Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gebun'en über Geschichte und Geschichtschreibung,

Ansicht über die Stellung und Bedeutung der "Weltgeschichte" in der deutscheu
Historiographie des nähern ausgesprochen. Diese Auffassung kommt mehr und
mehr zur Geltung. Nur die Geschichte kaun die Basis echter Volks- und Menschen-
bildung sein; diese Aufgabe kann sie aber nur in der universell'M Gestalt einer
allgemeinen Weltgeschichte erfüllen. Mag auch immerhin die Weltgeschichte das
große Feld sei", auf dem sich bald der seichte Dilettantismus und die selbstgefällige
Oberflächlichkeit breit macheu, bald die politische und religiöse Tendenz- und
Parteischriftstcllerei ihre flatternde Fahne aufhängt, in den" Garten- und Acker¬
land des menschlichen Daseins wachsen anch stattliche Bäume und Pflanzen
empor, reifen auch edle und gesunde Früchte, Die Weltgeschichte hat die erhabne
Aufgabe, die Entwicklung und die Fortschritte der Menschheit zur Freiheit und
zur Herrschaft des Geistes darzulegen und der Idee der Humanität Raum n"d
Geltung zu verschaffen. Dieses Ziel darf der Universalhistvriker nie aus dem
Auge verlieren, er muß fest und standhaft wie ein pflichtgetreuer Pilot um
Steuer stehen, den Blick unverwandt nach den Sternen gerichtet. Und diesem
Berufe ist die Weltgeschichte mit redlichem Bemühen nachgekommen. Wie sehr
auch der Geist finstrer Zeiten und Menschen sich abgemüht hat, der Welt¬
geschichte sein dunkles, unheimliches Siegel aufzudrücken, sie erhebt noch immer
stolz ihre Strahlenkrone über den Dunstkreis niederer Erdgewalten; sie bildet
noch immer das Weltgericht, vor dessen Urteil die Ungerechten, die Frevler um
den ewigen Gütern der Menschheit, im Stillen erbeben; sie ist noch immer der
hohe Tempel, dessen goldne.Kuppel und harmonischer Bau in erhabner Würde
und Majestät ruhig fortbestehen, unbekümmert um die Stürme, die deu Eingang
umbransen, und um das eitle Bemühen, falsche Götter in das Heiligtum einzu¬
führen. Und daß sie diesen Charakter der Unbeflecktheit treu bewahre, ist die
hohe Aufgabe der Geschichtschreiber, die sich als treue Hüter mit blanker
Waffe vor sie stellen und ihre Ehre schützen und verteidigen.

Einen grellen Gegensatz zu dieser Auffassung vou der Universalität und
Idealität der Weltgeschichte bilden zwei Richtungen, welche man als die materia¬
listisch-statistische und als die technisch-archivalische bezeichnen kann, Ihr gemein¬
schaftlicher Zweck ist die Ansammlung von Detail, von historischem Material,
und von Fvrschungs- und Bevbachtuugsrcsultaten aus allen Teilen der Natur¬
erscheinungen und des Staatslebens,

Wie man-einen gekrümmten Stab dadurch wieder in die gerade Richtung
zu bringen sucht, daß man ihn nach der andern Seite biegt, so geschieht es auch
oft im geistigen Leben: eine Ansicht oder ein Prinzip, das sich mit allzugroßer
Sicherheit als richtig und wahr anpreist, fordert den Widerspruch heraus und
reizt zur Aufstellung des Gegensatzes, dem man gleichfalls den Charakter der
Wahrheit zu verleihen sucht. Die Naturphilosophie hatte ihr spekulatives System
in die Luft gebaut; da ging die Naturwissenschaft auf die nackte Empirie und
Beobachtung zurück und setzte der metaphysische" Welt ihr Ignoramus entgegen.


Gebun'en über Geschichte und Geschichtschreibung,

Ansicht über die Stellung und Bedeutung der „Weltgeschichte" in der deutscheu
Historiographie des nähern ausgesprochen. Diese Auffassung kommt mehr und
mehr zur Geltung. Nur die Geschichte kaun die Basis echter Volks- und Menschen-
bildung sein; diese Aufgabe kann sie aber nur in der universell'M Gestalt einer
allgemeinen Weltgeschichte erfüllen. Mag auch immerhin die Weltgeschichte das
große Feld sei», auf dem sich bald der seichte Dilettantismus und die selbstgefällige
Oberflächlichkeit breit macheu, bald die politische und religiöse Tendenz- und
Parteischriftstcllerei ihre flatternde Fahne aufhängt, in den» Garten- und Acker¬
land des menschlichen Daseins wachsen anch stattliche Bäume und Pflanzen
empor, reifen auch edle und gesunde Früchte, Die Weltgeschichte hat die erhabne
Aufgabe, die Entwicklung und die Fortschritte der Menschheit zur Freiheit und
zur Herrschaft des Geistes darzulegen und der Idee der Humanität Raum n»d
Geltung zu verschaffen. Dieses Ziel darf der Universalhistvriker nie aus dem
Auge verlieren, er muß fest und standhaft wie ein pflichtgetreuer Pilot um
Steuer stehen, den Blick unverwandt nach den Sternen gerichtet. Und diesem
Berufe ist die Weltgeschichte mit redlichem Bemühen nachgekommen. Wie sehr
auch der Geist finstrer Zeiten und Menschen sich abgemüht hat, der Welt¬
geschichte sein dunkles, unheimliches Siegel aufzudrücken, sie erhebt noch immer
stolz ihre Strahlenkrone über den Dunstkreis niederer Erdgewalten; sie bildet
noch immer das Weltgericht, vor dessen Urteil die Ungerechten, die Frevler um
den ewigen Gütern der Menschheit, im Stillen erbeben; sie ist noch immer der
hohe Tempel, dessen goldne.Kuppel und harmonischer Bau in erhabner Würde
und Majestät ruhig fortbestehen, unbekümmert um die Stürme, die deu Eingang
umbransen, und um das eitle Bemühen, falsche Götter in das Heiligtum einzu¬
führen. Und daß sie diesen Charakter der Unbeflecktheit treu bewahre, ist die
hohe Aufgabe der Geschichtschreiber, die sich als treue Hüter mit blanker
Waffe vor sie stellen und ihre Ehre schützen und verteidigen.

Einen grellen Gegensatz zu dieser Auffassung vou der Universalität und
Idealität der Weltgeschichte bilden zwei Richtungen, welche man als die materia¬
listisch-statistische und als die technisch-archivalische bezeichnen kann, Ihr gemein¬
schaftlicher Zweck ist die Ansammlung von Detail, von historischem Material,
und von Fvrschungs- und Bevbachtuugsrcsultaten aus allen Teilen der Natur¬
erscheinungen und des Staatslebens,

Wie man-einen gekrümmten Stab dadurch wieder in die gerade Richtung
zu bringen sucht, daß man ihn nach der andern Seite biegt, so geschieht es auch
oft im geistigen Leben: eine Ansicht oder ein Prinzip, das sich mit allzugroßer
Sicherheit als richtig und wahr anpreist, fordert den Widerspruch heraus und
reizt zur Aufstellung des Gegensatzes, dem man gleichfalls den Charakter der
Wahrheit zu verleihen sucht. Die Naturphilosophie hatte ihr spekulatives System
in die Luft gebaut; da ging die Naturwissenschaft auf die nackte Empirie und
Beobachtung zurück und setzte der metaphysische» Welt ihr Ignoramus entgegen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0310" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197734"/>
            <fw type="header" place="top"> Gebun'en über Geschichte und Geschichtschreibung,</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_924" prev="#ID_923"> Ansicht über die Stellung und Bedeutung der &#x201E;Weltgeschichte" in der deutscheu<lb/>
Historiographie des nähern ausgesprochen. Diese Auffassung kommt mehr und<lb/>
mehr zur Geltung. Nur die Geschichte kaun die Basis echter Volks- und Menschen-<lb/>
bildung sein; diese Aufgabe kann sie aber nur in der universell'M Gestalt einer<lb/>
allgemeinen Weltgeschichte erfüllen. Mag auch immerhin die Weltgeschichte das<lb/>
große Feld sei», auf dem sich bald der seichte Dilettantismus und die selbstgefällige<lb/>
Oberflächlichkeit breit macheu, bald die politische und religiöse Tendenz- und<lb/>
Parteischriftstcllerei ihre flatternde Fahne aufhängt, in den» Garten- und Acker¬<lb/>
land des menschlichen Daseins wachsen anch stattliche Bäume und Pflanzen<lb/>
empor, reifen auch edle und gesunde Früchte, Die Weltgeschichte hat die erhabne<lb/>
Aufgabe, die Entwicklung und die Fortschritte der Menschheit zur Freiheit und<lb/>
zur Herrschaft des Geistes darzulegen und der Idee der Humanität Raum n»d<lb/>
Geltung zu verschaffen. Dieses Ziel darf der Universalhistvriker nie aus dem<lb/>
Auge verlieren, er muß fest und standhaft wie ein pflichtgetreuer Pilot um<lb/>
Steuer stehen, den Blick unverwandt nach den Sternen gerichtet. Und diesem<lb/>
Berufe ist die Weltgeschichte mit redlichem Bemühen nachgekommen. Wie sehr<lb/>
auch der Geist finstrer Zeiten und Menschen sich abgemüht hat, der Welt¬<lb/>
geschichte sein dunkles, unheimliches Siegel aufzudrücken, sie erhebt noch immer<lb/>
stolz ihre Strahlenkrone über den Dunstkreis niederer Erdgewalten; sie bildet<lb/>
noch immer das Weltgericht, vor dessen Urteil die Ungerechten, die Frevler um<lb/>
den ewigen Gütern der Menschheit, im Stillen erbeben; sie ist noch immer der<lb/>
hohe Tempel, dessen goldne.Kuppel und harmonischer Bau in erhabner Würde<lb/>
und Majestät ruhig fortbestehen, unbekümmert um die Stürme, die deu Eingang<lb/>
umbransen, und um das eitle Bemühen, falsche Götter in das Heiligtum einzu¬<lb/>
führen. Und daß sie diesen Charakter der Unbeflecktheit treu bewahre, ist die<lb/>
hohe Aufgabe der Geschichtschreiber, die sich als treue Hüter mit blanker<lb/>
Waffe vor sie stellen und ihre Ehre schützen und verteidigen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_925"> Einen grellen Gegensatz zu dieser Auffassung vou der Universalität und<lb/>
Idealität der Weltgeschichte bilden zwei Richtungen, welche man als die materia¬<lb/>
listisch-statistische und als die technisch-archivalische bezeichnen kann, Ihr gemein¬<lb/>
schaftlicher Zweck ist die Ansammlung von Detail, von historischem Material,<lb/>
und von Fvrschungs- und Bevbachtuugsrcsultaten aus allen Teilen der Natur¬<lb/>
erscheinungen und des Staatslebens,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_926" next="#ID_927"> Wie man-einen gekrümmten Stab dadurch wieder in die gerade Richtung<lb/>
zu bringen sucht, daß man ihn nach der andern Seite biegt, so geschieht es auch<lb/>
oft im geistigen Leben: eine Ansicht oder ein Prinzip, das sich mit allzugroßer<lb/>
Sicherheit als richtig und wahr anpreist, fordert den Widerspruch heraus und<lb/>
reizt zur Aufstellung des Gegensatzes, dem man gleichfalls den Charakter der<lb/>
Wahrheit zu verleihen sucht. Die Naturphilosophie hatte ihr spekulatives System<lb/>
in die Luft gebaut; da ging die Naturwissenschaft auf die nackte Empirie und<lb/>
Beobachtung zurück und setzte der metaphysische» Welt ihr Ignoramus entgegen.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0310] Gebun'en über Geschichte und Geschichtschreibung, Ansicht über die Stellung und Bedeutung der „Weltgeschichte" in der deutscheu Historiographie des nähern ausgesprochen. Diese Auffassung kommt mehr und mehr zur Geltung. Nur die Geschichte kaun die Basis echter Volks- und Menschen- bildung sein; diese Aufgabe kann sie aber nur in der universell'M Gestalt einer allgemeinen Weltgeschichte erfüllen. Mag auch immerhin die Weltgeschichte das große Feld sei», auf dem sich bald der seichte Dilettantismus und die selbstgefällige Oberflächlichkeit breit macheu, bald die politische und religiöse Tendenz- und Parteischriftstcllerei ihre flatternde Fahne aufhängt, in den» Garten- und Acker¬ land des menschlichen Daseins wachsen anch stattliche Bäume und Pflanzen empor, reifen auch edle und gesunde Früchte, Die Weltgeschichte hat die erhabne Aufgabe, die Entwicklung und die Fortschritte der Menschheit zur Freiheit und zur Herrschaft des Geistes darzulegen und der Idee der Humanität Raum n»d Geltung zu verschaffen. Dieses Ziel darf der Universalhistvriker nie aus dem Auge verlieren, er muß fest und standhaft wie ein pflichtgetreuer Pilot um Steuer stehen, den Blick unverwandt nach den Sternen gerichtet. Und diesem Berufe ist die Weltgeschichte mit redlichem Bemühen nachgekommen. Wie sehr auch der Geist finstrer Zeiten und Menschen sich abgemüht hat, der Welt¬ geschichte sein dunkles, unheimliches Siegel aufzudrücken, sie erhebt noch immer stolz ihre Strahlenkrone über den Dunstkreis niederer Erdgewalten; sie bildet noch immer das Weltgericht, vor dessen Urteil die Ungerechten, die Frevler um den ewigen Gütern der Menschheit, im Stillen erbeben; sie ist noch immer der hohe Tempel, dessen goldne.Kuppel und harmonischer Bau in erhabner Würde und Majestät ruhig fortbestehen, unbekümmert um die Stürme, die deu Eingang umbransen, und um das eitle Bemühen, falsche Götter in das Heiligtum einzu¬ führen. Und daß sie diesen Charakter der Unbeflecktheit treu bewahre, ist die hohe Aufgabe der Geschichtschreiber, die sich als treue Hüter mit blanker Waffe vor sie stellen und ihre Ehre schützen und verteidigen. Einen grellen Gegensatz zu dieser Auffassung vou der Universalität und Idealität der Weltgeschichte bilden zwei Richtungen, welche man als die materia¬ listisch-statistische und als die technisch-archivalische bezeichnen kann, Ihr gemein¬ schaftlicher Zweck ist die Ansammlung von Detail, von historischem Material, und von Fvrschungs- und Bevbachtuugsrcsultaten aus allen Teilen der Natur¬ erscheinungen und des Staatslebens, Wie man-einen gekrümmten Stab dadurch wieder in die gerade Richtung zu bringen sucht, daß man ihn nach der andern Seite biegt, so geschieht es auch oft im geistigen Leben: eine Ansicht oder ein Prinzip, das sich mit allzugroßer Sicherheit als richtig und wahr anpreist, fordert den Widerspruch heraus und reizt zur Aufstellung des Gegensatzes, dem man gleichfalls den Charakter der Wahrheit zu verleihen sucht. Die Naturphilosophie hatte ihr spekulatives System in die Luft gebaut; da ging die Naturwissenschaft auf die nackte Empirie und Beobachtung zurück und setzte der metaphysische» Welt ihr Ignoramus entgegen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/310
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/310>, abgerufen am 05.02.2025.