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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Kunstsinn und Phantasie die wichtigsten Werkleiter. Es ist daher ganz zutreffend,
wenn man die Geschichtschreibung als eine Vereinigung von Wissenschaft und
Kunst bezeichnet hat, und wenn Wilhelm von Humboldt in der trefflichen Ab¬
handlung: "Über die Aufgabe der Geschichtschreibung" das Verfahren des
Historikers in Vergleich stellt mit dein des wahren Künstlers. Sind denn nicht
in Herodot, dem Vater der Geschichtschreibung, beide Richtungen schon gegeben
oder durch den Volksinstinkt angedeutet? Was er auf weiten Reisen erforscht
und aufgekündet hatte, soll er jn nach einer alten Sage teilweise ans einer
Festversammlung als ein Produkt seiner Kunstleistung einem zahlreichen Hörer-
kreise vorgetragen haben. "Wie die Philosophie, sagt Humboldt ferner, nach
dem ersten Grunde der Dinge, die Kunst nach dem Ideale der Schönheit, so
strebt die Geschichte nach dein Bilde des Menschenschicksals in treuer Wahrheit,
lebendiger Fülle und reiner Klarheit, von einem dergestalt auf den Gegenstand
gerichteten Gemüte empfunden, daß sich die Ansichten, Gefühle und Ansprüche
der Persönlichkeit darin verlieren und auflösen. Diese Stimmung hervorzu¬
bringen und zu nähren, ist der letzte Zweck des Geschichtschreibers, den er aber
nur dann erreicht, wenn er seinen nächsten, die einfache Darstellung des Ge¬
schehenen, mit gewissenhafter Treue verfolgt."

Der Ausspruch Winckelmanns: "Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen
der griechischen Meisterstücke ist eine edle Einfalt und eine stille Größe sowohl
in der Stellung als im Ausdrucke" ist nicht nur für die plastische Kunst zutreffend,
er gilt für alle geistigen Produktionen der Hellenen. Denn alle tragen das
Gepräge künstlerischer Anschauungen und innerer Vertiefung an sich. Die Ge¬
bilde des denkenden Geistes erhalten durch die darstellende Hand eine so edle
Gestalt, daß über alle der Hauch vollendeter Kunst ausgegossen ist, daß die
Gebiete der Gedanken und der Phantasie oft noch ungeschieden ineinander
greifen. Sind nicht in den philosophischen Werken Platos die Elemente und
Formen der Poesie enthalten?

Ähnlich verhält es sich mit der griechischen Geschichtschreibung. Herodot
entrollt seinen hellenischen Zeitgenossen eilte Welt voll wunderbarer Begeben¬
heiten, über die sie Erstaunen und Wohlgefallen empfinden, wie die Kinder bei
einem Märchen. Hier sind Mythe und Sage mit geschichtlicher Erzählung ver¬
bunden und das Ganze als ein Werk der Musen in die göttliche Weltordnung
eingefügt. Bei Herodot ist die Weltgeschichte das "Weltgericht," dessen Sprüche
auf sittlich-religiöser Wahrheit beruhen. Nicht mit Unrecht hat man ihn einen
"theologischen Historiker" genannt. Die von ihm erzählten Begebenheiten sind
das Gefäß göttlicher Offenbarungen. Alle Erscheinungen in der Menschenwelt
haben bei ihm ihre Urquelle in den dunkeln Schicksalsmächten.

Das Herodotische Geschichtswerk in seiner Einfachheit und Naivität gleicht
einem Buche für die heranreifende Jugend, der es zugleich Belehrung und
Unterhaltung bietet. Einen schürfen Gegensatz dazu bildet die Geschichte des


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

Kunstsinn und Phantasie die wichtigsten Werkleiter. Es ist daher ganz zutreffend,
wenn man die Geschichtschreibung als eine Vereinigung von Wissenschaft und
Kunst bezeichnet hat, und wenn Wilhelm von Humboldt in der trefflichen Ab¬
handlung: „Über die Aufgabe der Geschichtschreibung" das Verfahren des
Historikers in Vergleich stellt mit dein des wahren Künstlers. Sind denn nicht
in Herodot, dem Vater der Geschichtschreibung, beide Richtungen schon gegeben
oder durch den Volksinstinkt angedeutet? Was er auf weiten Reisen erforscht
und aufgekündet hatte, soll er jn nach einer alten Sage teilweise ans einer
Festversammlung als ein Produkt seiner Kunstleistung einem zahlreichen Hörer-
kreise vorgetragen haben. „Wie die Philosophie, sagt Humboldt ferner, nach
dem ersten Grunde der Dinge, die Kunst nach dem Ideale der Schönheit, so
strebt die Geschichte nach dein Bilde des Menschenschicksals in treuer Wahrheit,
lebendiger Fülle und reiner Klarheit, von einem dergestalt auf den Gegenstand
gerichteten Gemüte empfunden, daß sich die Ansichten, Gefühle und Ansprüche
der Persönlichkeit darin verlieren und auflösen. Diese Stimmung hervorzu¬
bringen und zu nähren, ist der letzte Zweck des Geschichtschreibers, den er aber
nur dann erreicht, wenn er seinen nächsten, die einfache Darstellung des Ge¬
schehenen, mit gewissenhafter Treue verfolgt."

Der Ausspruch Winckelmanns: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen
der griechischen Meisterstücke ist eine edle Einfalt und eine stille Größe sowohl
in der Stellung als im Ausdrucke" ist nicht nur für die plastische Kunst zutreffend,
er gilt für alle geistigen Produktionen der Hellenen. Denn alle tragen das
Gepräge künstlerischer Anschauungen und innerer Vertiefung an sich. Die Ge¬
bilde des denkenden Geistes erhalten durch die darstellende Hand eine so edle
Gestalt, daß über alle der Hauch vollendeter Kunst ausgegossen ist, daß die
Gebiete der Gedanken und der Phantasie oft noch ungeschieden ineinander
greifen. Sind nicht in den philosophischen Werken Platos die Elemente und
Formen der Poesie enthalten?

Ähnlich verhält es sich mit der griechischen Geschichtschreibung. Herodot
entrollt seinen hellenischen Zeitgenossen eilte Welt voll wunderbarer Begeben¬
heiten, über die sie Erstaunen und Wohlgefallen empfinden, wie die Kinder bei
einem Märchen. Hier sind Mythe und Sage mit geschichtlicher Erzählung ver¬
bunden und das Ganze als ein Werk der Musen in die göttliche Weltordnung
eingefügt. Bei Herodot ist die Weltgeschichte das „Weltgericht," dessen Sprüche
auf sittlich-religiöser Wahrheit beruhen. Nicht mit Unrecht hat man ihn einen
„theologischen Historiker" genannt. Die von ihm erzählten Begebenheiten sind
das Gefäß göttlicher Offenbarungen. Alle Erscheinungen in der Menschenwelt
haben bei ihm ihre Urquelle in den dunkeln Schicksalsmächten.

Das Herodotische Geschichtswerk in seiner Einfachheit und Naivität gleicht
einem Buche für die heranreifende Jugend, der es zugleich Belehrung und
Unterhaltung bietet. Einen schürfen Gegensatz dazu bildet die Geschichte des


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[0258] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. Kunstsinn und Phantasie die wichtigsten Werkleiter. Es ist daher ganz zutreffend, wenn man die Geschichtschreibung als eine Vereinigung von Wissenschaft und Kunst bezeichnet hat, und wenn Wilhelm von Humboldt in der trefflichen Ab¬ handlung: „Über die Aufgabe der Geschichtschreibung" das Verfahren des Historikers in Vergleich stellt mit dein des wahren Künstlers. Sind denn nicht in Herodot, dem Vater der Geschichtschreibung, beide Richtungen schon gegeben oder durch den Volksinstinkt angedeutet? Was er auf weiten Reisen erforscht und aufgekündet hatte, soll er jn nach einer alten Sage teilweise ans einer Festversammlung als ein Produkt seiner Kunstleistung einem zahlreichen Hörer- kreise vorgetragen haben. „Wie die Philosophie, sagt Humboldt ferner, nach dem ersten Grunde der Dinge, die Kunst nach dem Ideale der Schönheit, so strebt die Geschichte nach dein Bilde des Menschenschicksals in treuer Wahrheit, lebendiger Fülle und reiner Klarheit, von einem dergestalt auf den Gegenstand gerichteten Gemüte empfunden, daß sich die Ansichten, Gefühle und Ansprüche der Persönlichkeit darin verlieren und auflösen. Diese Stimmung hervorzu¬ bringen und zu nähren, ist der letzte Zweck des Geschichtschreibers, den er aber nur dann erreicht, wenn er seinen nächsten, die einfache Darstellung des Ge¬ schehenen, mit gewissenhafter Treue verfolgt." Der Ausspruch Winckelmanns: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist eine edle Einfalt und eine stille Größe sowohl in der Stellung als im Ausdrucke" ist nicht nur für die plastische Kunst zutreffend, er gilt für alle geistigen Produktionen der Hellenen. Denn alle tragen das Gepräge künstlerischer Anschauungen und innerer Vertiefung an sich. Die Ge¬ bilde des denkenden Geistes erhalten durch die darstellende Hand eine so edle Gestalt, daß über alle der Hauch vollendeter Kunst ausgegossen ist, daß die Gebiete der Gedanken und der Phantasie oft noch ungeschieden ineinander greifen. Sind nicht in den philosophischen Werken Platos die Elemente und Formen der Poesie enthalten? Ähnlich verhält es sich mit der griechischen Geschichtschreibung. Herodot entrollt seinen hellenischen Zeitgenossen eilte Welt voll wunderbarer Begeben¬ heiten, über die sie Erstaunen und Wohlgefallen empfinden, wie die Kinder bei einem Märchen. Hier sind Mythe und Sage mit geschichtlicher Erzählung ver¬ bunden und das Ganze als ein Werk der Musen in die göttliche Weltordnung eingefügt. Bei Herodot ist die Weltgeschichte das „Weltgericht," dessen Sprüche auf sittlich-religiöser Wahrheit beruhen. Nicht mit Unrecht hat man ihn einen „theologischen Historiker" genannt. Die von ihm erzählten Begebenheiten sind das Gefäß göttlicher Offenbarungen. Alle Erscheinungen in der Menschenwelt haben bei ihm ihre Urquelle in den dunkeln Schicksalsmächten. Das Herodotische Geschichtswerk in seiner Einfachheit und Naivität gleicht einem Buche für die heranreifende Jugend, der es zugleich Belehrung und Unterhaltung bietet. Einen schürfen Gegensatz dazu bildet die Geschichte des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/258>, abgerufen am 05.02.2025.