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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Heinrich Steinhaufen.

Realismus. In dieser Geschichte hat er seine stärkste poetische Wirkung erreicht:
hier reißt er den Leser wirklich mit fort, erfüllt seine Phantasie mit den er¬
greifendsten Bildern, rührt, erschüttert und erschreckt in einem Maße, wie es ihm
sonst nicht wieder gelungen ist. Freilich, der Schluß will mir nicht recht ge¬
fallen; es ist derselbe Fehler des mutlos rationalistischen Auflösens phantastischer
Erscheinungen, der auch der Dichtung Baumbachs anhaftet. Steinhausens Er¬
findung ist ganz einfach. Michel-Vetter sucht zum dreizehnten Kinde, welches
ihm seine tapfere Doreh beschert hat, einen Paten und findet ihn nicht. Das
Dorf ist sehr klein, Patenschaft ist immer mit Kosten verbunden, und Michel-
Vetter, der sich durch die Erfüllung der überflüssigsten Dienste, als da sind die
eines Hochzeit- oder Leichenbitters, eines Meßuers und dergleichen sein Brot
verdient, muß auch allerlei unangenehme Dinge wegen seines überreichen Kinder¬
segens anhören. Den Beinamen "Vetter" zum Taufnamen hat er von den
Spöttern erhalten, die sich über sein Weib lustig machten, welches immer von
einem weit entfernten reichen Vetter fabelte und, obgleich ihr Leben lang nie
von ihm unterstützt, doch stolz auf die Verwandtschaft ist. Dies alles wird in
jean-paulisireuder Weise erzählt, und es werden die verschiednen Versuche Michels
geschildert, einen Paten zu finden. Dabei tritt der gutmütige Charakter und der
leichte Sinn des armen Teufels zutage, und schließlich begleiten wir ihn in der
stürmischen Christnacht ans dem Heimwege von seinen nutzlosen Versuchen, einem
Wege, der ihn um Mitternacht am Rabenstein vorbeiführt. Da fällt ihm das
Märchen vom Gevatter Tod ein, der einem gleich armen Manne in ähnlicher
Lage Gevatterdienste geleistet hat. Und richtig: kaum denkt Michel an ihn, so
kommt der Tod auch auf feueratmcnden Nosse einhergejagt und verspricht dem
Erschrockenen, am nächsten Tage bestimmt zur Stelle zu sein. Halb erfreut,
halb mit Grauen erfüllt, kehrt Michel nach Hause zurück. Während die Kinder
alle mit der Mutter schlummern, putzt er den Christbaum auf. Dabei kommt
es ihm wieder so vor, als wenn an sein Fenster geklopft würde und der Tod
ihn zu einer kleinen Zwiesprach einlüde. Ins Zimmer, zu den Kindern mag
ihn Michel nicht lassen, er läßt sich lieber in den Mantel des Sensenmannes
hüllen und von ihm auf den Kirchhof, in die Totenkammer entführen, wo sie
sich über Tod und Leben besprechen. Dann führt ihn der Tod in die bekannte
Höhle, welche die Lebenslämpchen der Menschen enthält, und der großmütige
Pate will durch die Ergänzung eines Lcimpchens durch das Al eines andern
dem Kinde Michels ein langes Leben sichern. Darob ist dieser so erschüttert,
daß er ihm flehentlichst zu Füßen fällt, mit der Bitte, sein Glück nicht dnrch
die Zerstörung eiues fremden zu gründen. Über dem ironischen Gelächter des
Todes erwacht Michel, findet sich eingeschlafen am Tische, neben sich sein Weib,
das ihm glückstrahlend den reichen Vetter zeigt, der endlich gekommen ist und
die Patenschaft des dreizehnten Kindes übernehmen will. Und wir müssen
schließlich erfahren, daß Michel am Nabensteine nicht bloß geträumt, sondern in


Heinrich Steinhaufen.

Realismus. In dieser Geschichte hat er seine stärkste poetische Wirkung erreicht:
hier reißt er den Leser wirklich mit fort, erfüllt seine Phantasie mit den er¬
greifendsten Bildern, rührt, erschüttert und erschreckt in einem Maße, wie es ihm
sonst nicht wieder gelungen ist. Freilich, der Schluß will mir nicht recht ge¬
fallen; es ist derselbe Fehler des mutlos rationalistischen Auflösens phantastischer
Erscheinungen, der auch der Dichtung Baumbachs anhaftet. Steinhausens Er¬
findung ist ganz einfach. Michel-Vetter sucht zum dreizehnten Kinde, welches
ihm seine tapfere Doreh beschert hat, einen Paten und findet ihn nicht. Das
Dorf ist sehr klein, Patenschaft ist immer mit Kosten verbunden, und Michel-
Vetter, der sich durch die Erfüllung der überflüssigsten Dienste, als da sind die
eines Hochzeit- oder Leichenbitters, eines Meßuers und dergleichen sein Brot
verdient, muß auch allerlei unangenehme Dinge wegen seines überreichen Kinder¬
segens anhören. Den Beinamen „Vetter" zum Taufnamen hat er von den
Spöttern erhalten, die sich über sein Weib lustig machten, welches immer von
einem weit entfernten reichen Vetter fabelte und, obgleich ihr Leben lang nie
von ihm unterstützt, doch stolz auf die Verwandtschaft ist. Dies alles wird in
jean-paulisireuder Weise erzählt, und es werden die verschiednen Versuche Michels
geschildert, einen Paten zu finden. Dabei tritt der gutmütige Charakter und der
leichte Sinn des armen Teufels zutage, und schließlich begleiten wir ihn in der
stürmischen Christnacht ans dem Heimwege von seinen nutzlosen Versuchen, einem
Wege, der ihn um Mitternacht am Rabenstein vorbeiführt. Da fällt ihm das
Märchen vom Gevatter Tod ein, der einem gleich armen Manne in ähnlicher
Lage Gevatterdienste geleistet hat. Und richtig: kaum denkt Michel an ihn, so
kommt der Tod auch auf feueratmcnden Nosse einhergejagt und verspricht dem
Erschrockenen, am nächsten Tage bestimmt zur Stelle zu sein. Halb erfreut,
halb mit Grauen erfüllt, kehrt Michel nach Hause zurück. Während die Kinder
alle mit der Mutter schlummern, putzt er den Christbaum auf. Dabei kommt
es ihm wieder so vor, als wenn an sein Fenster geklopft würde und der Tod
ihn zu einer kleinen Zwiesprach einlüde. Ins Zimmer, zu den Kindern mag
ihn Michel nicht lassen, er läßt sich lieber in den Mantel des Sensenmannes
hüllen und von ihm auf den Kirchhof, in die Totenkammer entführen, wo sie
sich über Tod und Leben besprechen. Dann führt ihn der Tod in die bekannte
Höhle, welche die Lebenslämpchen der Menschen enthält, und der großmütige
Pate will durch die Ergänzung eines Lcimpchens durch das Al eines andern
dem Kinde Michels ein langes Leben sichern. Darob ist dieser so erschüttert,
daß er ihm flehentlichst zu Füßen fällt, mit der Bitte, sein Glück nicht dnrch
die Zerstörung eiues fremden zu gründen. Über dem ironischen Gelächter des
Todes erwacht Michel, findet sich eingeschlafen am Tische, neben sich sein Weib,
das ihm glückstrahlend den reichen Vetter zeigt, der endlich gekommen ist und
die Patenschaft des dreizehnten Kindes übernehmen will. Und wir müssen
schließlich erfahren, daß Michel am Nabensteine nicht bloß geträumt, sondern in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/35>, abgerufen am 05.02.2025.