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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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peloponnesischen Krieges von Thukydides mit seiner gedrungenen, sinnschweren
Sprache, seiner Gedankenfülle und seinem mühsam ringenden Stile, Thukydides
schildert ein Zeitalter und ein Menschengeschlecht, wo zwei große hellenische
Staaten um die Vorherrschaft kämpfen, mit menschlichen Mitteln und mensch¬
lichen Leidenschaften, Das gewaltige Drama, das sich vor den Augen des
Lesers entrollt, vollzieht sich nach einem natürlichen Pragmatismus und Kau¬
salitätsgesetze ohne die Mitwirkung höherer Mächte, Der vieljährige Vnrger-
nnd Nationalkrieg ist ein geschichtliches Gemälde voll tragischen Pathos, in
welchem alles anmutige Bei- und Nebenwerk verschwindet, in welchem jedem
Volke und Staate seine Rolle knapp und straff vorgezeichnet ist. Das historische
Motiv liegt nach ihm in der moralischen Beschaffenheit der Menschennatur; die
Begebenheiten und Katastrophen haben ihren Urgrund in der Tiefe der Menschen-
brust, in dem Labyrinthe der Affekte und Leidenschaften, in den politischen
Zwecken der Staatslenker und Parteien. Wie sehr auch Form und Sprache
noch die ungeübte Hand eines Meisters verraten, dem es schwer fällt, die ge¬
nialen Gedanken und innern Anschauungen stilistisch zu gestalten, so ist dennoch
das Thnkydideischc Geschichtswerk ein Kunstwerk ersten Ranges. Die tief¬
durchdachten, staatsmännischen Reden, die Beschreibungen der Situationen, die
Charakteristik der Handelnden sind das Gefüge einer künstlerischen Schöpfung,
die durch ihr ernstes Pathos wie eine erschütternde Tragödie wirkt. Unter
den Eindrücken der gewaltigen Schicksalsschläge, von denen die hellenische Welt
und vor allem seine Vaterstadt Athen betroffen ward, wird in dem Autor wie
in dem Leser eine Resignation erzeugt, die in der Seele eine moralische Rei¬
nigung, die tragische "Katharsis" hervorruft. Thukydides galt zu allen Zeiten
als das Vorbild eines echten Geschichtschreibers, weil er die Geschichte seiner
Zeit mit Wahrhcitssinn und objektiver Unparteilichkeit dargestellt, dnrch die
Darstellung Wohlgefallen und ästhetisches Gefühl erweckt und zugleich unbewußt
einen didaktischen Zweck verfolgt hat. Der Ausspruch Lessings, daß nur derjenige
den Namen eines wahren Historikers verdiene, der die Geschichte seiner Zeit
beschreibe, ging ohne Zweifel aus der Bewunderung des Thukydides hervor.

Wie bei allen großen Gcistesprodnktcn, den alttestamentlichen Schriften,
den Dichtungen eines Homer und Shakespeare, weiß man auch von dem Ver¬
fasser des Thukydideischen Geschichtswerkes so gut wie nichts von seinem Leben
und seiner Persönlichkeit. Solche geniale Schöpfungen wirken wie Natur-
erzeugnisse, die man bewundert und genießt, deren Schöpfer und deren Werden
sich aber unsrer Erkenntnis entzieht.

Wenn sich bei Thukydides wie bei Äschylvs der künstlerische Genius mehr
in dem tiefernsten, tragischen Inhalt als in der Form und Darstellung kund-
giebt, so liegt bei seinem Fortsetzer Xenophon der Hauptwert in der leichten,
lieblichen Sprache und in der Anmut der Erzählung. Wie Euripides der be¬
wunderte Lieblingsdichter seiner Zeit war, so galt Xenophon, der Schüler des


peloponnesischen Krieges von Thukydides mit seiner gedrungenen, sinnschweren
Sprache, seiner Gedankenfülle und seinem mühsam ringenden Stile, Thukydides
schildert ein Zeitalter und ein Menschengeschlecht, wo zwei große hellenische
Staaten um die Vorherrschaft kämpfen, mit menschlichen Mitteln und mensch¬
lichen Leidenschaften, Das gewaltige Drama, das sich vor den Augen des
Lesers entrollt, vollzieht sich nach einem natürlichen Pragmatismus und Kau¬
salitätsgesetze ohne die Mitwirkung höherer Mächte, Der vieljährige Vnrger-
nnd Nationalkrieg ist ein geschichtliches Gemälde voll tragischen Pathos, in
welchem alles anmutige Bei- und Nebenwerk verschwindet, in welchem jedem
Volke und Staate seine Rolle knapp und straff vorgezeichnet ist. Das historische
Motiv liegt nach ihm in der moralischen Beschaffenheit der Menschennatur; die
Begebenheiten und Katastrophen haben ihren Urgrund in der Tiefe der Menschen-
brust, in dem Labyrinthe der Affekte und Leidenschaften, in den politischen
Zwecken der Staatslenker und Parteien. Wie sehr auch Form und Sprache
noch die ungeübte Hand eines Meisters verraten, dem es schwer fällt, die ge¬
nialen Gedanken und innern Anschauungen stilistisch zu gestalten, so ist dennoch
das Thnkydideischc Geschichtswerk ein Kunstwerk ersten Ranges. Die tief¬
durchdachten, staatsmännischen Reden, die Beschreibungen der Situationen, die
Charakteristik der Handelnden sind das Gefüge einer künstlerischen Schöpfung,
die durch ihr ernstes Pathos wie eine erschütternde Tragödie wirkt. Unter
den Eindrücken der gewaltigen Schicksalsschläge, von denen die hellenische Welt
und vor allem seine Vaterstadt Athen betroffen ward, wird in dem Autor wie
in dem Leser eine Resignation erzeugt, die in der Seele eine moralische Rei¬
nigung, die tragische „Katharsis" hervorruft. Thukydides galt zu allen Zeiten
als das Vorbild eines echten Geschichtschreibers, weil er die Geschichte seiner
Zeit mit Wahrhcitssinn und objektiver Unparteilichkeit dargestellt, dnrch die
Darstellung Wohlgefallen und ästhetisches Gefühl erweckt und zugleich unbewußt
einen didaktischen Zweck verfolgt hat. Der Ausspruch Lessings, daß nur derjenige
den Namen eines wahren Historikers verdiene, der die Geschichte seiner Zeit
beschreibe, ging ohne Zweifel aus der Bewunderung des Thukydides hervor.

Wie bei allen großen Gcistesprodnktcn, den alttestamentlichen Schriften,
den Dichtungen eines Homer und Shakespeare, weiß man auch von dem Ver¬
fasser des Thukydideischen Geschichtswerkes so gut wie nichts von seinem Leben
und seiner Persönlichkeit. Solche geniale Schöpfungen wirken wie Natur-
erzeugnisse, die man bewundert und genießt, deren Schöpfer und deren Werden
sich aber unsrer Erkenntnis entzieht.

Wenn sich bei Thukydides wie bei Äschylvs der künstlerische Genius mehr
in dem tiefernsten, tragischen Inhalt als in der Form und Darstellung kund-
giebt, so liegt bei seinem Fortsetzer Xenophon der Hauptwert in der leichten,
lieblichen Sprache und in der Anmut der Erzählung. Wie Euripides der be¬
wunderte Lieblingsdichter seiner Zeit war, so galt Xenophon, der Schüler des


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[0259] peloponnesischen Krieges von Thukydides mit seiner gedrungenen, sinnschweren Sprache, seiner Gedankenfülle und seinem mühsam ringenden Stile, Thukydides schildert ein Zeitalter und ein Menschengeschlecht, wo zwei große hellenische Staaten um die Vorherrschaft kämpfen, mit menschlichen Mitteln und mensch¬ lichen Leidenschaften, Das gewaltige Drama, das sich vor den Augen des Lesers entrollt, vollzieht sich nach einem natürlichen Pragmatismus und Kau¬ salitätsgesetze ohne die Mitwirkung höherer Mächte, Der vieljährige Vnrger- nnd Nationalkrieg ist ein geschichtliches Gemälde voll tragischen Pathos, in welchem alles anmutige Bei- und Nebenwerk verschwindet, in welchem jedem Volke und Staate seine Rolle knapp und straff vorgezeichnet ist. Das historische Motiv liegt nach ihm in der moralischen Beschaffenheit der Menschennatur; die Begebenheiten und Katastrophen haben ihren Urgrund in der Tiefe der Menschen- brust, in dem Labyrinthe der Affekte und Leidenschaften, in den politischen Zwecken der Staatslenker und Parteien. Wie sehr auch Form und Sprache noch die ungeübte Hand eines Meisters verraten, dem es schwer fällt, die ge¬ nialen Gedanken und innern Anschauungen stilistisch zu gestalten, so ist dennoch das Thnkydideischc Geschichtswerk ein Kunstwerk ersten Ranges. Die tief¬ durchdachten, staatsmännischen Reden, die Beschreibungen der Situationen, die Charakteristik der Handelnden sind das Gefüge einer künstlerischen Schöpfung, die durch ihr ernstes Pathos wie eine erschütternde Tragödie wirkt. Unter den Eindrücken der gewaltigen Schicksalsschläge, von denen die hellenische Welt und vor allem seine Vaterstadt Athen betroffen ward, wird in dem Autor wie in dem Leser eine Resignation erzeugt, die in der Seele eine moralische Rei¬ nigung, die tragische „Katharsis" hervorruft. Thukydides galt zu allen Zeiten als das Vorbild eines echten Geschichtschreibers, weil er die Geschichte seiner Zeit mit Wahrhcitssinn und objektiver Unparteilichkeit dargestellt, dnrch die Darstellung Wohlgefallen und ästhetisches Gefühl erweckt und zugleich unbewußt einen didaktischen Zweck verfolgt hat. Der Ausspruch Lessings, daß nur derjenige den Namen eines wahren Historikers verdiene, der die Geschichte seiner Zeit beschreibe, ging ohne Zweifel aus der Bewunderung des Thukydides hervor. Wie bei allen großen Gcistesprodnktcn, den alttestamentlichen Schriften, den Dichtungen eines Homer und Shakespeare, weiß man auch von dem Ver¬ fasser des Thukydideischen Geschichtswerkes so gut wie nichts von seinem Leben und seiner Persönlichkeit. Solche geniale Schöpfungen wirken wie Natur- erzeugnisse, die man bewundert und genießt, deren Schöpfer und deren Werden sich aber unsrer Erkenntnis entzieht. Wenn sich bei Thukydides wie bei Äschylvs der künstlerische Genius mehr in dem tiefernsten, tragischen Inhalt als in der Form und Darstellung kund- giebt, so liegt bei seinem Fortsetzer Xenophon der Hauptwert in der leichten, lieblichen Sprache und in der Anmut der Erzählung. Wie Euripides der be¬ wunderte Lieblingsdichter seiner Zeit war, so galt Xenophon, der Schüler des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/259>, abgerufen am 05.02.2025.