Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Lin realistischer Roman. Das Merkmal dieser unsrer Epoche ist der weit ausgeschlossene und immer noch Nun aber kann es beim bloßen Wissen der Thatsachen nicht sein Bewenden Auch in der Poesie erschallt der Ruf nach Realismus, und auch hier hat Grenzboten I. 1886. 45
Lin realistischer Roman. Das Merkmal dieser unsrer Epoche ist der weit ausgeschlossene und immer noch Nun aber kann es beim bloßen Wissen der Thatsachen nicht sein Bewenden Auch in der Poesie erschallt der Ruf nach Realismus, und auch hier hat Grenzboten I. 1886. 45
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Lin realistischer Roman.
Das Merkmal dieser unsrer Epoche ist der weit ausgeschlossene und immer noch
begierig sich öffnende Sinn für die Wirklichkeit, für die uns umgebende Welt
der Natur und der Geschichte. Die großartige Entwicklung und der mächtige
Erfolg der empirischen Wissenschaften haben diesen Sinn erzeugt, genährt und
geschult. Wer eine neue Entdeckung macht oder, wie der Schnlausdruck lautet,
wer „unsre Erfahrung bereichert," der ist der rechte Mann der Zeit, dem wird
der Kranz gereicht. Groß ist der Astronom, der einen Stern zehnter Größe ent¬
deckt, groß ist der Mediziner, der einen neuen Bacillus auffindet, groß ist der
Germanist, der so glücklich war, in einem weltabgelegnen Kloster noch eine alt¬
deutsche Handschrift zu finden, groß ist der Manu des „dunkeln Weltteils" —
denn sie alle haben „unsre Erfahrung bereichert." Wir kommen uns ganz neu
auf dieser alten Mutter Erde vor, und die erregte Phantasie, der so viele bisher
unbekannte Thatsachen in der Natur nachgewiesen wurden, begnügt sich nicht
an dem erworbenen Besitz, sondern drängt immer fort nach neuem Erwerb.
Wenn irgendein Gefühl in uns vorherrschend ist, so ist eS kein religiöses, kein
ästhetisches, sondern bloß das einfache Wirklichkeitsgefühl, und darum bezeichnet
man unsre Zeit mit Recht als die Zeit des Realismus.
Nun aber kann es beim bloßen Wissen der Thatsachen nicht sein Bewenden
haben; wir würden unsre menschliche Natur verleugnen, wenn wir kein Bedürfnis
hätten, Ordnung in diese so unendlich reicher gewordne Welt zu bringen. Und
die Gelehrten aller Wissenschaften haben damit auch alle Hunde voll zu thun.
Zwar gab es einmal eine Ansicht, welche diesen Beruf, Einheit in die Welt des
Wissens zu bringen, vorzüglich der Philosophie zuerkannte; aber diese Ansicht
gilt für veraltet, seitdem auch die Philosophie „exakt" geworden ist, seitdem auch
sie sich auf die Beobachtung und Sammlung von Phänomenen, hier natürlich
Pshchischer Art, verlegt hat. Den Beruf, den Gebildeten eine Weltanschauung
AU verschaffen, haben (vorläufig wenigstens) die heutigen „wissenschaftlichen"
Philosophen von sich abgelehnt; das wäre ja wieder die verpönte Hegelei. So
herrscht denn in der That der Skeptizismus überall oder, wenn man lieber
will — der Realismus: mehr eine Methode als eine Lehre, mehr eine Form
als ein Gehalt.
Auch in der Poesie erschallt der Ruf nach Realismus, und auch hier hat
er dieselbe Bedeutung wie überall: es ist ein Ruf nach Wirklichkeit, nach Wahrheit.
Neu ist dieser Ruf im Gebiete der schönen Literatur keineswegs, er wiederholt
sich in jeder Epoche. Kann auch der moderne Gelehrte einer einheitlichen Welt-
anschauung in seinem Berufe, der einen Teil der großen wissenschaftlichen Arbeit
der Zeit ausmacht, zur Not entbehren, der Dichter kann es nicht. Der Dichter
Muß ein ganzer Mensch sein, in sich die ganze Menschlichkeit als lebensvolle
Einheit verkörpern. Allerdings auf shllogistischeu Sätzen braucht er nicht seine
Weltanschauung zu begründen; er fühlt ja die Welt mehr, als er sie denkt, er
entscheidet nicht durch ein abstraktes Urteil, sondern durch die unmittelbare
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