Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung, Über Grab und Verhängnis noch die Seele reinigt und erhebt; vielmehr stellt Die Zeitgemälde des Sallnstius sind geniale Schöpfungen eines Welt- und Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung, Über Grab und Verhängnis noch die Seele reinigt und erhebt; vielmehr stellt Die Zeitgemälde des Sallnstius sind geniale Schöpfungen eines Welt- und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0263" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197687"/> <fw type="header" place="top"> Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung,</fw><lb/> <p xml:id="ID_783" prev="#ID_782"> Über Grab und Verhängnis noch die Seele reinigt und erhebt; vielmehr stellt<lb/> sie eine Welt dar voll Laster und Häßlichkeiten, in welcher dämonische Naturen<lb/> im Thun und Wagen die Grenzen der Menschheit, die Schranken der Gesell¬<lb/> schaft kühn überschreiten. Die darstellende Kunst des Sallust gleicht der modernen<lb/> Romantik, die ohne Scheu und Rücksicht alles, was die Natur im Leben her-<lb/> vorbingt oder zuläßt, auf ihren Tafeln zeigt, das Häßliche wie das Schöne,<lb/> das Erhabne wie das Niedrige,</p><lb/> <p xml:id="ID_784" next="#ID_785"> Die Zeitgemälde des Sallnstius sind geniale Schöpfungen eines Welt- und<lb/> menschenknndigeu Mannes, der mit instinktiver Spürkraft in die Tiefen und<lb/> Regungen der Menschenseele eindringt und anch den Irrgängen des Herzens<lb/> nicht fernsteht. Einen ganz verschiednen Eindruck macht die römische Geschichte<lb/> des Livius. Aus der Provinzstadt Patavium nach der Weltmetropole Rom<lb/> übergesiedelt, vielleicht in die Nähe des Augusteischen Kniserhofes gezogen, hat<lb/> er die Größe und Herrlichkeit, die ihn umgab, mit kindlich harmlosen Gemüte<lb/> in sich aufgenommen und auf sich einwirken lassen. Wie die Pariser an den<lb/> künstlerischen Erzeugnissen der Provinzialen leicht herausfühlen, daß sie nicht<lb/> den Duft und die Eleganz der hauptstädtischen Atmosphäre, nicht den seinen<lb/> Geschmack der ästhetischen Gesellschaft atmen, so scheint auch die „Patavinität,"<lb/> die das vornehme Rom an dem Historiker rügte, auf eine» solchen Mangel<lb/> aristokratischer Urbanität hinzudeuten. Über der Liviamschen Geschichte liegt ein<lb/> Hauch naiver Einfalt und Ursprünglichkeit, der noch nicht „von des Gedankens<lb/> Blässe angekränkelt," noch nicht durch die Reflexion und die Macht der<lb/> Nachahmung verwischt ist, Auch Livius ist ein Künstler; aber man merkt an<lb/> seinen Produktionen das Studium, die Überlegung, die mühsame Ausführung.<lb/> Das große Geschichtswerk läßt uns einen Autor erkennen, der mit hin¬<lb/> gebender Liebe bei dem Heldenmut und Heldensinn der Ahnen verweilt, durch<lb/> dessen Seele eine vaterländische Begeisterung zieht, welche mit gläubigem Herzen<lb/> den Legenden und Überlieferungen aus der Vergangenheit lauscht und sie treu¬<lb/> herzig nacherzählt: aber von den nvtmendigen Eigenschaften eines Historikers,<lb/> Kritik, Staats- und Menschenkenntnis, pragmatisches Urteil, wird man wenig<lb/> gewahr, und die rhetorische Ausmalung einzelner Szenen und Situationen ist<lb/> oft frostige Nachahmung fremder Lehren und Beispiele. Livius besitzt Sinn für<lb/> Poesie und Sage, Gewandtheit im Charakterzeichnen nud ein wohlwollendes,<lb/> freundliches, liebenswürdiges Gemüt, er hat ein offnes Herz für Menschengröße<lb/> und Meuschenschicksal, er zeigt für alles Sittliche in menschlichen Beweggründen<lb/> und Handlungen eine Sympathie, welche den wohlthuendsten Eindruck macht,<lb/> dagegen ist ihm der staatsmännische Gesichtspunkt eines Thulhdioes und Poly-<lb/> bius ganz fremd; ein Mann der Schule und des Studiums, nicht des Lebens,<lb/> hat er für das Staats- und Verfassungswesen, für die Entwicklung und Ge¬<lb/> staltung sozialer Verhältnisse und Standesvorrechte wenig Sinn und Interesse und<lb/> nur oberflächliche und unklare Kenntnisse davon. Aber obwohl sein Werk weder</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0263]
Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung,
Über Grab und Verhängnis noch die Seele reinigt und erhebt; vielmehr stellt
sie eine Welt dar voll Laster und Häßlichkeiten, in welcher dämonische Naturen
im Thun und Wagen die Grenzen der Menschheit, die Schranken der Gesell¬
schaft kühn überschreiten. Die darstellende Kunst des Sallust gleicht der modernen
Romantik, die ohne Scheu und Rücksicht alles, was die Natur im Leben her-
vorbingt oder zuläßt, auf ihren Tafeln zeigt, das Häßliche wie das Schöne,
das Erhabne wie das Niedrige,
Die Zeitgemälde des Sallnstius sind geniale Schöpfungen eines Welt- und
menschenknndigeu Mannes, der mit instinktiver Spürkraft in die Tiefen und
Regungen der Menschenseele eindringt und anch den Irrgängen des Herzens
nicht fernsteht. Einen ganz verschiednen Eindruck macht die römische Geschichte
des Livius. Aus der Provinzstadt Patavium nach der Weltmetropole Rom
übergesiedelt, vielleicht in die Nähe des Augusteischen Kniserhofes gezogen, hat
er die Größe und Herrlichkeit, die ihn umgab, mit kindlich harmlosen Gemüte
in sich aufgenommen und auf sich einwirken lassen. Wie die Pariser an den
künstlerischen Erzeugnissen der Provinzialen leicht herausfühlen, daß sie nicht
den Duft und die Eleganz der hauptstädtischen Atmosphäre, nicht den seinen
Geschmack der ästhetischen Gesellschaft atmen, so scheint auch die „Patavinität,"
die das vornehme Rom an dem Historiker rügte, auf eine» solchen Mangel
aristokratischer Urbanität hinzudeuten. Über der Liviamschen Geschichte liegt ein
Hauch naiver Einfalt und Ursprünglichkeit, der noch nicht „von des Gedankens
Blässe angekränkelt," noch nicht durch die Reflexion und die Macht der
Nachahmung verwischt ist, Auch Livius ist ein Künstler; aber man merkt an
seinen Produktionen das Studium, die Überlegung, die mühsame Ausführung.
Das große Geschichtswerk läßt uns einen Autor erkennen, der mit hin¬
gebender Liebe bei dem Heldenmut und Heldensinn der Ahnen verweilt, durch
dessen Seele eine vaterländische Begeisterung zieht, welche mit gläubigem Herzen
den Legenden und Überlieferungen aus der Vergangenheit lauscht und sie treu¬
herzig nacherzählt: aber von den nvtmendigen Eigenschaften eines Historikers,
Kritik, Staats- und Menschenkenntnis, pragmatisches Urteil, wird man wenig
gewahr, und die rhetorische Ausmalung einzelner Szenen und Situationen ist
oft frostige Nachahmung fremder Lehren und Beispiele. Livius besitzt Sinn für
Poesie und Sage, Gewandtheit im Charakterzeichnen nud ein wohlwollendes,
freundliches, liebenswürdiges Gemüt, er hat ein offnes Herz für Menschengröße
und Meuschenschicksal, er zeigt für alles Sittliche in menschlichen Beweggründen
und Handlungen eine Sympathie, welche den wohlthuendsten Eindruck macht,
dagegen ist ihm der staatsmännische Gesichtspunkt eines Thulhdioes und Poly-
bius ganz fremd; ein Mann der Schule und des Studiums, nicht des Lebens,
hat er für das Staats- und Verfassungswesen, für die Entwicklung und Ge¬
staltung sozialer Verhältnisse und Standesvorrechte wenig Sinn und Interesse und
nur oberflächliche und unklare Kenntnisse davon. Aber obwohl sein Werk weder
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