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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung,

Forschens festgehalten wurden, daher anch alles Humane in ihr Bereich gezogen,
ja die Humanität selbst als das höchste Ziel und Gut alles menschlichen
Strebens aufgestellt worden. Nach dieser Auffassung gehörte alles in den Raum
der Geschichte, was der menschliche Geist in Kultur und Religion wie im
Staats- und Verkehrsleben hervorbrachte. Mit dem erhöhte" Gesichtspunkte war
somit auch eine Erweiterung der Grenzmarken verbunden. Die Geschichte trat
mehr und mehr in den Geisteswissenschaften an die Stelle, welche die Philosophie
Jahrzehnte lang eingenommen hatte, aber nicht länger gegenüber dein an¬
strömenden Realismus zu behaupten vermochte.

Nicht bloß der Gang der Bildung, auch der deutsche Charakter drängte in der
Geschichtschreibung zur Universalität. Daß ein kosmopolitischer Zug der deutschen
Natur imiewvhnt, kaun nicht geleugnet werden, man mag denselben loben oder
tadeln. Schon in der gewaltigen Zeit der Völkerkämpfe und Völkerbewegungen,
die man als Völkerwanderung bezeichnet, wurde der weltbürgerliche Haug in der
deutschen Natur entwickelt und genährt. Die Heidenzeit der Völkerwanderung
gestaltete sich zu dem geheimnisvollen, sagenreichen Grundstock, wo in unerforschter
Höhe die Lebensströme der germanischen Völkergeschichte ihren dunkeln Ursprung
nahmen, wo wie in einem mächtigen Alpengebirge einzelne souneubeleuchtete Häupter
glänzend emporragen und in ihren goldnen Spitzen den Ruhm und die Herr¬
lichkeit ganzer Volksstämme oder Gebirgszüge konzentriren. Der Zeitraum der
Völkerwanderung ist in der deutschen Geschichte das Alpengebirge, wo sich die
romanische und germanische Welt verbindet und scheidet, vermischt und abstößt,
und wo es oft schwer zu entscheiden ist, welchem Stamme die einzelnen glanz¬
umstrahlten Höhen angehören.

Es ist die letzte gemeinsame Heimat aller germanischen Völkerschaften, ehe
sie nach den verschiedensten Richtungen auseinander gingen und in den neuen
Wohnsitzen der alten Zusammengehörigkeit vergaßen, Ju den Heroengestalten
der Volksdichtung erhielt sich die letzte Erinnerung der ehemaligen Verwandt¬
schaft und nationalen Einheit. Die großartige Zeit der Bewegung und Um¬
gestaltung, die erst mit Karl dem Großen, dem Begründer des römischen
Kaisertums im Abendlande, ihren Abschluß fand, ist die Ruhmcshalle des
germanischen Volksstammes. Wir sehen in Gallien und Spanien, in der
Lombardei und Britannien deutsche Völkerschaften einziehen und nach siegreichem
Kampfe die fernen Landstriche in Besitz nehmen; und wenn auch die Aus¬
gewanderten mit jener der deutschen Nation eignen Sorglosigkeit und Bieg¬
samkeit die heimische Sprache und die vaterländischen Sitten und Erinnerungen
allmählich aufgaben und dem Fremden zum Opfer brachten, wie noch heutzutage
die deutschen Ansiedler in Nordamerika, so waren dennoch die Eroberer des
römischen Weltreiches unser eignes Fleisch und Blut, die erst im Laufe der
Jahrhunderte des gemeinsamen Ursprunges und der väterlichen Heimat gänzlich
vergaßen. Und wie die zurückgebliebnen Verwandten gewöhnlich das Bild der


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung,

Forschens festgehalten wurden, daher anch alles Humane in ihr Bereich gezogen,
ja die Humanität selbst als das höchste Ziel und Gut alles menschlichen
Strebens aufgestellt worden. Nach dieser Auffassung gehörte alles in den Raum
der Geschichte, was der menschliche Geist in Kultur und Religion wie im
Staats- und Verkehrsleben hervorbrachte. Mit dem erhöhte» Gesichtspunkte war
somit auch eine Erweiterung der Grenzmarken verbunden. Die Geschichte trat
mehr und mehr in den Geisteswissenschaften an die Stelle, welche die Philosophie
Jahrzehnte lang eingenommen hatte, aber nicht länger gegenüber dein an¬
strömenden Realismus zu behaupten vermochte.

Nicht bloß der Gang der Bildung, auch der deutsche Charakter drängte in der
Geschichtschreibung zur Universalität. Daß ein kosmopolitischer Zug der deutschen
Natur imiewvhnt, kaun nicht geleugnet werden, man mag denselben loben oder
tadeln. Schon in der gewaltigen Zeit der Völkerkämpfe und Völkerbewegungen,
die man als Völkerwanderung bezeichnet, wurde der weltbürgerliche Haug in der
deutschen Natur entwickelt und genährt. Die Heidenzeit der Völkerwanderung
gestaltete sich zu dem geheimnisvollen, sagenreichen Grundstock, wo in unerforschter
Höhe die Lebensströme der germanischen Völkergeschichte ihren dunkeln Ursprung
nahmen, wo wie in einem mächtigen Alpengebirge einzelne souneubeleuchtete Häupter
glänzend emporragen und in ihren goldnen Spitzen den Ruhm und die Herr¬
lichkeit ganzer Volksstämme oder Gebirgszüge konzentriren. Der Zeitraum der
Völkerwanderung ist in der deutschen Geschichte das Alpengebirge, wo sich die
romanische und germanische Welt verbindet und scheidet, vermischt und abstößt,
und wo es oft schwer zu entscheiden ist, welchem Stamme die einzelnen glanz¬
umstrahlten Höhen angehören.

Es ist die letzte gemeinsame Heimat aller germanischen Völkerschaften, ehe
sie nach den verschiedensten Richtungen auseinander gingen und in den neuen
Wohnsitzen der alten Zusammengehörigkeit vergaßen, Ju den Heroengestalten
der Volksdichtung erhielt sich die letzte Erinnerung der ehemaligen Verwandt¬
schaft und nationalen Einheit. Die großartige Zeit der Bewegung und Um¬
gestaltung, die erst mit Karl dem Großen, dem Begründer des römischen
Kaisertums im Abendlande, ihren Abschluß fand, ist die Ruhmcshalle des
germanischen Volksstammes. Wir sehen in Gallien und Spanien, in der
Lombardei und Britannien deutsche Völkerschaften einziehen und nach siegreichem
Kampfe die fernen Landstriche in Besitz nehmen; und wenn auch die Aus¬
gewanderten mit jener der deutschen Nation eignen Sorglosigkeit und Bieg¬
samkeit die heimische Sprache und die vaterländischen Sitten und Erinnerungen
allmählich aufgaben und dem Fremden zum Opfer brachten, wie noch heutzutage
die deutschen Ansiedler in Nordamerika, so waren dennoch die Eroberer des
römischen Weltreiches unser eignes Fleisch und Blut, die erst im Laufe der
Jahrhunderte des gemeinsamen Ursprunges und der väterlichen Heimat gänzlich
vergaßen. Und wie die zurückgebliebnen Verwandten gewöhnlich das Bild der


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[0308] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung, Forschens festgehalten wurden, daher anch alles Humane in ihr Bereich gezogen, ja die Humanität selbst als das höchste Ziel und Gut alles menschlichen Strebens aufgestellt worden. Nach dieser Auffassung gehörte alles in den Raum der Geschichte, was der menschliche Geist in Kultur und Religion wie im Staats- und Verkehrsleben hervorbrachte. Mit dem erhöhte» Gesichtspunkte war somit auch eine Erweiterung der Grenzmarken verbunden. Die Geschichte trat mehr und mehr in den Geisteswissenschaften an die Stelle, welche die Philosophie Jahrzehnte lang eingenommen hatte, aber nicht länger gegenüber dein an¬ strömenden Realismus zu behaupten vermochte. Nicht bloß der Gang der Bildung, auch der deutsche Charakter drängte in der Geschichtschreibung zur Universalität. Daß ein kosmopolitischer Zug der deutschen Natur imiewvhnt, kaun nicht geleugnet werden, man mag denselben loben oder tadeln. Schon in der gewaltigen Zeit der Völkerkämpfe und Völkerbewegungen, die man als Völkerwanderung bezeichnet, wurde der weltbürgerliche Haug in der deutschen Natur entwickelt und genährt. Die Heidenzeit der Völkerwanderung gestaltete sich zu dem geheimnisvollen, sagenreichen Grundstock, wo in unerforschter Höhe die Lebensströme der germanischen Völkergeschichte ihren dunkeln Ursprung nahmen, wo wie in einem mächtigen Alpengebirge einzelne souneubeleuchtete Häupter glänzend emporragen und in ihren goldnen Spitzen den Ruhm und die Herr¬ lichkeit ganzer Volksstämme oder Gebirgszüge konzentriren. Der Zeitraum der Völkerwanderung ist in der deutschen Geschichte das Alpengebirge, wo sich die romanische und germanische Welt verbindet und scheidet, vermischt und abstößt, und wo es oft schwer zu entscheiden ist, welchem Stamme die einzelnen glanz¬ umstrahlten Höhen angehören. Es ist die letzte gemeinsame Heimat aller germanischen Völkerschaften, ehe sie nach den verschiedensten Richtungen auseinander gingen und in den neuen Wohnsitzen der alten Zusammengehörigkeit vergaßen, Ju den Heroengestalten der Volksdichtung erhielt sich die letzte Erinnerung der ehemaligen Verwandt¬ schaft und nationalen Einheit. Die großartige Zeit der Bewegung und Um¬ gestaltung, die erst mit Karl dem Großen, dem Begründer des römischen Kaisertums im Abendlande, ihren Abschluß fand, ist die Ruhmcshalle des germanischen Volksstammes. Wir sehen in Gallien und Spanien, in der Lombardei und Britannien deutsche Völkerschaften einziehen und nach siegreichem Kampfe die fernen Landstriche in Besitz nehmen; und wenn auch die Aus¬ gewanderten mit jener der deutschen Nation eignen Sorglosigkeit und Bieg¬ samkeit die heimische Sprache und die vaterländischen Sitten und Erinnerungen allmählich aufgaben und dem Fremden zum Opfer brachten, wie noch heutzutage die deutschen Ansiedler in Nordamerika, so waren dennoch die Eroberer des römischen Weltreiches unser eignes Fleisch und Blut, die erst im Laufe der Jahrhunderte des gemeinsamen Ursprunges und der väterlichen Heimat gänzlich vergaßen. Und wie die zurückgebliebnen Verwandten gewöhnlich das Bild der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/308>, abgerufen am 05.02.2025.