenschaften haben uns gründlich über Natur und Ge¬
schichte unterrichtet. Wenn uns ein Dichter daher fesseln soll, muß er dieselbe
entwickelte Empfindung für die Wirklichkeit haben wie wir selbst, sonst lang¬
weilt er uns mit seinen unwahren Gemälden. Um dieses unser Wirklichkcits-
gesühl zu befriedigen, bedarf es durchaus noch nicht des Apparates der
französischen Naturalisten; Realismus und Naturalismus sind noch lange nicht
identisch. Der Naturalist ist vom Materialismus und Pessimismus nicht zu
trennen; in dem Übel der Welt glaubt er den rechten Gehalt derselben, im
Auswurf der Gesellschaft ihr Wesen zu finden; der Begründer des Naturalismus
hat nicht zufällig zu Claude Bernard, dem experimentirenden Physiologen, als
Vorbild für den experimentirenden Romanschreiber aufgeblickt. Die Forderung
des Realismus hebt nicht ein einziges jener ewigen Gesetze der Poesie und des
guten Geschmackes auf, die der malerische Naturalist fortwährend verletzt; der
ästhetische Realismus steht einem sittlichen Idealismus nicht im geringsten im
Wege; man denke an Jeremias Gotthelf, an Fritz Reuter. Nur die eine
Forderung stellt er auf: wahr sein, aus dem Herzen der Zeit schaffen, ihr
Wirklichkeitsgefühl befriedigen, das ein andres ist als das vergangner Zeiten,
eine Forderung, die mit der nach echter Poesie schlechthin zusammenfällt.

Wenn der Leser nach dieser etwas lang geratene!, Einleitung nnn von mir
einen Hymnus auf einen jener Autoren erwartet, die sich in neuester Zeit mit
vielem Lärm als die wahren Realisten geberden, etwa ans den Autor des
„Apotheker Heinrich" oder seine Freunde, so bedaure ich sehr, ihm dieses recht
zweifelhafte Vergnügen nicht bereiten zu können, denn ich glaube nicht, daß aus
der obigen Reflexion gefolgert werde» könne, daß ich mich für die Poesie des
Küchenzettels oder der Toilcttensorgen einer kleinstädtische» Apvthckerin begeistern
müsse. Ein andres als realistisches Meisterwerk angepriesene Buch*) gab mir
den Anlaß, über den Begriff des Realismus selbst nachzudenken, und vielleicht
ist es doch nicht fruchtlos, daß ich etwas laut nachdachte.



*) Im Bruch. Eine Biographie von Heinrich Krzyzanowski. Berlin und Stutt¬
gart, Spemcuui, 13L5.
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[0362] Gin realistischer Roman. Empfindung von Liebe und Haß über den Wert, den die Dinge für ihn haben; nur von den obersten leitenden Ideen seiner Epoche hängt die Färbung und Stimmung seines ganzen Gefühlslebens ab. Aber eben auf die allgemeine Wahrheit dieses Gefühlslebens kommt es an, eine Wahrheit, die mit jeder produktive» Zeit wechselt und ihre überzeugende Kraft nur innerhalb bestimmter Voraussetzungen besitzt. Auch Jean Jacques Rousseau erhob den Ruf nach Natur in der Zeit der Herrschaft des Rokoko und des Klassizismus. Aber wer wird heutzutage in seineu Romanen ein wahres Abbild der Welt finden? Seine Zeitgenossen jedoch jubelten über die neu entdeckte Wirklichkeit, welche ihnen der uaturschwärmendc Genfer entfaltete. So ist es jetzt mit dem Realismus auch. Wir empfinden die Wirklichkeit mehr, schärfer, reicher, als man sie früher empfunden hat. Die Wissenschaften haben uns gründlich über Natur und Ge¬ schichte unterrichtet. Wenn uns ein Dichter daher fesseln soll, muß er dieselbe entwickelte Empfindung für die Wirklichkeit haben wie wir selbst, sonst lang¬ weilt er uns mit seinen unwahren Gemälden. Um dieses unser Wirklichkcits- gesühl zu befriedigen, bedarf es durchaus noch nicht des Apparates der französischen Naturalisten; Realismus und Naturalismus sind noch lange nicht identisch. Der Naturalist ist vom Materialismus und Pessimismus nicht zu trennen; in dem Übel der Welt glaubt er den rechten Gehalt derselben, im Auswurf der Gesellschaft ihr Wesen zu finden; der Begründer des Naturalismus hat nicht zufällig zu Claude Bernard, dem experimentirenden Physiologen, als Vorbild für den experimentirenden Romanschreiber aufgeblickt. Die Forderung des Realismus hebt nicht ein einziges jener ewigen Gesetze der Poesie und des guten Geschmackes auf, die der malerische Naturalist fortwährend verletzt; der ästhetische Realismus steht einem sittlichen Idealismus nicht im geringsten im Wege; man denke an Jeremias Gotthelf, an Fritz Reuter. Nur die eine Forderung stellt er auf: wahr sein, aus dem Herzen der Zeit schaffen, ihr Wirklichkeitsgefühl befriedigen, das ein andres ist als das vergangner Zeiten, eine Forderung, die mit der nach echter Poesie schlechthin zusammenfällt. Wenn der Leser nach dieser etwas lang geratene!, Einleitung nnn von mir einen Hymnus auf einen jener Autoren erwartet, die sich in neuester Zeit mit vielem Lärm als die wahren Realisten geberden, etwa ans den Autor des „Apotheker Heinrich" oder seine Freunde, so bedaure ich sehr, ihm dieses recht zweifelhafte Vergnügen nicht bereiten zu können, denn ich glaube nicht, daß aus der obigen Reflexion gefolgert werde» könne, daß ich mich für die Poesie des Küchenzettels oder der Toilcttensorgen einer kleinstädtische» Apvthckerin begeistern müsse. Ein andres als realistisches Meisterwerk angepriesene Buch*) gab mir den Anlaß, über den Begriff des Realismus selbst nachzudenken, und vielleicht ist es doch nicht fruchtlos, daß ich etwas laut nachdachte. *) Im Bruch. Eine Biographie von Heinrich Krzyzanowski. Berlin und Stutt¬ gart, Spemcuui, 13L5.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/362>, abgerufen am 05.02.2025.