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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Staaten Europas leiden mehr oder minder an der Krankheit, welche sich im
Mißverhältnis der Ausgaben zu den Einnahmen äußert. Handel und Gewerbe,
die vor kurzem Symptom wiederauflebender Regsamkeit und Ergiebigkeit zeigten,
werden durch die Ungewißheit gehemmt, welche hinsichtlich der nächsten Zukunft
herrscht, überall hat das unerwartete Sinken der Preise die wirtschaftlichen
Verhältnisse verwirrt. Wenn der Krieg unter allen Umständen von schweren
Nachteilen begleitet ist, den Gang des Handels aufhält und den Produzenten
und Konsumenten Opfer auferlegt, so gilt dies gegenwärtig ganz besonders.
Und siehe da, gerade jetzt gaben Serbien und Griechenland, vorzüglich das
letztere, rein nus Großmannssucht ungescheut und rücksichtslos die Neigung kund,
die Ruhe Europas zu stören und allgemeine Gefahr heraufzubeschwören. Den
Griechen kann es nicht unbekannt sein, daß sie ein sehr gewagtes Spiel spielen,
wenn sie bei dem Versuche beharren, sich mit Gewalt Zugeständnisse zu ver¬
schaffen, welche von allen Großmächten, vielleicht mit Ausnahme Frankreichs,
als unmöglich zu erfüllende Ansprüche angesehen werden. Sie rechneten mit
vermeintlichen Meinungsverschiedenheiten der Kabinette und mit der Wahrschein¬
lichkeit des Wiedereintrittes Gladstones ins Amt. Sie unterließen es, daran
zu denken, daß die drei Kaisermächte in dem Bestreben, den Frieden zu wahren,
einig sind, und daß ihr Verfahren ihnen alle Sympathien entziehen muß, auf
die sie etwa zählen durften, auch die, welche Gladstone unter dem Ausdrucke
lZritisb töizllllA verstanden haben mag.

Niemand wird daher überrascht sein, daß, Frankreich ausgenommen, alle
Mächte übereingekommen sind, gemeinsam auf Griechenland einen stärkern und
wirksamern Druck auszuüben. Dasselbe ist jetzt der Hauptsünder gegen die
Wohlfahrt Europas. Serbien, welches mit den Griechen vereint gegen die
Pforte vorgehen zu wollen schien, war im Kriege mit deren bulgarischen Vasallen
unterlegen und konnte jetzt praktisch nicht viel mehr als großsprecherische Depeschen
in die Welt schicken. Es machte kriegerischen Lärm, sandte den Zeitungen Be¬
richte von gewaltigen Rüstungen u. dergl. Aber selbst König Milans Beamte
hielten es für nützlich, in Abrede zu stellen, daß man "sich in aller Eile waffne,"
und für dringend notwendig, zu erklären, daß man sein Äußerstes thue, "die
Friedensverhandlungen zu beschleunigen." Wäre dem nicht so, dächte man in
Belgrad nicht im Grunde viel ruhiger, als man sich stellte, um wenigstens etwas
zu erdrohen, so würde der österreichische Nachbar allein schon mehr als ge¬
nügende Mittel besitzen, um den Räten des Königs das wünschenswerte Maß
gesunden Menschenverstandes einzuflößen, nährend Österreich-Ungarn, im Ein¬
klange mit Deutschland und Nußland handelnd, kaum nötig haben würde, Ge¬
waltschritte ins Auge zu fassen. Griechenland nimmt eine etwas andre Stellung
ein. Es hat wie Serbien Aulehen aufgenommen, Kriegsvorräte gekauft, Kriegs¬
schiffe ausgerüstet und eine Armee zusammengezogen, aber noch keinen Mann
über die Grenze gehen lassen. Alle seine Handlungen waren bis zur Stunde


Staaten Europas leiden mehr oder minder an der Krankheit, welche sich im
Mißverhältnis der Ausgaben zu den Einnahmen äußert. Handel und Gewerbe,
die vor kurzem Symptom wiederauflebender Regsamkeit und Ergiebigkeit zeigten,
werden durch die Ungewißheit gehemmt, welche hinsichtlich der nächsten Zukunft
herrscht, überall hat das unerwartete Sinken der Preise die wirtschaftlichen
Verhältnisse verwirrt. Wenn der Krieg unter allen Umständen von schweren
Nachteilen begleitet ist, den Gang des Handels aufhält und den Produzenten
und Konsumenten Opfer auferlegt, so gilt dies gegenwärtig ganz besonders.
Und siehe da, gerade jetzt gaben Serbien und Griechenland, vorzüglich das
letztere, rein nus Großmannssucht ungescheut und rücksichtslos die Neigung kund,
die Ruhe Europas zu stören und allgemeine Gefahr heraufzubeschwören. Den
Griechen kann es nicht unbekannt sein, daß sie ein sehr gewagtes Spiel spielen,
wenn sie bei dem Versuche beharren, sich mit Gewalt Zugeständnisse zu ver¬
schaffen, welche von allen Großmächten, vielleicht mit Ausnahme Frankreichs,
als unmöglich zu erfüllende Ansprüche angesehen werden. Sie rechneten mit
vermeintlichen Meinungsverschiedenheiten der Kabinette und mit der Wahrschein¬
lichkeit des Wiedereintrittes Gladstones ins Amt. Sie unterließen es, daran
zu denken, daß die drei Kaisermächte in dem Bestreben, den Frieden zu wahren,
einig sind, und daß ihr Verfahren ihnen alle Sympathien entziehen muß, auf
die sie etwa zählen durften, auch die, welche Gladstone unter dem Ausdrucke
lZritisb töizllllA verstanden haben mag.

Niemand wird daher überrascht sein, daß, Frankreich ausgenommen, alle
Mächte übereingekommen sind, gemeinsam auf Griechenland einen stärkern und
wirksamern Druck auszuüben. Dasselbe ist jetzt der Hauptsünder gegen die
Wohlfahrt Europas. Serbien, welches mit den Griechen vereint gegen die
Pforte vorgehen zu wollen schien, war im Kriege mit deren bulgarischen Vasallen
unterlegen und konnte jetzt praktisch nicht viel mehr als großsprecherische Depeschen
in die Welt schicken. Es machte kriegerischen Lärm, sandte den Zeitungen Be¬
richte von gewaltigen Rüstungen u. dergl. Aber selbst König Milans Beamte
hielten es für nützlich, in Abrede zu stellen, daß man „sich in aller Eile waffne,"
und für dringend notwendig, zu erklären, daß man sein Äußerstes thue, „die
Friedensverhandlungen zu beschleunigen." Wäre dem nicht so, dächte man in
Belgrad nicht im Grunde viel ruhiger, als man sich stellte, um wenigstens etwas
zu erdrohen, so würde der österreichische Nachbar allein schon mehr als ge¬
nügende Mittel besitzen, um den Räten des Königs das wünschenswerte Maß
gesunden Menschenverstandes einzuflößen, nährend Österreich-Ungarn, im Ein¬
klange mit Deutschland und Nußland handelnd, kaum nötig haben würde, Ge¬
waltschritte ins Auge zu fassen. Griechenland nimmt eine etwas andre Stellung
ein. Es hat wie Serbien Aulehen aufgenommen, Kriegsvorräte gekauft, Kriegs¬
schiffe ausgerüstet und eine Armee zusammengezogen, aber noch keinen Mann
über die Grenze gehen lassen. Alle seine Handlungen waren bis zur Stunde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/330>, abgerufen am 05.02.2025.