Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. Geschiednen treuer bewahren und die Erinnerung an die Fernen, auch wenn 3. In den Jahrhunderten der Völkerscheidung und Vötkermischung ist also Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. Geschiednen treuer bewahren und die Erinnerung an die Fernen, auch wenn 3. In den Jahrhunderten der Völkerscheidung und Vötkermischung ist also <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197733"/> <fw type="header" place="top"> Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.</fw><lb/> <p xml:id="ID_922" prev="#ID_921"> Geschiednen treuer bewahren und die Erinnerung an die Fernen, auch wenn<lb/> diese in Gleichgültigkeit sich abwenden, in liebendem Herzen tragen, so konnten<lb/> auch die Bewohner der alten deutscheu Erde nie ganz vergessen, daß am Po<lb/> und am Ebro, am Rhone und an der Themse sich dereinst Bruderstämme<lb/> niedergelassen; sie machten oft Versuche, das zerrissene Band wieder von neuem<lb/> zu knüpfen, sie streckten häufig mit weitherzigem Weltbürgersinn die Bruderhand<lb/> zum neuen Völkerbünde aus, aber sie wurden kalt und feindselig zurückgestoßen,<lb/> sie mußten die bittere Erfahrung machen, daß die Nachkommen der Aus¬<lb/> gewanderte!, jede Spur von Pietät und Anhänglichkeit, jede Erinnerung der<lb/> einstigen Verwandtschaft verloren hatten, daß sie ihre Abkunft verleugneten; und<lb/> dennoch trägt die deutsche Nation, gleich liebevollen Eltern, die mich von un¬<lb/> dankbaren Kindern nie ihr Herz ganz abkehren, die kosmopolitische Neigung tief<lb/> im Busen, eine jener vielgeschmähten Regungen, die durch keine Vernunft-<lb/> gründe, durch kein Räsonnement sich bciuuen lassen, eben weil sie angeboren<lb/> sind; der Weltbürgersinn und die Menschenliebe ohne Rücksicht auf Abstammung<lb/> und Religivnsverschiedenheit ist dem Deutschen ebenso naturgemäß, wie dem<lb/> mütterlichen Herzen die Mutterliebe. Und der Zug der Natur ist mächtiger<lb/> als alle Theorie.</p><lb/> <div n="2"> <head> 3.</head><lb/> <p xml:id="ID_923" next="#ID_924"> In den Jahrhunderten der Völkerscheidung und Vötkermischung ist also<lb/> die germanische Menschenrasse der Grundstock der europäischen Nationen ge¬<lb/> worden, das Senfkorn, ans dem der Lebensbaum aller romanisch-germanischen<lb/> Nationen emporwuchs. Und als ob die verwandten Stämme, wenn auch<lb/> räumlich geschieden, noch mit der ursprünglichen Heimat in Verbindung gehalten,<lb/> die Erinnerung an den gemeinschaftlichen Ursprung noch genährt und gepflegt<lb/> werden sollte, wurde die Weltgeschichte von der deutschen Nation geschaffen. In<lb/> das Herz der europäische» Menschheit gestellt und von der Neigung durch¬<lb/> drungen, das Fremde oft höher zu achten als das Heimische, gegen andre<lb/> Nationen, wie schon Klopstock rügte, allzugerecht zu sein, war das deutsche Volk<lb/> vor allem berufen, den Herd aufzurichten, an welchem die andern Völker ihre<lb/> Fackeln anzünden, und der den Gottesfunken der Menschheit hüten und nähren<lb/> sollte. Das konnte am sichersten und nachhaltigsten geschehen, wenn an der<lb/> Hand der Weltgeschichte die Einheit und Gleichartigkeit des Menschengeschlechts<lb/> und derselbe höchste Zweck des Daseins nachgewiesen ward. Daß man diesen<lb/> Beruf des deutschen Volkes, der Träger der „Weltgeschichte" auf geistigem<lb/> Gebiete zu sein, mit der Zeit erkannt hat, beweist die produktive Thätigkeit<lb/> unsrer Zeit auf diesem Gebiete. Wie verschiedenartig immer die Früchte dieser<lb/> Thätigkeit, wie ungleich die Zwecke und Absichten der Schreibenden sein mögen,<lb/> das ideale Ziel einer Geschichte der Menschheit schwebt allen vor der Seele.<lb/> Der Verfasser dieser Zeilen hat in seinem „Lebens- und Bildungsgang" seine</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0309]
Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.
Geschiednen treuer bewahren und die Erinnerung an die Fernen, auch wenn
diese in Gleichgültigkeit sich abwenden, in liebendem Herzen tragen, so konnten
auch die Bewohner der alten deutscheu Erde nie ganz vergessen, daß am Po
und am Ebro, am Rhone und an der Themse sich dereinst Bruderstämme
niedergelassen; sie machten oft Versuche, das zerrissene Band wieder von neuem
zu knüpfen, sie streckten häufig mit weitherzigem Weltbürgersinn die Bruderhand
zum neuen Völkerbünde aus, aber sie wurden kalt und feindselig zurückgestoßen,
sie mußten die bittere Erfahrung machen, daß die Nachkommen der Aus¬
gewanderte!, jede Spur von Pietät und Anhänglichkeit, jede Erinnerung der
einstigen Verwandtschaft verloren hatten, daß sie ihre Abkunft verleugneten; und
dennoch trägt die deutsche Nation, gleich liebevollen Eltern, die mich von un¬
dankbaren Kindern nie ihr Herz ganz abkehren, die kosmopolitische Neigung tief
im Busen, eine jener vielgeschmähten Regungen, die durch keine Vernunft-
gründe, durch kein Räsonnement sich bciuuen lassen, eben weil sie angeboren
sind; der Weltbürgersinn und die Menschenliebe ohne Rücksicht auf Abstammung
und Religivnsverschiedenheit ist dem Deutschen ebenso naturgemäß, wie dem
mütterlichen Herzen die Mutterliebe. Und der Zug der Natur ist mächtiger
als alle Theorie.
3.
In den Jahrhunderten der Völkerscheidung und Vötkermischung ist also
die germanische Menschenrasse der Grundstock der europäischen Nationen ge¬
worden, das Senfkorn, ans dem der Lebensbaum aller romanisch-germanischen
Nationen emporwuchs. Und als ob die verwandten Stämme, wenn auch
räumlich geschieden, noch mit der ursprünglichen Heimat in Verbindung gehalten,
die Erinnerung an den gemeinschaftlichen Ursprung noch genährt und gepflegt
werden sollte, wurde die Weltgeschichte von der deutschen Nation geschaffen. In
das Herz der europäische» Menschheit gestellt und von der Neigung durch¬
drungen, das Fremde oft höher zu achten als das Heimische, gegen andre
Nationen, wie schon Klopstock rügte, allzugerecht zu sein, war das deutsche Volk
vor allem berufen, den Herd aufzurichten, an welchem die andern Völker ihre
Fackeln anzünden, und der den Gottesfunken der Menschheit hüten und nähren
sollte. Das konnte am sichersten und nachhaltigsten geschehen, wenn an der
Hand der Weltgeschichte die Einheit und Gleichartigkeit des Menschengeschlechts
und derselbe höchste Zweck des Daseins nachgewiesen ward. Daß man diesen
Beruf des deutschen Volkes, der Träger der „Weltgeschichte" auf geistigem
Gebiete zu sein, mit der Zeit erkannt hat, beweist die produktive Thätigkeit
unsrer Zeit auf diesem Gebiete. Wie verschiedenartig immer die Früchte dieser
Thätigkeit, wie ungleich die Zwecke und Absichten der Schreibenden sein mögen,
das ideale Ziel einer Geschichte der Menschheit schwebt allen vor der Seele.
Der Verfasser dieser Zeilen hat in seinem „Lebens- und Bildungsgang" seine
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