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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Skizzen aus der Levante und Griechenland.

sich mit einer schmalen Bank behelfen. Das eintönige, grcui in grau gemalte
Bild unterbrechen angenehm die malerischen Nationaltrachten der Deputirten aus
dem Peloponnes, die sich noch nicht zur europäischen Mode bequemt haben, des¬
gleichen zwei bis drei türkische Cyarakterköpfe, die in Thessalien gewählt sind.
Den Talar und die hohe Kappe der "Papas" sucht man vergebens, die Ver¬
fassung schließt die gesamte Geistlichkeit ans. Bekanntlich besteht mir eine
Kammer mit 242 Mitgliedern, was auf etwas mehr als 8000 Einwohner einen
Abgeordneten beträgt. Das aktive Wahlrecht ist allgemein, für das passive wird
ein kleiner Steuersatz verlangt. Bei der politischen Aufregung, worin sich die
Gemüter stets befinden, gestalten sich Neuwahlen zu einer stürmischen, oft
blutigen Aktion, da in Ermangelung eines festen Systems und Programms
die Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen. Wie einst die Klephten ihren Häupt-
lingen, gehorchen ganze Landschaften und Bezirke einem Führer, der sich geltend
zu machen verstanden hat und dessen Einfluß sie bei der Wahl sowohl als bei
der Abstimmung in der Kammer folgen. Daher auch die Parteien des griechischen
Parlaments nach den Namen dieser Führer genannt werden. Durch alle geht
ein starker demokratischer Zug, die Verfassung hat Adelsprädikate und Titel
abgeschafft, es herrscht das Prinzip der unbedingten Gleichheit vor, Selbstgefühl
beseelt auch den Bettler, servile Unterwürfigkeit, Liebedienerei nach oben, Ver¬
legenheit in Ausdruck, Haltung und Geberde, wie sie bei uns so häufig vor¬
kommen, sind im ganzen Orient und besonders in Griechenland unbekannt.
Diese Ursache war uicht die geringste, warum die Baiern, trotz ihrer ganz
tüchtigen Verwaltungsmethvde, mit ihrem steifen Büreaukratismus und Kastengeist
sich nicht beliebt zu machen verstanden. Will man eine Gunst erlangen, so muß
man natürlich, wie überall, ante Worte geben und sich fügen; im übrigen aber
stellt sich der einfachste Bürgersmann mit dem Minister und General auf gleichen
Fuß und läßt sich weder durch Titel noch durch Amt und Orden imponiren.
In dieser Hinsicht ist der Byzantinismus aus seiner Heimat fort und in andre
Kulturländer nach Westen übergegangen.

Was in Griechenland allenfalls Geltung findet, das ist die Aristokratie
des Geistes, und man muß gestehen, daß dieselbe durch das ganze Volk in
reichlicher Menge verteilt ist. Die Grundsätze von Moral und Recht mögen
sehr loser Natur sein, allein, wie ich schon oben bemerkte, Intelligenz und rasche
Fassungsgabe haben sich vom Altertum auf die Gegenwart vererbt. Man
lernt mit wahrer Leidenschaft, und einer sucht den andern zu übertreffen. Das
Unterrichtswesen hat einen außerordentlichen Aufschwung genommen, die ärmste
Familie schickt ihre Kinder in die Schule, und Fleiß und Anlagen der Kinder
sind vortrefflich. An der Universität studiren gegen 3000 junge Leute, darunter
allerdings auch viele aus den türkischen Gebieten, und die Lehrstühle sind von
ausgezeichneten Professoren besetzt, die sich zum großen Teil in Deutschland
ausgebildet haben. Das wüste Korpsleben mit seinen Trinkgelagen und reno-


Skizzen aus der Levante und Griechenland.

sich mit einer schmalen Bank behelfen. Das eintönige, grcui in grau gemalte
Bild unterbrechen angenehm die malerischen Nationaltrachten der Deputirten aus
dem Peloponnes, die sich noch nicht zur europäischen Mode bequemt haben, des¬
gleichen zwei bis drei türkische Cyarakterköpfe, die in Thessalien gewählt sind.
Den Talar und die hohe Kappe der „Papas" sucht man vergebens, die Ver¬
fassung schließt die gesamte Geistlichkeit ans. Bekanntlich besteht mir eine
Kammer mit 242 Mitgliedern, was auf etwas mehr als 8000 Einwohner einen
Abgeordneten beträgt. Das aktive Wahlrecht ist allgemein, für das passive wird
ein kleiner Steuersatz verlangt. Bei der politischen Aufregung, worin sich die
Gemüter stets befinden, gestalten sich Neuwahlen zu einer stürmischen, oft
blutigen Aktion, da in Ermangelung eines festen Systems und Programms
die Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen. Wie einst die Klephten ihren Häupt-
lingen, gehorchen ganze Landschaften und Bezirke einem Führer, der sich geltend
zu machen verstanden hat und dessen Einfluß sie bei der Wahl sowohl als bei
der Abstimmung in der Kammer folgen. Daher auch die Parteien des griechischen
Parlaments nach den Namen dieser Führer genannt werden. Durch alle geht
ein starker demokratischer Zug, die Verfassung hat Adelsprädikate und Titel
abgeschafft, es herrscht das Prinzip der unbedingten Gleichheit vor, Selbstgefühl
beseelt auch den Bettler, servile Unterwürfigkeit, Liebedienerei nach oben, Ver¬
legenheit in Ausdruck, Haltung und Geberde, wie sie bei uns so häufig vor¬
kommen, sind im ganzen Orient und besonders in Griechenland unbekannt.
Diese Ursache war uicht die geringste, warum die Baiern, trotz ihrer ganz
tüchtigen Verwaltungsmethvde, mit ihrem steifen Büreaukratismus und Kastengeist
sich nicht beliebt zu machen verstanden. Will man eine Gunst erlangen, so muß
man natürlich, wie überall, ante Worte geben und sich fügen; im übrigen aber
stellt sich der einfachste Bürgersmann mit dem Minister und General auf gleichen
Fuß und läßt sich weder durch Titel noch durch Amt und Orden imponiren.
In dieser Hinsicht ist der Byzantinismus aus seiner Heimat fort und in andre
Kulturländer nach Westen übergegangen.

Was in Griechenland allenfalls Geltung findet, das ist die Aristokratie
des Geistes, und man muß gestehen, daß dieselbe durch das ganze Volk in
reichlicher Menge verteilt ist. Die Grundsätze von Moral und Recht mögen
sehr loser Natur sein, allein, wie ich schon oben bemerkte, Intelligenz und rasche
Fassungsgabe haben sich vom Altertum auf die Gegenwart vererbt. Man
lernt mit wahrer Leidenschaft, und einer sucht den andern zu übertreffen. Das
Unterrichtswesen hat einen außerordentlichen Aufschwung genommen, die ärmste
Familie schickt ihre Kinder in die Schule, und Fleiß und Anlagen der Kinder
sind vortrefflich. An der Universität studiren gegen 3000 junge Leute, darunter
allerdings auch viele aus den türkischen Gebieten, und die Lehrstühle sind von
ausgezeichneten Professoren besetzt, die sich zum großen Teil in Deutschland
ausgebildet haben. Das wüste Korpsleben mit seinen Trinkgelagen und reno-


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[0324] Skizzen aus der Levante und Griechenland. sich mit einer schmalen Bank behelfen. Das eintönige, grcui in grau gemalte Bild unterbrechen angenehm die malerischen Nationaltrachten der Deputirten aus dem Peloponnes, die sich noch nicht zur europäischen Mode bequemt haben, des¬ gleichen zwei bis drei türkische Cyarakterköpfe, die in Thessalien gewählt sind. Den Talar und die hohe Kappe der „Papas" sucht man vergebens, die Ver¬ fassung schließt die gesamte Geistlichkeit ans. Bekanntlich besteht mir eine Kammer mit 242 Mitgliedern, was auf etwas mehr als 8000 Einwohner einen Abgeordneten beträgt. Das aktive Wahlrecht ist allgemein, für das passive wird ein kleiner Steuersatz verlangt. Bei der politischen Aufregung, worin sich die Gemüter stets befinden, gestalten sich Neuwahlen zu einer stürmischen, oft blutigen Aktion, da in Ermangelung eines festen Systems und Programms die Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen. Wie einst die Klephten ihren Häupt- lingen, gehorchen ganze Landschaften und Bezirke einem Führer, der sich geltend zu machen verstanden hat und dessen Einfluß sie bei der Wahl sowohl als bei der Abstimmung in der Kammer folgen. Daher auch die Parteien des griechischen Parlaments nach den Namen dieser Führer genannt werden. Durch alle geht ein starker demokratischer Zug, die Verfassung hat Adelsprädikate und Titel abgeschafft, es herrscht das Prinzip der unbedingten Gleichheit vor, Selbstgefühl beseelt auch den Bettler, servile Unterwürfigkeit, Liebedienerei nach oben, Ver¬ legenheit in Ausdruck, Haltung und Geberde, wie sie bei uns so häufig vor¬ kommen, sind im ganzen Orient und besonders in Griechenland unbekannt. Diese Ursache war uicht die geringste, warum die Baiern, trotz ihrer ganz tüchtigen Verwaltungsmethvde, mit ihrem steifen Büreaukratismus und Kastengeist sich nicht beliebt zu machen verstanden. Will man eine Gunst erlangen, so muß man natürlich, wie überall, ante Worte geben und sich fügen; im übrigen aber stellt sich der einfachste Bürgersmann mit dem Minister und General auf gleichen Fuß und läßt sich weder durch Titel noch durch Amt und Orden imponiren. In dieser Hinsicht ist der Byzantinismus aus seiner Heimat fort und in andre Kulturländer nach Westen übergegangen. Was in Griechenland allenfalls Geltung findet, das ist die Aristokratie des Geistes, und man muß gestehen, daß dieselbe durch das ganze Volk in reichlicher Menge verteilt ist. Die Grundsätze von Moral und Recht mögen sehr loser Natur sein, allein, wie ich schon oben bemerkte, Intelligenz und rasche Fassungsgabe haben sich vom Altertum auf die Gegenwart vererbt. Man lernt mit wahrer Leidenschaft, und einer sucht den andern zu übertreffen. Das Unterrichtswesen hat einen außerordentlichen Aufschwung genommen, die ärmste Familie schickt ihre Kinder in die Schule, und Fleiß und Anlagen der Kinder sind vortrefflich. An der Universität studiren gegen 3000 junge Leute, darunter allerdings auch viele aus den türkischen Gebieten, und die Lehrstühle sind von ausgezeichneten Professoren besetzt, die sich zum großen Teil in Deutschland ausgebildet haben. Das wüste Korpsleben mit seinen Trinkgelagen und reno-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/324>, abgerufen am 05.02.2025.