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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Fragen beschäftigten zunächst die deutschen Denker und Schriftsteller, Lag doch
Deutschland dem Schauplätze der Revolution so nahe, das; die Bastillenschläge
auch auf der rechten Rheinseite sich fühlbar machten und nachzitterten, und war
doch die geistige Atmosphäre jener Tage so erregt und bewegt, daß man alle
Phänomene in der Natur wie in der Menschenwelt zu erkennen und zu begreisen
sich anstrengte. Diese Zeitrichtung hatte auch auf die Historiographie ihren
Einfluß, Spittler schrieb eine europäische Sittengeschichte vom Untergange des
römischen Reiches bis auf seine Zeit, in welcher die Entwicklung des ständischen
und repräsentativen Stacitswcscns den Mittelpunkt bildet; mir das römische
Reich deutscher Nation wollte er als eine vouluÄo ckiviuitus orclimrw nicht in
den Kreis seiner Betrachtung ziehen.

Der Ausgang des achtzehnten und der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
war die produktive Zeit, da alle Gebiete des geistigen Schaffens emsig angebaut
wurden, um zu neuen Forschnngsresnltaten zu gelangen. Man suchte die Gesetze
des Naturlebens z" ergründen; Herder strengte seinen Scharfsinn an, um in
der Geschichte der Menschheit ein höheres Prinzip zu entdecken; die romantische
Schule wendete ihre Blicke von der unerfreulichen Gegenwart ab nach den
Gebilden des Mittelalters; anfangs schien es, als sollte die Philosophie den
Sieg im Reiche der Wissenschaft davon tragen. Die Ergebnisse der wunderbaren
Geistesarbeit Kants gaben allem Wissen und Forschen Wege und Richtung.
Man strebte in der Naturforschung wie in der Geschichte über das Gegebene
und Empirische Hinalls zu dem Metaphhsischen und spekulativen. Auch die
Historiker lagen unter dem Banne der Philosophie, Man forschte weniger nach
dem, was geschehen war, wollte begreife", wie es geschehen sei, ja wie es habe
geschehen müssen, und wie das Zukünftige sich gestalten werde. Die Philosophie
der Geschichte ging mit der Naturphilosophie Hand in Hand, Die Wissenschaft
war auf dem Wege, sich ins Transeendentcile zu versteigen. Es soll nicht geleugnet
werden, daß durch diese Richtung nach dem Höhern und Übersinnlichen viel
Schönes und Erhabnes zutage gefördert ward; denn die Idealität veredelt alles
Irdische, in welches sie einströmt. Aber es war Gefahr vorhanden, daß man den
Boden unter den Füßen verlor. Man mußte wieder hinabsteigen auf die feste
Erde und den Realitäten des Lebens mehr Rechnung tragen. Die Geschicht¬
schreibung mußte wieder zu den drei Fuudameutalsätzeu zurückkehre", die wir
früher als die Vorbedingung jeder echten Historiographie bezeichnet haben:
kritische Erforschung des Materials, innere Aneignung und Verarbeitung der
Thatsachen und Zustünde und künstlerische Darstellung aus warmer Herzcnsfülle,

Zu diesen Grundbedingungen hat Johannes Müller den Weg gezeigt und
die ersten erfolgreichen Schritte gethan. Er vereinigte in sich die Eigenschaften
der drei Nationen, denen er durch Geburt oder Bildung angehörte. Mit der
rüstigen Arbeitskraft des Schweizers verband er den idealen Sinn des Deutschen
und das exakte Kunstgeftthl der Frauzosen, Nachdem er in der "Geschichte


Grenztwlt'n t. 1880, ;!8

Fragen beschäftigten zunächst die deutschen Denker und Schriftsteller, Lag doch
Deutschland dem Schauplätze der Revolution so nahe, das; die Bastillenschläge
auch auf der rechten Rheinseite sich fühlbar machten und nachzitterten, und war
doch die geistige Atmosphäre jener Tage so erregt und bewegt, daß man alle
Phänomene in der Natur wie in der Menschenwelt zu erkennen und zu begreisen
sich anstrengte. Diese Zeitrichtung hatte auch auf die Historiographie ihren
Einfluß, Spittler schrieb eine europäische Sittengeschichte vom Untergange des
römischen Reiches bis auf seine Zeit, in welcher die Entwicklung des ständischen
und repräsentativen Stacitswcscns den Mittelpunkt bildet; mir das römische
Reich deutscher Nation wollte er als eine vouluÄo ckiviuitus orclimrw nicht in
den Kreis seiner Betrachtung ziehen.

Der Ausgang des achtzehnten und der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
war die produktive Zeit, da alle Gebiete des geistigen Schaffens emsig angebaut
wurden, um zu neuen Forschnngsresnltaten zu gelangen. Man suchte die Gesetze
des Naturlebens z» ergründen; Herder strengte seinen Scharfsinn an, um in
der Geschichte der Menschheit ein höheres Prinzip zu entdecken; die romantische
Schule wendete ihre Blicke von der unerfreulichen Gegenwart ab nach den
Gebilden des Mittelalters; anfangs schien es, als sollte die Philosophie den
Sieg im Reiche der Wissenschaft davon tragen. Die Ergebnisse der wunderbaren
Geistesarbeit Kants gaben allem Wissen und Forschen Wege und Richtung.
Man strebte in der Naturforschung wie in der Geschichte über das Gegebene
und Empirische Hinalls zu dem Metaphhsischen und spekulativen. Auch die
Historiker lagen unter dem Banne der Philosophie, Man forschte weniger nach
dem, was geschehen war, wollte begreife», wie es geschehen sei, ja wie es habe
geschehen müssen, und wie das Zukünftige sich gestalten werde. Die Philosophie
der Geschichte ging mit der Naturphilosophie Hand in Hand, Die Wissenschaft
war auf dem Wege, sich ins Transeendentcile zu versteigen. Es soll nicht geleugnet
werden, daß durch diese Richtung nach dem Höhern und Übersinnlichen viel
Schönes und Erhabnes zutage gefördert ward; denn die Idealität veredelt alles
Irdische, in welches sie einströmt. Aber es war Gefahr vorhanden, daß man den
Boden unter den Füßen verlor. Man mußte wieder hinabsteigen auf die feste
Erde und den Realitäten des Lebens mehr Rechnung tragen. Die Geschicht¬
schreibung mußte wieder zu den drei Fuudameutalsätzeu zurückkehre», die wir
früher als die Vorbedingung jeder echten Historiographie bezeichnet haben:
kritische Erforschung des Materials, innere Aneignung und Verarbeitung der
Thatsachen und Zustünde und künstlerische Darstellung aus warmer Herzcnsfülle,

Zu diesen Grundbedingungen hat Johannes Müller den Weg gezeigt und
die ersten erfolgreichen Schritte gethan. Er vereinigte in sich die Eigenschaften
der drei Nationen, denen er durch Geburt oder Bildung angehörte. Mit der
rüstigen Arbeitskraft des Schweizers verband er den idealen Sinn des Deutschen
und das exakte Kunstgeftthl der Frauzosen, Nachdem er in der „Geschichte


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[0305] Fragen beschäftigten zunächst die deutschen Denker und Schriftsteller, Lag doch Deutschland dem Schauplätze der Revolution so nahe, das; die Bastillenschläge auch auf der rechten Rheinseite sich fühlbar machten und nachzitterten, und war doch die geistige Atmosphäre jener Tage so erregt und bewegt, daß man alle Phänomene in der Natur wie in der Menschenwelt zu erkennen und zu begreisen sich anstrengte. Diese Zeitrichtung hatte auch auf die Historiographie ihren Einfluß, Spittler schrieb eine europäische Sittengeschichte vom Untergange des römischen Reiches bis auf seine Zeit, in welcher die Entwicklung des ständischen und repräsentativen Stacitswcscns den Mittelpunkt bildet; mir das römische Reich deutscher Nation wollte er als eine vouluÄo ckiviuitus orclimrw nicht in den Kreis seiner Betrachtung ziehen. Der Ausgang des achtzehnten und der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war die produktive Zeit, da alle Gebiete des geistigen Schaffens emsig angebaut wurden, um zu neuen Forschnngsresnltaten zu gelangen. Man suchte die Gesetze des Naturlebens z» ergründen; Herder strengte seinen Scharfsinn an, um in der Geschichte der Menschheit ein höheres Prinzip zu entdecken; die romantische Schule wendete ihre Blicke von der unerfreulichen Gegenwart ab nach den Gebilden des Mittelalters; anfangs schien es, als sollte die Philosophie den Sieg im Reiche der Wissenschaft davon tragen. Die Ergebnisse der wunderbaren Geistesarbeit Kants gaben allem Wissen und Forschen Wege und Richtung. Man strebte in der Naturforschung wie in der Geschichte über das Gegebene und Empirische Hinalls zu dem Metaphhsischen und spekulativen. Auch die Historiker lagen unter dem Banne der Philosophie, Man forschte weniger nach dem, was geschehen war, wollte begreife», wie es geschehen sei, ja wie es habe geschehen müssen, und wie das Zukünftige sich gestalten werde. Die Philosophie der Geschichte ging mit der Naturphilosophie Hand in Hand, Die Wissenschaft war auf dem Wege, sich ins Transeendentcile zu versteigen. Es soll nicht geleugnet werden, daß durch diese Richtung nach dem Höhern und Übersinnlichen viel Schönes und Erhabnes zutage gefördert ward; denn die Idealität veredelt alles Irdische, in welches sie einströmt. Aber es war Gefahr vorhanden, daß man den Boden unter den Füßen verlor. Man mußte wieder hinabsteigen auf die feste Erde und den Realitäten des Lebens mehr Rechnung tragen. Die Geschicht¬ schreibung mußte wieder zu den drei Fuudameutalsätzeu zurückkehre», die wir früher als die Vorbedingung jeder echten Historiographie bezeichnet haben: kritische Erforschung des Materials, innere Aneignung und Verarbeitung der Thatsachen und Zustünde und künstlerische Darstellung aus warmer Herzcnsfülle, Zu diesen Grundbedingungen hat Johannes Müller den Weg gezeigt und die ersten erfolgreichen Schritte gethan. Er vereinigte in sich die Eigenschaften der drei Nationen, denen er durch Geburt oder Bildung angehörte. Mit der rüstigen Arbeitskraft des Schweizers verband er den idealen Sinn des Deutschen und das exakte Kunstgeftthl der Frauzosen, Nachdem er in der „Geschichte Grenztwlt'n t. 1880, ;!8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/305>, abgerufen am 05.02.2025.