Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

gelehrt und quellenmäßig, noch aus einem Guß gearbeitet ist, besitzt es doch
Harmonie und Schönheiten jeder Art. Die Zeitgenossen mochten Gefallen finden
an der rhetorischen Volksgeschichte, die in epischer Fülle und behaglicher Breite
die Großthaten der Vorfahren, das Wachstum und die Größe der Republik
bis zu ihrem Abschluß vor die Seele führte; aber daß von dem großen Werke
im Laufe der Zeit sich nur ein kleiner Teil auf die Nachwelt erhalten hat, kann
als Beweis gelten, daß es nicht auf der Höhe historischer Kunst stand, daß das
Interesse der nachgebornen Geschlechter für die oft mit poetischem Flitter und
dichterischen Redewendungen ausgeschmückte Volksgeschichte des Livius sich ver¬
minderte, je mehr die republikanische Gesinnung und Tugend selbst dahinschwand.
Nur wo das Pathos der eignen Begeisterung die schaffende Hand leitet, entsteht
ein echtes Kunstwerk in Wort und Bild; nnr was unmittelbar vom Herzen
kommt, geht auch unmittelbar zu Herzen.

Wie Polhbius das Wachstum des römischen Reiches zu einer Weltmacht
darstellt, so Tacitus die Entartung und den Verfall. Dadurch ist auch der
Charakter ihrer historischen Werke und ihrer subjektiven Haltung zu denselben
bestimmt. Wenn bei Polhbius über dem trüben Gemälde des Unterganges der
hellenische" Partikularwelt der Glanz eiuer aufstrebenden Univerjalmacht in das
Dunkel niederstrahlt, so sieht der Römer in der hinsinkenden Schöpfung früherer
Geschlechter nur ein weites Leichenfeld ohne Auferstehung.

Taeitus bezeichnet seine Geschichte des Prinzipals in der ältern Periode
als "Annalen," im Gegensatz zu den "Historien" oder der Zeitgeschichte. Aber
unter seiner Hand erhält der Begriff "Annalen" eine andre Bedeutung. Das
Taciteische Geschichtswerk ist nicht wie die ältern Aufzeichnungen nnter diesem
Namen eine farblose, objektive Zusammenstellung der Weltbegebenheiten nach der
Zeitfolge; in seinen "Annalen" weht ein scharfer Hauch subjektiver Auffassung, eine
tiefe Beteiligung der eignen Gcmütsaffekte bei dem Niederschreiben, ein Pshcho-
logischcs Eindringen in die innere Menschenbrust. Es giebt kaum einen andern
Geschichtschreiber, bei welchem die Schilderung von Menschen und Sachen, von
Vorgängen und Situationen so sehr das eigne Mitfühlen und Mitempfinden
des Autors verriete, als bei dem strengen Richter und Benrteiler einer Zeit, die
so weit von den republikanischen Tugenden und Sitte" der Altvordern abge¬
wichen war. Wenn dem Schöpfer eines Kunstwerkes ein Ideal vorschwebt, das
sich in dem Werke selbst wiederjpiegelt oder ahnen läßt, so ist Taeitus ein
Künstler ersten Ranges, weniger in der Form und Ausfiihruug als im Ausdruck
und in der Seelenstimmung, deren Wirkungen der Leser oder Beschauer heraus¬
fühlt. Wie der tragische Dichter die Vorgänge im Innern seiner Helden in
Monologen erkennen läßt, so bedient sich der römische Historiker feines Griffels
zu eiuer pshchologischen Anatomie. Taeitus beschreibt den Todeskampf des alten
Römcrgcistcs im Ringen mit dem immer weiter um sich greifenden Verderben;
er betrachtet seine Zeit mit tragischen Ernste lind elegischer Trauer und zeichnet


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

gelehrt und quellenmäßig, noch aus einem Guß gearbeitet ist, besitzt es doch
Harmonie und Schönheiten jeder Art. Die Zeitgenossen mochten Gefallen finden
an der rhetorischen Volksgeschichte, die in epischer Fülle und behaglicher Breite
die Großthaten der Vorfahren, das Wachstum und die Größe der Republik
bis zu ihrem Abschluß vor die Seele führte; aber daß von dem großen Werke
im Laufe der Zeit sich nur ein kleiner Teil auf die Nachwelt erhalten hat, kann
als Beweis gelten, daß es nicht auf der Höhe historischer Kunst stand, daß das
Interesse der nachgebornen Geschlechter für die oft mit poetischem Flitter und
dichterischen Redewendungen ausgeschmückte Volksgeschichte des Livius sich ver¬
minderte, je mehr die republikanische Gesinnung und Tugend selbst dahinschwand.
Nur wo das Pathos der eignen Begeisterung die schaffende Hand leitet, entsteht
ein echtes Kunstwerk in Wort und Bild; nnr was unmittelbar vom Herzen
kommt, geht auch unmittelbar zu Herzen.

Wie Polhbius das Wachstum des römischen Reiches zu einer Weltmacht
darstellt, so Tacitus die Entartung und den Verfall. Dadurch ist auch der
Charakter ihrer historischen Werke und ihrer subjektiven Haltung zu denselben
bestimmt. Wenn bei Polhbius über dem trüben Gemälde des Unterganges der
hellenische» Partikularwelt der Glanz eiuer aufstrebenden Univerjalmacht in das
Dunkel niederstrahlt, so sieht der Römer in der hinsinkenden Schöpfung früherer
Geschlechter nur ein weites Leichenfeld ohne Auferstehung.

Taeitus bezeichnet seine Geschichte des Prinzipals in der ältern Periode
als „Annalen," im Gegensatz zu den „Historien" oder der Zeitgeschichte. Aber
unter seiner Hand erhält der Begriff „Annalen" eine andre Bedeutung. Das
Taciteische Geschichtswerk ist nicht wie die ältern Aufzeichnungen nnter diesem
Namen eine farblose, objektive Zusammenstellung der Weltbegebenheiten nach der
Zeitfolge; in seinen „Annalen" weht ein scharfer Hauch subjektiver Auffassung, eine
tiefe Beteiligung der eignen Gcmütsaffekte bei dem Niederschreiben, ein Pshcho-
logischcs Eindringen in die innere Menschenbrust. Es giebt kaum einen andern
Geschichtschreiber, bei welchem die Schilderung von Menschen und Sachen, von
Vorgängen und Situationen so sehr das eigne Mitfühlen und Mitempfinden
des Autors verriete, als bei dem strengen Richter und Benrteiler einer Zeit, die
so weit von den republikanischen Tugenden und Sitte» der Altvordern abge¬
wichen war. Wenn dem Schöpfer eines Kunstwerkes ein Ideal vorschwebt, das
sich in dem Werke selbst wiederjpiegelt oder ahnen läßt, so ist Taeitus ein
Künstler ersten Ranges, weniger in der Form und Ausfiihruug als im Ausdruck
und in der Seelenstimmung, deren Wirkungen der Leser oder Beschauer heraus¬
fühlt. Wie der tragische Dichter die Vorgänge im Innern seiner Helden in
Monologen erkennen läßt, so bedient sich der römische Historiker feines Griffels
zu eiuer pshchologischen Anatomie. Taeitus beschreibt den Todeskampf des alten
Römcrgcistcs im Ringen mit dem immer weiter um sich greifenden Verderben;
er betrachtet seine Zeit mit tragischen Ernste lind elegischer Trauer und zeichnet


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197688"/>
            <fw type="header" place="top"> Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_785" prev="#ID_784"> gelehrt und quellenmäßig, noch aus einem Guß gearbeitet ist, besitzt es doch<lb/>
Harmonie und Schönheiten jeder Art. Die Zeitgenossen mochten Gefallen finden<lb/>
an der rhetorischen Volksgeschichte, die in epischer Fülle und behaglicher Breite<lb/>
die Großthaten der Vorfahren, das Wachstum und die Größe der Republik<lb/>
bis zu ihrem Abschluß vor die Seele führte; aber daß von dem großen Werke<lb/>
im Laufe der Zeit sich nur ein kleiner Teil auf die Nachwelt erhalten hat, kann<lb/>
als Beweis gelten, daß es nicht auf der Höhe historischer Kunst stand, daß das<lb/>
Interesse der nachgebornen Geschlechter für die oft mit poetischem Flitter und<lb/>
dichterischen Redewendungen ausgeschmückte Volksgeschichte des Livius sich ver¬<lb/>
minderte, je mehr die republikanische Gesinnung und Tugend selbst dahinschwand.<lb/>
Nur wo das Pathos der eignen Begeisterung die schaffende Hand leitet, entsteht<lb/>
ein echtes Kunstwerk in Wort und Bild; nnr was unmittelbar vom Herzen<lb/>
kommt, geht auch unmittelbar zu Herzen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_786"> Wie Polhbius das Wachstum des römischen Reiches zu einer Weltmacht<lb/>
darstellt, so Tacitus die Entartung und den Verfall. Dadurch ist auch der<lb/>
Charakter ihrer historischen Werke und ihrer subjektiven Haltung zu denselben<lb/>
bestimmt. Wenn bei Polhbius über dem trüben Gemälde des Unterganges der<lb/>
hellenische» Partikularwelt der Glanz eiuer aufstrebenden Univerjalmacht in das<lb/>
Dunkel niederstrahlt, so sieht der Römer in der hinsinkenden Schöpfung früherer<lb/>
Geschlechter nur ein weites Leichenfeld ohne Auferstehung.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_787" next="#ID_788"> Taeitus bezeichnet seine Geschichte des Prinzipals in der ältern Periode<lb/>
als &#x201E;Annalen," im Gegensatz zu den &#x201E;Historien" oder der Zeitgeschichte. Aber<lb/>
unter seiner Hand erhält der Begriff &#x201E;Annalen" eine andre Bedeutung. Das<lb/>
Taciteische Geschichtswerk ist nicht wie die ältern Aufzeichnungen nnter diesem<lb/>
Namen eine farblose, objektive Zusammenstellung der Weltbegebenheiten nach der<lb/>
Zeitfolge; in seinen &#x201E;Annalen" weht ein scharfer Hauch subjektiver Auffassung, eine<lb/>
tiefe Beteiligung der eignen Gcmütsaffekte bei dem Niederschreiben, ein Pshcho-<lb/>
logischcs Eindringen in die innere Menschenbrust. Es giebt kaum einen andern<lb/>
Geschichtschreiber, bei welchem die Schilderung von Menschen und Sachen, von<lb/>
Vorgängen und Situationen so sehr das eigne Mitfühlen und Mitempfinden<lb/>
des Autors verriete, als bei dem strengen Richter und Benrteiler einer Zeit, die<lb/>
so weit von den republikanischen Tugenden und Sitte» der Altvordern abge¬<lb/>
wichen war. Wenn dem Schöpfer eines Kunstwerkes ein Ideal vorschwebt, das<lb/>
sich in dem Werke selbst wiederjpiegelt oder ahnen läßt, so ist Taeitus ein<lb/>
Künstler ersten Ranges, weniger in der Form und Ausfiihruug als im Ausdruck<lb/>
und in der Seelenstimmung, deren Wirkungen der Leser oder Beschauer heraus¬<lb/>
fühlt. Wie der tragische Dichter die Vorgänge im Innern seiner Helden in<lb/>
Monologen erkennen läßt, so bedient sich der römische Historiker feines Griffels<lb/>
zu eiuer pshchologischen Anatomie. Taeitus beschreibt den Todeskampf des alten<lb/>
Römcrgcistcs im Ringen mit dem immer weiter um sich greifenden Verderben;<lb/>
er betrachtet seine Zeit mit tragischen Ernste lind elegischer Trauer und zeichnet</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. gelehrt und quellenmäßig, noch aus einem Guß gearbeitet ist, besitzt es doch Harmonie und Schönheiten jeder Art. Die Zeitgenossen mochten Gefallen finden an der rhetorischen Volksgeschichte, die in epischer Fülle und behaglicher Breite die Großthaten der Vorfahren, das Wachstum und die Größe der Republik bis zu ihrem Abschluß vor die Seele führte; aber daß von dem großen Werke im Laufe der Zeit sich nur ein kleiner Teil auf die Nachwelt erhalten hat, kann als Beweis gelten, daß es nicht auf der Höhe historischer Kunst stand, daß das Interesse der nachgebornen Geschlechter für die oft mit poetischem Flitter und dichterischen Redewendungen ausgeschmückte Volksgeschichte des Livius sich ver¬ minderte, je mehr die republikanische Gesinnung und Tugend selbst dahinschwand. Nur wo das Pathos der eignen Begeisterung die schaffende Hand leitet, entsteht ein echtes Kunstwerk in Wort und Bild; nnr was unmittelbar vom Herzen kommt, geht auch unmittelbar zu Herzen. Wie Polhbius das Wachstum des römischen Reiches zu einer Weltmacht darstellt, so Tacitus die Entartung und den Verfall. Dadurch ist auch der Charakter ihrer historischen Werke und ihrer subjektiven Haltung zu denselben bestimmt. Wenn bei Polhbius über dem trüben Gemälde des Unterganges der hellenische» Partikularwelt der Glanz eiuer aufstrebenden Univerjalmacht in das Dunkel niederstrahlt, so sieht der Römer in der hinsinkenden Schöpfung früherer Geschlechter nur ein weites Leichenfeld ohne Auferstehung. Taeitus bezeichnet seine Geschichte des Prinzipals in der ältern Periode als „Annalen," im Gegensatz zu den „Historien" oder der Zeitgeschichte. Aber unter seiner Hand erhält der Begriff „Annalen" eine andre Bedeutung. Das Taciteische Geschichtswerk ist nicht wie die ältern Aufzeichnungen nnter diesem Namen eine farblose, objektive Zusammenstellung der Weltbegebenheiten nach der Zeitfolge; in seinen „Annalen" weht ein scharfer Hauch subjektiver Auffassung, eine tiefe Beteiligung der eignen Gcmütsaffekte bei dem Niederschreiben, ein Pshcho- logischcs Eindringen in die innere Menschenbrust. Es giebt kaum einen andern Geschichtschreiber, bei welchem die Schilderung von Menschen und Sachen, von Vorgängen und Situationen so sehr das eigne Mitfühlen und Mitempfinden des Autors verriete, als bei dem strengen Richter und Benrteiler einer Zeit, die so weit von den republikanischen Tugenden und Sitte» der Altvordern abge¬ wichen war. Wenn dem Schöpfer eines Kunstwerkes ein Ideal vorschwebt, das sich in dem Werke selbst wiederjpiegelt oder ahnen läßt, so ist Taeitus ein Künstler ersten Ranges, weniger in der Form und Ausfiihruug als im Ausdruck und in der Seelenstimmung, deren Wirkungen der Leser oder Beschauer heraus¬ fühlt. Wie der tragische Dichter die Vorgänge im Innern seiner Helden in Monologen erkennen läßt, so bedient sich der römische Historiker feines Griffels zu eiuer pshchologischen Anatomie. Taeitus beschreibt den Todeskampf des alten Römcrgcistcs im Ringen mit dem immer weiter um sich greifenden Verderben; er betrachtet seine Zeit mit tragischen Ernste lind elegischer Trauer und zeichnet

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/264>, abgerufen am 05.02.2025.