Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gedanken über Geschichte und Geschichtschreiliung.

Die äußerste Konsequenz dieser Methode war die Darwinsche Deseendenzthevrie.
Es lag nahe, daß man dieses Verfahren auch auf die Geisteswissenschnften
übertrug und in erster Linie die Geschichtswissenschaft auf einem solider" Grnnde,
ans einem realeren Boden aufzubauen suchte. Das geschah am nachdrücklichsten
und folgerichtigsten dnrch Darwins Landsmann, dem fleißigen und kenntnis¬
reichen Thomas Buckle, in seiner "Geschichte der Zivilisation." Dein Buche
erging es wie dein Gellerlscheu Hut. Der Inhalt war nicht neu, aber die Form
war geändert, und der prophetische Ton, womit sich die Aussprüche als eine
neue dogmatische Wahrheit ankündigten, setzte die halbgebildete Welt in Be¬
wunderung. Oder war es eine so untrügliche und tiefe Weisheit, wenn Buckle
den Satz, "in menschlichen Dingen sei etwas Geheimnisvolles und Providcntiellcs,
welches sie unsrer Forschung undurchdringlich mache und uns ihren künftigen
Verlauf für immer verbergen werde," dnrch den Beweis zu widerlegen vermeinte,
daß "die Handlungen der Menschen und folglich auch der Gesellschaft nicht die
Wirkung eines freien Willens, sondern bestimmte" Gesetzen unterworfen seien,"
und seine Argumentation mit dem phthischen Spruche schloß: "Wir verwerfen
also sowohl das metaphysische Dogma von der Willensfreiheit als das theologische
von der Vorherbestimmung"? Ist denn nicht seit Augustinus dieses unlösbare
Problem von Luther, Erasmus und Calvin aufs eingehendste erörtert worden?
"Ohne Naturwissenschaften keine Geschichte," so lautet das Axiom, das Buckle
in der Einleitung an die Spitze seiner Deduktionen stellt und dnrch folgende
Zusätze erweitert: Da alles, was früher vorgegangen, entweder ein innerer oder
ein äußerer Vorgang sein muß, so ist es klar, die ganze Mannichfaltigkeit der
Ergebnisse, mit andern Worten, alle Veränderungen, von denen die Geschichte
voll ist, alle Wechselfälle, die das Menschengeschlecht betroffen, sein Fortschritt
und sein Verfall, sein Glück und sein Elend müssen die Frucht einer doppelten
Wirksamkeit sein, der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf unsern Geist und
der Einwirkung unsers Geistes auf die äußern Erscheinungen. Wenn wir die
unaufhörliche Berührung des Menschen mit der Außenwelt bedenken, so wird
es uns zur Gewißheit, daß eine innige Verbindung zwischen den Handlungen
der Menschen und den Gesetzen der Natur stattfinden muß; und wenn man
daher die Naturwissenschaft bis jetzt noch ohne Einfluß auf die Geschichte
gelassen hat, so ist der Grund davon, daß entweder die Historiker den Zu¬
sammenhang nicht bemerkt haben, oder wenn sie ihn bemerkt haben, daß es ihnen
an der nötigen Kenntnis gefehlt hat, um seinen Einfluß nachzuweisen. Denn da
die Geschichte mit den Handlungen der Menschen zu thun hat, ihre Handlungen
aber nnr das Erzeugnis eines Zusammentreffens innerer und äußerer Er¬
scheinungen sind, so wird es nötig, die verhältnismäßige Wichtigkeit dieser Er¬
scheinungen zu prüfen, zu untersuchen, wie weit ihre Gesetze bekannt sind, und
die Hilfsmittel für weitere Entdeckungen aufzufinden, welche diesen zwei großen
Klassen, den Naturforschern und den Erforschern des Geistes, zu Gebote stehen.


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreiliung.

Die äußerste Konsequenz dieser Methode war die Darwinsche Deseendenzthevrie.
Es lag nahe, daß man dieses Verfahren auch auf die Geisteswissenschnften
übertrug und in erster Linie die Geschichtswissenschaft auf einem solider» Grnnde,
ans einem realeren Boden aufzubauen suchte. Das geschah am nachdrücklichsten
und folgerichtigsten dnrch Darwins Landsmann, dem fleißigen und kenntnis¬
reichen Thomas Buckle, in seiner „Geschichte der Zivilisation." Dein Buche
erging es wie dein Gellerlscheu Hut. Der Inhalt war nicht neu, aber die Form
war geändert, und der prophetische Ton, womit sich die Aussprüche als eine
neue dogmatische Wahrheit ankündigten, setzte die halbgebildete Welt in Be¬
wunderung. Oder war es eine so untrügliche und tiefe Weisheit, wenn Buckle
den Satz, „in menschlichen Dingen sei etwas Geheimnisvolles und Providcntiellcs,
welches sie unsrer Forschung undurchdringlich mache und uns ihren künftigen
Verlauf für immer verbergen werde," dnrch den Beweis zu widerlegen vermeinte,
daß „die Handlungen der Menschen und folglich auch der Gesellschaft nicht die
Wirkung eines freien Willens, sondern bestimmte» Gesetzen unterworfen seien,"
und seine Argumentation mit dem phthischen Spruche schloß: „Wir verwerfen
also sowohl das metaphysische Dogma von der Willensfreiheit als das theologische
von der Vorherbestimmung"? Ist denn nicht seit Augustinus dieses unlösbare
Problem von Luther, Erasmus und Calvin aufs eingehendste erörtert worden?
„Ohne Naturwissenschaften keine Geschichte," so lautet das Axiom, das Buckle
in der Einleitung an die Spitze seiner Deduktionen stellt und dnrch folgende
Zusätze erweitert: Da alles, was früher vorgegangen, entweder ein innerer oder
ein äußerer Vorgang sein muß, so ist es klar, die ganze Mannichfaltigkeit der
Ergebnisse, mit andern Worten, alle Veränderungen, von denen die Geschichte
voll ist, alle Wechselfälle, die das Menschengeschlecht betroffen, sein Fortschritt
und sein Verfall, sein Glück und sein Elend müssen die Frucht einer doppelten
Wirksamkeit sein, der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf unsern Geist und
der Einwirkung unsers Geistes auf die äußern Erscheinungen. Wenn wir die
unaufhörliche Berührung des Menschen mit der Außenwelt bedenken, so wird
es uns zur Gewißheit, daß eine innige Verbindung zwischen den Handlungen
der Menschen und den Gesetzen der Natur stattfinden muß; und wenn man
daher die Naturwissenschaft bis jetzt noch ohne Einfluß auf die Geschichte
gelassen hat, so ist der Grund davon, daß entweder die Historiker den Zu¬
sammenhang nicht bemerkt haben, oder wenn sie ihn bemerkt haben, daß es ihnen
an der nötigen Kenntnis gefehlt hat, um seinen Einfluß nachzuweisen. Denn da
die Geschichte mit den Handlungen der Menschen zu thun hat, ihre Handlungen
aber nnr das Erzeugnis eines Zusammentreffens innerer und äußerer Er¬
scheinungen sind, so wird es nötig, die verhältnismäßige Wichtigkeit dieser Er¬
scheinungen zu prüfen, zu untersuchen, wie weit ihre Gesetze bekannt sind, und
die Hilfsmittel für weitere Entdeckungen aufzufinden, welche diesen zwei großen
Klassen, den Naturforschern und den Erforschern des Geistes, zu Gebote stehen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0311" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197735"/>
            <fw type="header" place="top"> Gedanken über Geschichte und Geschichtschreiliung.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_927" prev="#ID_926"> Die äußerste Konsequenz dieser Methode war die Darwinsche Deseendenzthevrie.<lb/>
Es lag nahe, daß man dieses Verfahren auch auf die Geisteswissenschnften<lb/>
übertrug und in erster Linie die Geschichtswissenschaft auf einem solider» Grnnde,<lb/>
ans einem realeren Boden aufzubauen suchte. Das geschah am nachdrücklichsten<lb/>
und folgerichtigsten dnrch Darwins Landsmann, dem fleißigen und kenntnis¬<lb/>
reichen Thomas Buckle, in seiner &#x201E;Geschichte der Zivilisation." Dein Buche<lb/>
erging es wie dein Gellerlscheu Hut. Der Inhalt war nicht neu, aber die Form<lb/>
war geändert, und der prophetische Ton, womit sich die Aussprüche als eine<lb/>
neue dogmatische Wahrheit ankündigten, setzte die halbgebildete Welt in Be¬<lb/>
wunderung. Oder war es eine so untrügliche und tiefe Weisheit, wenn Buckle<lb/>
den Satz, &#x201E;in menschlichen Dingen sei etwas Geheimnisvolles und Providcntiellcs,<lb/>
welches sie unsrer Forschung undurchdringlich mache und uns ihren künftigen<lb/>
Verlauf für immer verbergen werde," dnrch den Beweis zu widerlegen vermeinte,<lb/>
daß &#x201E;die Handlungen der Menschen und folglich auch der Gesellschaft nicht die<lb/>
Wirkung eines freien Willens, sondern bestimmte» Gesetzen unterworfen seien,"<lb/>
und seine Argumentation mit dem phthischen Spruche schloß: &#x201E;Wir verwerfen<lb/>
also sowohl das metaphysische Dogma von der Willensfreiheit als das theologische<lb/>
von der Vorherbestimmung"? Ist denn nicht seit Augustinus dieses unlösbare<lb/>
Problem von Luther, Erasmus und Calvin aufs eingehendste erörtert worden?<lb/>
&#x201E;Ohne Naturwissenschaften keine Geschichte," so lautet das Axiom, das Buckle<lb/>
in der Einleitung an die Spitze seiner Deduktionen stellt und dnrch folgende<lb/>
Zusätze erweitert: Da alles, was früher vorgegangen, entweder ein innerer oder<lb/>
ein äußerer Vorgang sein muß, so ist es klar, die ganze Mannichfaltigkeit der<lb/>
Ergebnisse, mit andern Worten, alle Veränderungen, von denen die Geschichte<lb/>
voll ist, alle Wechselfälle, die das Menschengeschlecht betroffen, sein Fortschritt<lb/>
und sein Verfall, sein Glück und sein Elend müssen die Frucht einer doppelten<lb/>
Wirksamkeit sein, der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf unsern Geist und<lb/>
der Einwirkung unsers Geistes auf die äußern Erscheinungen. Wenn wir die<lb/>
unaufhörliche Berührung des Menschen mit der Außenwelt bedenken, so wird<lb/>
es uns zur Gewißheit, daß eine innige Verbindung zwischen den Handlungen<lb/>
der Menschen und den Gesetzen der Natur stattfinden muß; und wenn man<lb/>
daher die Naturwissenschaft bis jetzt noch ohne Einfluß auf die Geschichte<lb/>
gelassen hat, so ist der Grund davon, daß entweder die Historiker den Zu¬<lb/>
sammenhang nicht bemerkt haben, oder wenn sie ihn bemerkt haben, daß es ihnen<lb/>
an der nötigen Kenntnis gefehlt hat, um seinen Einfluß nachzuweisen. Denn da<lb/>
die Geschichte mit den Handlungen der Menschen zu thun hat, ihre Handlungen<lb/>
aber nnr das Erzeugnis eines Zusammentreffens innerer und äußerer Er¬<lb/>
scheinungen sind, so wird es nötig, die verhältnismäßige Wichtigkeit dieser Er¬<lb/>
scheinungen zu prüfen, zu untersuchen, wie weit ihre Gesetze bekannt sind, und<lb/>
die Hilfsmittel für weitere Entdeckungen aufzufinden, welche diesen zwei großen<lb/>
Klassen, den Naturforschern und den Erforschern des Geistes, zu Gebote stehen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0311] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreiliung. Die äußerste Konsequenz dieser Methode war die Darwinsche Deseendenzthevrie. Es lag nahe, daß man dieses Verfahren auch auf die Geisteswissenschnften übertrug und in erster Linie die Geschichtswissenschaft auf einem solider» Grnnde, ans einem realeren Boden aufzubauen suchte. Das geschah am nachdrücklichsten und folgerichtigsten dnrch Darwins Landsmann, dem fleißigen und kenntnis¬ reichen Thomas Buckle, in seiner „Geschichte der Zivilisation." Dein Buche erging es wie dein Gellerlscheu Hut. Der Inhalt war nicht neu, aber die Form war geändert, und der prophetische Ton, womit sich die Aussprüche als eine neue dogmatische Wahrheit ankündigten, setzte die halbgebildete Welt in Be¬ wunderung. Oder war es eine so untrügliche und tiefe Weisheit, wenn Buckle den Satz, „in menschlichen Dingen sei etwas Geheimnisvolles und Providcntiellcs, welches sie unsrer Forschung undurchdringlich mache und uns ihren künftigen Verlauf für immer verbergen werde," dnrch den Beweis zu widerlegen vermeinte, daß „die Handlungen der Menschen und folglich auch der Gesellschaft nicht die Wirkung eines freien Willens, sondern bestimmte» Gesetzen unterworfen seien," und seine Argumentation mit dem phthischen Spruche schloß: „Wir verwerfen also sowohl das metaphysische Dogma von der Willensfreiheit als das theologische von der Vorherbestimmung"? Ist denn nicht seit Augustinus dieses unlösbare Problem von Luther, Erasmus und Calvin aufs eingehendste erörtert worden? „Ohne Naturwissenschaften keine Geschichte," so lautet das Axiom, das Buckle in der Einleitung an die Spitze seiner Deduktionen stellt und dnrch folgende Zusätze erweitert: Da alles, was früher vorgegangen, entweder ein innerer oder ein äußerer Vorgang sein muß, so ist es klar, die ganze Mannichfaltigkeit der Ergebnisse, mit andern Worten, alle Veränderungen, von denen die Geschichte voll ist, alle Wechselfälle, die das Menschengeschlecht betroffen, sein Fortschritt und sein Verfall, sein Glück und sein Elend müssen die Frucht einer doppelten Wirksamkeit sein, der Einwirkung äußerer Erscheinungen auf unsern Geist und der Einwirkung unsers Geistes auf die äußern Erscheinungen. Wenn wir die unaufhörliche Berührung des Menschen mit der Außenwelt bedenken, so wird es uns zur Gewißheit, daß eine innige Verbindung zwischen den Handlungen der Menschen und den Gesetzen der Natur stattfinden muß; und wenn man daher die Naturwissenschaft bis jetzt noch ohne Einfluß auf die Geschichte gelassen hat, so ist der Grund davon, daß entweder die Historiker den Zu¬ sammenhang nicht bemerkt haben, oder wenn sie ihn bemerkt haben, daß es ihnen an der nötigen Kenntnis gefehlt hat, um seinen Einfluß nachzuweisen. Denn da die Geschichte mit den Handlungen der Menschen zu thun hat, ihre Handlungen aber nnr das Erzeugnis eines Zusammentreffens innerer und äußerer Er¬ scheinungen sind, so wird es nötig, die verhältnismäßige Wichtigkeit dieser Er¬ scheinungen zu prüfen, zu untersuchen, wie weit ihre Gesetze bekannt sind, und die Hilfsmittel für weitere Entdeckungen aufzufinden, welche diesen zwei großen Klassen, den Naturforschern und den Erforschern des Geistes, zu Gebote stehen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/311
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/311>, abgerufen am 05.02.2025.