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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Sokrates, den nachgebornen als der echte künstlerische Historiker als, die "attische
Biene," aus dessen Munde die Musen Worte süß wie Honig ausströmen lassen.
Auf die "Anabasis" bezogen ist dieses Lob durchaus zutreffend: nie ist eine
denkwürdige geschichtliche Begebenheit, bei welcher Darsteller nud Mithandelnder
in einer Person vereinigt waren, mit mehr Leben und Anmut beschrieben worden
als der Rückzug der "Zehntausend." Dagegen verdient die "Kyropädic," die,
Wahrheit und Dichtung enthaltend, auf dem schwankenden Boden eines Tendenz¬
romanes sich bewegt, kaum den Namen einer Geschichte, und die "Hellenika"
tragen das Gepräge subjektiver Parteilichkeit an sich. Die Sympathien, welche
Tenophon in der Kyrvpädie für die monarchische Staatsform Persiens, in den
"Hellenischen Geschichten" für das oligarchische Staatswesen Spartas kundgiebt,
haben ihm in alter und neuer Zeit den Vorwurf eines entarteten Sohnes seiner
attischen Heimat und eines ungerechten Gegners der athenischen Demokratie zu¬
gezogen. Was man aber von jeher an der Tenophvntischen Geschichtschreibung
bewunderte, war außer der Anmut und Lieblichkeit der Sprache und des Stils,
außer der graziösen Natürlichkeit, Einfalt und künstlerischen Vollendung der
Form und Einkleidung insbesondre die Geschicklichkeit in Charakterschilderungen,
das Zusammenfassen zerstreuter Beobachtungen zu einem Gesamtbilde. Von
dieser Seite betrachtet, ist die Xenvphvntische Geschichtschreibung mehr ein Werk
der Kunst als der wissenschaftlichen Forschung. Ist Thukhdides ausgezeichnet
durch sein Hinstreben zum Erhabne", so ist das innerste Wesen des Zceno-
phontifchen Geistes eine durchgängige Harmonie, jenes richtige Maß, das sich
sowohl in der äußern Lebensweise als in der Anwendung der Geistes- und
Willenskraft kundgiebt und leibliche und geistige Gesundheit bewirkt. Aber diese
Eigenschaften führen nicht zu der Höhe, wo der Genius weilt. Wie anmutig
und graziös auch immer dem flüchtigen Beschauer ein solches Kunstwerk er¬
scheinen mag, dem tiefer denkenden wird eine gewisse Nüchternheit nicht ent¬
gehen. Über der Persönlichkeit des Einzelnen erhebt es sich nicht zu der idealen
Auffassung.

In allen spekulativen und künstlerischen Geistesthätigkeiten waren die Römer
die Schüler der Griechen; nur in den Dingen, die sich auf Staat und öffent¬
liches Leben beziehen, suchten sie ihre eignen Wege. Zu diesen mehr praktischen
als idealen Schöpfungen darf auch die Geschichtschreibung gerechnet werden,
indem sie die Thäte" und Schicksale der rasch hinfließenden Gegenwart dem
Gedächtnis der kommenden Geschlechter zu erhalten sucht. So entstand die
niedrigste Gattung der Historiographie, die der Annalen. Und mit dieser Gattung
beginnt auch bekanntlich die römische Geschichtschreibung. Sobald aber die ge¬
schichtlichen Aufzeichnungen an das Gebiet der Kunst streiften, mußten die
Römer zu griechischen Händen oder Vorbildern greifen. Die Seipionen er¬
kannten dies frühzeitig, und auf ihre Anregung und uuter ihrem Einflüsse unter¬
nahm es der in Rom als Geisel lebende peloponnesische Heitere Polhbius, die


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Sokrates, den nachgebornen als der echte künstlerische Historiker als, die „attische
Biene," aus dessen Munde die Musen Worte süß wie Honig ausströmen lassen.
Auf die „Anabasis" bezogen ist dieses Lob durchaus zutreffend: nie ist eine
denkwürdige geschichtliche Begebenheit, bei welcher Darsteller nud Mithandelnder
in einer Person vereinigt waren, mit mehr Leben und Anmut beschrieben worden
als der Rückzug der „Zehntausend." Dagegen verdient die „Kyropädic," die,
Wahrheit und Dichtung enthaltend, auf dem schwankenden Boden eines Tendenz¬
romanes sich bewegt, kaum den Namen einer Geschichte, und die „Hellenika"
tragen das Gepräge subjektiver Parteilichkeit an sich. Die Sympathien, welche
Tenophon in der Kyrvpädie für die monarchische Staatsform Persiens, in den
„Hellenischen Geschichten" für das oligarchische Staatswesen Spartas kundgiebt,
haben ihm in alter und neuer Zeit den Vorwurf eines entarteten Sohnes seiner
attischen Heimat und eines ungerechten Gegners der athenischen Demokratie zu¬
gezogen. Was man aber von jeher an der Tenophvntischen Geschichtschreibung
bewunderte, war außer der Anmut und Lieblichkeit der Sprache und des Stils,
außer der graziösen Natürlichkeit, Einfalt und künstlerischen Vollendung der
Form und Einkleidung insbesondre die Geschicklichkeit in Charakterschilderungen,
das Zusammenfassen zerstreuter Beobachtungen zu einem Gesamtbilde. Von
dieser Seite betrachtet, ist die Xenvphvntische Geschichtschreibung mehr ein Werk
der Kunst als der wissenschaftlichen Forschung. Ist Thukhdides ausgezeichnet
durch sein Hinstreben zum Erhabne», so ist das innerste Wesen des Zceno-
phontifchen Geistes eine durchgängige Harmonie, jenes richtige Maß, das sich
sowohl in der äußern Lebensweise als in der Anwendung der Geistes- und
Willenskraft kundgiebt und leibliche und geistige Gesundheit bewirkt. Aber diese
Eigenschaften führen nicht zu der Höhe, wo der Genius weilt. Wie anmutig
und graziös auch immer dem flüchtigen Beschauer ein solches Kunstwerk er¬
scheinen mag, dem tiefer denkenden wird eine gewisse Nüchternheit nicht ent¬
gehen. Über der Persönlichkeit des Einzelnen erhebt es sich nicht zu der idealen
Auffassung.

In allen spekulativen und künstlerischen Geistesthätigkeiten waren die Römer
die Schüler der Griechen; nur in den Dingen, die sich auf Staat und öffent¬
liches Leben beziehen, suchten sie ihre eignen Wege. Zu diesen mehr praktischen
als idealen Schöpfungen darf auch die Geschichtschreibung gerechnet werden,
indem sie die Thäte» und Schicksale der rasch hinfließenden Gegenwart dem
Gedächtnis der kommenden Geschlechter zu erhalten sucht. So entstand die
niedrigste Gattung der Historiographie, die der Annalen. Und mit dieser Gattung
beginnt auch bekanntlich die römische Geschichtschreibung. Sobald aber die ge¬
schichtlichen Aufzeichnungen an das Gebiet der Kunst streiften, mußten die
Römer zu griechischen Händen oder Vorbildern greifen. Die Seipionen er¬
kannten dies frühzeitig, und auf ihre Anregung und uuter ihrem Einflüsse unter¬
nahm es der in Rom als Geisel lebende peloponnesische Heitere Polhbius, die


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[0260] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. Sokrates, den nachgebornen als der echte künstlerische Historiker als, die „attische Biene," aus dessen Munde die Musen Worte süß wie Honig ausströmen lassen. Auf die „Anabasis" bezogen ist dieses Lob durchaus zutreffend: nie ist eine denkwürdige geschichtliche Begebenheit, bei welcher Darsteller nud Mithandelnder in einer Person vereinigt waren, mit mehr Leben und Anmut beschrieben worden als der Rückzug der „Zehntausend." Dagegen verdient die „Kyropädic," die, Wahrheit und Dichtung enthaltend, auf dem schwankenden Boden eines Tendenz¬ romanes sich bewegt, kaum den Namen einer Geschichte, und die „Hellenika" tragen das Gepräge subjektiver Parteilichkeit an sich. Die Sympathien, welche Tenophon in der Kyrvpädie für die monarchische Staatsform Persiens, in den „Hellenischen Geschichten" für das oligarchische Staatswesen Spartas kundgiebt, haben ihm in alter und neuer Zeit den Vorwurf eines entarteten Sohnes seiner attischen Heimat und eines ungerechten Gegners der athenischen Demokratie zu¬ gezogen. Was man aber von jeher an der Tenophvntischen Geschichtschreibung bewunderte, war außer der Anmut und Lieblichkeit der Sprache und des Stils, außer der graziösen Natürlichkeit, Einfalt und künstlerischen Vollendung der Form und Einkleidung insbesondre die Geschicklichkeit in Charakterschilderungen, das Zusammenfassen zerstreuter Beobachtungen zu einem Gesamtbilde. Von dieser Seite betrachtet, ist die Xenvphvntische Geschichtschreibung mehr ein Werk der Kunst als der wissenschaftlichen Forschung. Ist Thukhdides ausgezeichnet durch sein Hinstreben zum Erhabne», so ist das innerste Wesen des Zceno- phontifchen Geistes eine durchgängige Harmonie, jenes richtige Maß, das sich sowohl in der äußern Lebensweise als in der Anwendung der Geistes- und Willenskraft kundgiebt und leibliche und geistige Gesundheit bewirkt. Aber diese Eigenschaften führen nicht zu der Höhe, wo der Genius weilt. Wie anmutig und graziös auch immer dem flüchtigen Beschauer ein solches Kunstwerk er¬ scheinen mag, dem tiefer denkenden wird eine gewisse Nüchternheit nicht ent¬ gehen. Über der Persönlichkeit des Einzelnen erhebt es sich nicht zu der idealen Auffassung. In allen spekulativen und künstlerischen Geistesthätigkeiten waren die Römer die Schüler der Griechen; nur in den Dingen, die sich auf Staat und öffent¬ liches Leben beziehen, suchten sie ihre eignen Wege. Zu diesen mehr praktischen als idealen Schöpfungen darf auch die Geschichtschreibung gerechnet werden, indem sie die Thäte» und Schicksale der rasch hinfließenden Gegenwart dem Gedächtnis der kommenden Geschlechter zu erhalten sucht. So entstand die niedrigste Gattung der Historiographie, die der Annalen. Und mit dieser Gattung beginnt auch bekanntlich die römische Geschichtschreibung. Sobald aber die ge¬ schichtlichen Aufzeichnungen an das Gebiet der Kunst streiften, mußten die Römer zu griechischen Händen oder Vorbildern greifen. Die Seipionen er¬ kannten dies frühzeitig, und auf ihre Anregung und uuter ihrem Einflüsse unter¬ nahm es der in Rom als Geisel lebende peloponnesische Heitere Polhbius, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/260>, abgerufen am 05.02.2025.