Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Geschichte seiner Zeit mit einleitenden Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit
aufzuzeichnen. Diese Aufzcichimngen bilden die "pragmatische Weltgeschichte"
der bedeutsamen Periode der punischen und der hellenisch-makedonischer Kriege,
ein Werk, wie das ganze Altertum kein zweites auszuweisen hat. Leider ist
dasselbe nur fragmentarisch auf die Nachwelt gekommen. Wie bei allen Exu¬
lanten, die von einem große" Schauplatze aus und unter den mächtigen Ein¬
drücken einer emporstrebende,, fremden Nation die öffentlichen Zustände der da-
hinflutenden Heimat beobachten, geht dnrch die Geschichtsbücher des Poly-
bius ein Zug wehmütiger Resignation. Mit fatalistischer Weltanschauung er¬
kennt er in Rom die überwältigende Macht, welche alle übrigen Staate" in
ihren Schoß aufzunehmen berufen ist. Jedes Ankämpfen gegen dieses Faktum
fuhrt mir zu Unheil und Verderben. Mit prophetischem Instinkt blickt er in
die Zukunft, da alle bekannten Volker und Erdteile nur Glieder des Weltreiches
bilden würden, das die starken und klugen Sohne des Mars und des Romulus
aufzurichten sich anschickten. Willige Unterwerfung uuter dieses unvermeidliche
Schicksal, unter diesen göttlichen Ratschluß gilt ihm als die höchste Staats-
weisheit. Jeder Widerstand wird schließlich niedergeschlagen und unbarmherzig
zermalmt.

Bei solcher Grundanschauung muß das künstlerische Gepräge zurücktreten
hinter der Erforschung und Erkenntnis der staatsbewegcnden, weltbeherrschenden
Kräfte. Jedes künstlerische Schaffen erzeugt ein Gefühl der Befriedigung und
des Wohlgefallens, auch wo es wie bei Thukhdides mit tragischen Pathos
einherschreitet. Wie sollte aber eine Weltbetrachtung, die nur Ruine" und eine
allgewaltige Schicksalsmacht in der Ferne blicken läßt, Wohlgefallen erzengen?
Das römische Reich durch die ihm innewohnende Kraft und Verstandesklugheit
in seinem ungehemmten Siegeslauf darzustellen und den Zweck und die Ber-
nüuftigkeit seiner Herrschaft nachzuweisen, ist die Aufgabe und das Ziel der
Geschichtschreibung des Polhbius. Für menschliche Größe, für charaktervolle
Persönlichkeiten, für ideale Kräfte und Impulse fehlt ihm der sittliche Maßstab.
Doch ist Polhbius kein Pessimist nach dem Grundsätze: Alles, was besteht, ist
wert, daß es zu Grunde geht. Er sieht ans den Ruinen neues Leben erblühen;
auf dem Boden seines Pandorngefäßes leuchtet noch das Licht der Hoffnung.
Die Weltherrschaft Roms erscheint ihm als eine Naturnotwendigkeit; die Mittel
und Ursachen, die dazu führen, die Aktionen und Reaktionen, die bei dem Prozesse
sich vollziehen, bilden den Inhalt seiner pragmatischen Geschichte, über welcher
die Tyche waltet. Mit dieser Resignation und Ergebung in die dunkle Schick¬
salsmacht, in das providentielle Verhängnis mag er sich getröstet haben, wenn
sein Herz blutete über den Untergang des achciischen Bundesstaates, des letzten
grünen Zweiges an dem einst so stolzen Lebensbaume des edeln Hellas.

Bei Polhbius kommen alle Hilfsmittel in Anwendung, welche die neuere
Historiographie als die notwendigen Requisite der Geschichtswissenschaft fordert:


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Geschichte seiner Zeit mit einleitenden Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit
aufzuzeichnen. Diese Aufzcichimngen bilden die „pragmatische Weltgeschichte"
der bedeutsamen Periode der punischen und der hellenisch-makedonischer Kriege,
ein Werk, wie das ganze Altertum kein zweites auszuweisen hat. Leider ist
dasselbe nur fragmentarisch auf die Nachwelt gekommen. Wie bei allen Exu¬
lanten, die von einem große» Schauplatze aus und unter den mächtigen Ein¬
drücken einer emporstrebende,, fremden Nation die öffentlichen Zustände der da-
hinflutenden Heimat beobachten, geht dnrch die Geschichtsbücher des Poly-
bius ein Zug wehmütiger Resignation. Mit fatalistischer Weltanschauung er¬
kennt er in Rom die überwältigende Macht, welche alle übrigen Staate« in
ihren Schoß aufzunehmen berufen ist. Jedes Ankämpfen gegen dieses Faktum
fuhrt mir zu Unheil und Verderben. Mit prophetischem Instinkt blickt er in
die Zukunft, da alle bekannten Volker und Erdteile nur Glieder des Weltreiches
bilden würden, das die starken und klugen Sohne des Mars und des Romulus
aufzurichten sich anschickten. Willige Unterwerfung uuter dieses unvermeidliche
Schicksal, unter diesen göttlichen Ratschluß gilt ihm als die höchste Staats-
weisheit. Jeder Widerstand wird schließlich niedergeschlagen und unbarmherzig
zermalmt.

Bei solcher Grundanschauung muß das künstlerische Gepräge zurücktreten
hinter der Erforschung und Erkenntnis der staatsbewegcnden, weltbeherrschenden
Kräfte. Jedes künstlerische Schaffen erzeugt ein Gefühl der Befriedigung und
des Wohlgefallens, auch wo es wie bei Thukhdides mit tragischen Pathos
einherschreitet. Wie sollte aber eine Weltbetrachtung, die nur Ruine» und eine
allgewaltige Schicksalsmacht in der Ferne blicken läßt, Wohlgefallen erzengen?
Das römische Reich durch die ihm innewohnende Kraft und Verstandesklugheit
in seinem ungehemmten Siegeslauf darzustellen und den Zweck und die Ber-
nüuftigkeit seiner Herrschaft nachzuweisen, ist die Aufgabe und das Ziel der
Geschichtschreibung des Polhbius. Für menschliche Größe, für charaktervolle
Persönlichkeiten, für ideale Kräfte und Impulse fehlt ihm der sittliche Maßstab.
Doch ist Polhbius kein Pessimist nach dem Grundsätze: Alles, was besteht, ist
wert, daß es zu Grunde geht. Er sieht ans den Ruinen neues Leben erblühen;
auf dem Boden seines Pandorngefäßes leuchtet noch das Licht der Hoffnung.
Die Weltherrschaft Roms erscheint ihm als eine Naturnotwendigkeit; die Mittel
und Ursachen, die dazu führen, die Aktionen und Reaktionen, die bei dem Prozesse
sich vollziehen, bilden den Inhalt seiner pragmatischen Geschichte, über welcher
die Tyche waltet. Mit dieser Resignation und Ergebung in die dunkle Schick¬
salsmacht, in das providentielle Verhängnis mag er sich getröstet haben, wenn
sein Herz blutete über den Untergang des achciischen Bundesstaates, des letzten
grünen Zweiges an dem einst so stolzen Lebensbaume des edeln Hellas.

Bei Polhbius kommen alle Hilfsmittel in Anwendung, welche die neuere
Historiographie als die notwendigen Requisite der Geschichtswissenschaft fordert:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197685"/>
            <fw type="header" place="top"> Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_778" prev="#ID_777"> Geschichte seiner Zeit mit einleitenden Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit<lb/>
aufzuzeichnen. Diese Aufzcichimngen bilden die &#x201E;pragmatische Weltgeschichte"<lb/>
der bedeutsamen Periode der punischen und der hellenisch-makedonischer Kriege,<lb/>
ein Werk, wie das ganze Altertum kein zweites auszuweisen hat. Leider ist<lb/>
dasselbe nur fragmentarisch auf die Nachwelt gekommen. Wie bei allen Exu¬<lb/>
lanten, die von einem große» Schauplatze aus und unter den mächtigen Ein¬<lb/>
drücken einer emporstrebende,, fremden Nation die öffentlichen Zustände der da-<lb/>
hinflutenden Heimat beobachten, geht dnrch die Geschichtsbücher des Poly-<lb/>
bius ein Zug wehmütiger Resignation. Mit fatalistischer Weltanschauung er¬<lb/>
kennt er in Rom die überwältigende Macht, welche alle übrigen Staate« in<lb/>
ihren Schoß aufzunehmen berufen ist. Jedes Ankämpfen gegen dieses Faktum<lb/>
fuhrt mir zu Unheil und Verderben. Mit prophetischem Instinkt blickt er in<lb/>
die Zukunft, da alle bekannten Volker und Erdteile nur Glieder des Weltreiches<lb/>
bilden würden, das die starken und klugen Sohne des Mars und des Romulus<lb/>
aufzurichten sich anschickten. Willige Unterwerfung uuter dieses unvermeidliche<lb/>
Schicksal, unter diesen göttlichen Ratschluß gilt ihm als die höchste Staats-<lb/>
weisheit. Jeder Widerstand wird schließlich niedergeschlagen und unbarmherzig<lb/>
zermalmt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_779"> Bei solcher Grundanschauung muß das künstlerische Gepräge zurücktreten<lb/>
hinter der Erforschung und Erkenntnis der staatsbewegcnden, weltbeherrschenden<lb/>
Kräfte. Jedes künstlerische Schaffen erzeugt ein Gefühl der Befriedigung und<lb/>
des Wohlgefallens, auch wo es wie bei Thukhdides mit tragischen Pathos<lb/>
einherschreitet. Wie sollte aber eine Weltbetrachtung, die nur Ruine» und eine<lb/>
allgewaltige Schicksalsmacht in der Ferne blicken läßt, Wohlgefallen erzengen?<lb/>
Das römische Reich durch die ihm innewohnende Kraft und Verstandesklugheit<lb/>
in seinem ungehemmten Siegeslauf darzustellen und den Zweck und die Ber-<lb/>
nüuftigkeit seiner Herrschaft nachzuweisen, ist die Aufgabe und das Ziel der<lb/>
Geschichtschreibung des Polhbius. Für menschliche Größe, für charaktervolle<lb/>
Persönlichkeiten, für ideale Kräfte und Impulse fehlt ihm der sittliche Maßstab.<lb/>
Doch ist Polhbius kein Pessimist nach dem Grundsätze: Alles, was besteht, ist<lb/>
wert, daß es zu Grunde geht. Er sieht ans den Ruinen neues Leben erblühen;<lb/>
auf dem Boden seines Pandorngefäßes leuchtet noch das Licht der Hoffnung.<lb/>
Die Weltherrschaft Roms erscheint ihm als eine Naturnotwendigkeit; die Mittel<lb/>
und Ursachen, die dazu führen, die Aktionen und Reaktionen, die bei dem Prozesse<lb/>
sich vollziehen, bilden den Inhalt seiner pragmatischen Geschichte, über welcher<lb/>
die Tyche waltet. Mit dieser Resignation und Ergebung in die dunkle Schick¬<lb/>
salsmacht, in das providentielle Verhängnis mag er sich getröstet haben, wenn<lb/>
sein Herz blutete über den Untergang des achciischen Bundesstaates, des letzten<lb/>
grünen Zweiges an dem einst so stolzen Lebensbaume des edeln Hellas.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_780" next="#ID_781"> Bei Polhbius kommen alle Hilfsmittel in Anwendung, welche die neuere<lb/>
Historiographie als die notwendigen Requisite der Geschichtswissenschaft fordert:</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0261] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. Geschichte seiner Zeit mit einleitenden Rückblicken auf die jüngste Vergangenheit aufzuzeichnen. Diese Aufzcichimngen bilden die „pragmatische Weltgeschichte" der bedeutsamen Periode der punischen und der hellenisch-makedonischer Kriege, ein Werk, wie das ganze Altertum kein zweites auszuweisen hat. Leider ist dasselbe nur fragmentarisch auf die Nachwelt gekommen. Wie bei allen Exu¬ lanten, die von einem große» Schauplatze aus und unter den mächtigen Ein¬ drücken einer emporstrebende,, fremden Nation die öffentlichen Zustände der da- hinflutenden Heimat beobachten, geht dnrch die Geschichtsbücher des Poly- bius ein Zug wehmütiger Resignation. Mit fatalistischer Weltanschauung er¬ kennt er in Rom die überwältigende Macht, welche alle übrigen Staate« in ihren Schoß aufzunehmen berufen ist. Jedes Ankämpfen gegen dieses Faktum fuhrt mir zu Unheil und Verderben. Mit prophetischem Instinkt blickt er in die Zukunft, da alle bekannten Volker und Erdteile nur Glieder des Weltreiches bilden würden, das die starken und klugen Sohne des Mars und des Romulus aufzurichten sich anschickten. Willige Unterwerfung uuter dieses unvermeidliche Schicksal, unter diesen göttlichen Ratschluß gilt ihm als die höchste Staats- weisheit. Jeder Widerstand wird schließlich niedergeschlagen und unbarmherzig zermalmt. Bei solcher Grundanschauung muß das künstlerische Gepräge zurücktreten hinter der Erforschung und Erkenntnis der staatsbewegcnden, weltbeherrschenden Kräfte. Jedes künstlerische Schaffen erzeugt ein Gefühl der Befriedigung und des Wohlgefallens, auch wo es wie bei Thukhdides mit tragischen Pathos einherschreitet. Wie sollte aber eine Weltbetrachtung, die nur Ruine» und eine allgewaltige Schicksalsmacht in der Ferne blicken läßt, Wohlgefallen erzengen? Das römische Reich durch die ihm innewohnende Kraft und Verstandesklugheit in seinem ungehemmten Siegeslauf darzustellen und den Zweck und die Ber- nüuftigkeit seiner Herrschaft nachzuweisen, ist die Aufgabe und das Ziel der Geschichtschreibung des Polhbius. Für menschliche Größe, für charaktervolle Persönlichkeiten, für ideale Kräfte und Impulse fehlt ihm der sittliche Maßstab. Doch ist Polhbius kein Pessimist nach dem Grundsätze: Alles, was besteht, ist wert, daß es zu Grunde geht. Er sieht ans den Ruinen neues Leben erblühen; auf dem Boden seines Pandorngefäßes leuchtet noch das Licht der Hoffnung. Die Weltherrschaft Roms erscheint ihm als eine Naturnotwendigkeit; die Mittel und Ursachen, die dazu führen, die Aktionen und Reaktionen, die bei dem Prozesse sich vollziehen, bilden den Inhalt seiner pragmatischen Geschichte, über welcher die Tyche waltet. Mit dieser Resignation und Ergebung in die dunkle Schick¬ salsmacht, in das providentielle Verhängnis mag er sich getröstet haben, wenn sein Herz blutete über den Untergang des achciischen Bundesstaates, des letzten grünen Zweiges an dem einst so stolzen Lebensbaume des edeln Hellas. Bei Polhbius kommen alle Hilfsmittel in Anwendung, welche die neuere Historiographie als die notwendigen Requisite der Geschichtswissenschaft fordert:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/261
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/261>, abgerufen am 05.02.2025.