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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Von Hevodot an bis auf die Gegenwart ist es noch keinem Historiker ein¬
gefallen, den Einfluß der Natur und der Landesbeschaffenhcit auf deu Ent-
wickluugs- und Bildungsgang zu verkennen oder zu leugnen. Und auch der
Gedanke ist nicht neu, daß die vitalen Erscheinungen der Geschichte unter Ge¬
sichtspunkte gestellt werden, die denjenigen analog sind, von denen die exakten
Wissenschaften ausgehen. Daß das Klima, der landschaftliche Charakter, die
Tier- und Pflanzenwelt ans die äußere und innere Ausgestaltung der mensch¬
lichen Natur mächtig eingewirkt haben, daß die religiösen Vorstellungen, daß
die Staatsformen, daß gesellschaftliches Zusammenleben, daß Beschäftigung und
Lebensweise, daß Wuchs und Hautfarbe, Nahrung und Kleidung von der äußern
Natur abhängen, ist nie bestritten worden. Folgt aber daraus, daß der Mensch
aus einem Schlammgeschöpfe sich entwickle, oder daß die soziale und moralische
Welt von einer absoluten Macht wie im Traume oder in unbewußten Zustande
erschaffen worden sei? Der Kampf ums Dasein ist ohne Zweifel die wirksamste
Kraft zum Emporkommen, zur Ausbildung der eingebornen Lebenskeime; wird
aber die historische Wissenschaft jemals imstande sein, den Entwicklungsgang in
ihren Periode" und Abstufungen nachzuweisen? Wie viel statistisches Material
man anhäufe" mag, um eine gewisse Gesetzmäßigkeit in allen menschliche!? Hand¬
lungen und Geschicken nachzuweisen, für die Geschichte und ihre Zwecke ist diese
Zusammenstellung von Wiederholungen und Analogie" ohne allen Wert. Denn
die Geschichtschrcilumg ist keine Geschäftsbilanz, keine Aufstellung von Soll n"d
Habe". Mag es sich dnrch sorgfältige Beobachtungen und tabellarische Ver-
gleichung gewisser Begebenheiten und Thatsachen beweisen lassen, daß alles sich
im Leben wiederhole, daß in allen Handlungen und Vorkommnissen eine gewisse
Gesetzmäßigkeit walte, aus dem automatischen Thun der Menschen läßt sich kein
geschichtlich verwertbarer Stoff schöpfen. Nur die individuellen, aus Selbst-
bewußtsein fließenden Lebensäußerungen bilden den Inhalt und das kunstvolle
Gewebe der Geschichte; weder die übereinstimmenden Zufälligkeiten, noch die
Wirkungen eines blinden Fatalismus liefern Bausteine für das historische Urteil,
sondern nur die sittlichen Mächte. Der tiefsinnige Ausspruch Humboldts: "Die
Weltgeschichte ist nicht ohne eine Weltregierung verständlich," ein Ausspruch,
den Hegel seinen "Vorlesungen über Philosophie der Geschichte" als Motto
vorangestellt hat, stellt der Geschichtschreibung ein ganz andres Ziel als die
exverimentirende Methode, welche die Individualitäten der Handlungen und Er¬
scheinungen in der moralischen wie in - der phhsischeu Welt gleich Atomen zu¬
sammenstellt und klassifizirt, um aus den Ergebnissen gcmeingiltige Gesetze ab¬
zuleiten. "Die Zahl der schaffenden Kräfte in der Geschichte," sagt Humboldt
an einer andern Stelle der genannte" Schrift, "wird durch die ""mittelbar in
den Begebenheiten anftreteiiden nicht erschöpft." Wenn der Geschichtschreiber
auch alle einzeln und in ihrer Verbindung durchforscht hat, die Gestalt und
die Umwcmdluttgc" des Erdbodens, die Veränderungen des Klimas, die Geistes-


Von Hevodot an bis auf die Gegenwart ist es noch keinem Historiker ein¬
gefallen, den Einfluß der Natur und der Landesbeschaffenhcit auf deu Ent-
wickluugs- und Bildungsgang zu verkennen oder zu leugnen. Und auch der
Gedanke ist nicht neu, daß die vitalen Erscheinungen der Geschichte unter Ge¬
sichtspunkte gestellt werden, die denjenigen analog sind, von denen die exakten
Wissenschaften ausgehen. Daß das Klima, der landschaftliche Charakter, die
Tier- und Pflanzenwelt ans die äußere und innere Ausgestaltung der mensch¬
lichen Natur mächtig eingewirkt haben, daß die religiösen Vorstellungen, daß
die Staatsformen, daß gesellschaftliches Zusammenleben, daß Beschäftigung und
Lebensweise, daß Wuchs und Hautfarbe, Nahrung und Kleidung von der äußern
Natur abhängen, ist nie bestritten worden. Folgt aber daraus, daß der Mensch
aus einem Schlammgeschöpfe sich entwickle, oder daß die soziale und moralische
Welt von einer absoluten Macht wie im Traume oder in unbewußten Zustande
erschaffen worden sei? Der Kampf ums Dasein ist ohne Zweifel die wirksamste
Kraft zum Emporkommen, zur Ausbildung der eingebornen Lebenskeime; wird
aber die historische Wissenschaft jemals imstande sein, den Entwicklungsgang in
ihren Periode» und Abstufungen nachzuweisen? Wie viel statistisches Material
man anhäufe» mag, um eine gewisse Gesetzmäßigkeit in allen menschliche!? Hand¬
lungen und Geschicken nachzuweisen, für die Geschichte und ihre Zwecke ist diese
Zusammenstellung von Wiederholungen und Analogie» ohne allen Wert. Denn
die Geschichtschrcilumg ist keine Geschäftsbilanz, keine Aufstellung von Soll n»d
Habe». Mag es sich dnrch sorgfältige Beobachtungen und tabellarische Ver-
gleichung gewisser Begebenheiten und Thatsachen beweisen lassen, daß alles sich
im Leben wiederhole, daß in allen Handlungen und Vorkommnissen eine gewisse
Gesetzmäßigkeit walte, aus dem automatischen Thun der Menschen läßt sich kein
geschichtlich verwertbarer Stoff schöpfen. Nur die individuellen, aus Selbst-
bewußtsein fließenden Lebensäußerungen bilden den Inhalt und das kunstvolle
Gewebe der Geschichte; weder die übereinstimmenden Zufälligkeiten, noch die
Wirkungen eines blinden Fatalismus liefern Bausteine für das historische Urteil,
sondern nur die sittlichen Mächte. Der tiefsinnige Ausspruch Humboldts: „Die
Weltgeschichte ist nicht ohne eine Weltregierung verständlich," ein Ausspruch,
den Hegel seinen „Vorlesungen über Philosophie der Geschichte" als Motto
vorangestellt hat, stellt der Geschichtschreibung ein ganz andres Ziel als die
exverimentirende Methode, welche die Individualitäten der Handlungen und Er¬
scheinungen in der moralischen wie in - der phhsischeu Welt gleich Atomen zu¬
sammenstellt und klassifizirt, um aus den Ergebnissen gcmeingiltige Gesetze ab¬
zuleiten. „Die Zahl der schaffenden Kräfte in der Geschichte," sagt Humboldt
an einer andern Stelle der genannte» Schrift, „wird durch die »»mittelbar in
den Begebenheiten anftreteiiden nicht erschöpft." Wenn der Geschichtschreiber
auch alle einzeln und in ihrer Verbindung durchforscht hat, die Gestalt und
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[0312] Von Hevodot an bis auf die Gegenwart ist es noch keinem Historiker ein¬ gefallen, den Einfluß der Natur und der Landesbeschaffenhcit auf deu Ent- wickluugs- und Bildungsgang zu verkennen oder zu leugnen. Und auch der Gedanke ist nicht neu, daß die vitalen Erscheinungen der Geschichte unter Ge¬ sichtspunkte gestellt werden, die denjenigen analog sind, von denen die exakten Wissenschaften ausgehen. Daß das Klima, der landschaftliche Charakter, die Tier- und Pflanzenwelt ans die äußere und innere Ausgestaltung der mensch¬ lichen Natur mächtig eingewirkt haben, daß die religiösen Vorstellungen, daß die Staatsformen, daß gesellschaftliches Zusammenleben, daß Beschäftigung und Lebensweise, daß Wuchs und Hautfarbe, Nahrung und Kleidung von der äußern Natur abhängen, ist nie bestritten worden. Folgt aber daraus, daß der Mensch aus einem Schlammgeschöpfe sich entwickle, oder daß die soziale und moralische Welt von einer absoluten Macht wie im Traume oder in unbewußten Zustande erschaffen worden sei? Der Kampf ums Dasein ist ohne Zweifel die wirksamste Kraft zum Emporkommen, zur Ausbildung der eingebornen Lebenskeime; wird aber die historische Wissenschaft jemals imstande sein, den Entwicklungsgang in ihren Periode» und Abstufungen nachzuweisen? Wie viel statistisches Material man anhäufe» mag, um eine gewisse Gesetzmäßigkeit in allen menschliche!? Hand¬ lungen und Geschicken nachzuweisen, für die Geschichte und ihre Zwecke ist diese Zusammenstellung von Wiederholungen und Analogie» ohne allen Wert. Denn die Geschichtschrcilumg ist keine Geschäftsbilanz, keine Aufstellung von Soll n»d Habe». Mag es sich dnrch sorgfältige Beobachtungen und tabellarische Ver- gleichung gewisser Begebenheiten und Thatsachen beweisen lassen, daß alles sich im Leben wiederhole, daß in allen Handlungen und Vorkommnissen eine gewisse Gesetzmäßigkeit walte, aus dem automatischen Thun der Menschen läßt sich kein geschichtlich verwertbarer Stoff schöpfen. Nur die individuellen, aus Selbst- bewußtsein fließenden Lebensäußerungen bilden den Inhalt und das kunstvolle Gewebe der Geschichte; weder die übereinstimmenden Zufälligkeiten, noch die Wirkungen eines blinden Fatalismus liefern Bausteine für das historische Urteil, sondern nur die sittlichen Mächte. Der tiefsinnige Ausspruch Humboldts: „Die Weltgeschichte ist nicht ohne eine Weltregierung verständlich," ein Ausspruch, den Hegel seinen „Vorlesungen über Philosophie der Geschichte" als Motto vorangestellt hat, stellt der Geschichtschreibung ein ganz andres Ziel als die exverimentirende Methode, welche die Individualitäten der Handlungen und Er¬ scheinungen in der moralischen wie in - der phhsischeu Welt gleich Atomen zu¬ sammenstellt und klassifizirt, um aus den Ergebnissen gcmeingiltige Gesetze ab¬ zuleiten. „Die Zahl der schaffenden Kräfte in der Geschichte," sagt Humboldt an einer andern Stelle der genannte» Schrift, „wird durch die »»mittelbar in den Begebenheiten anftreteiiden nicht erschöpft." Wenn der Geschichtschreiber auch alle einzeln und in ihrer Verbindung durchforscht hat, die Gestalt und die Umwcmdluttgc» des Erdbodens, die Veränderungen des Klimas, die Geistes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/312>, abgerufen am 05.02.2025.