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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Herbstzeitlose hüben und drüben.

Herr Bamberger verwechselt Ursache und Wirkung. Weil die liberale
Partei in den verflossenen fünfundzwanzig Jahren einerseits durch künstliche
Wahlordnungen eine Minvritätsherrschaft begründete und gleichzeitig durch Ge¬
setze und Einrichtungen das Slawentum systematisch kräftigte; weil ihre Mata¬
dore, durch den unglücklichen Krieg und Herrn von Beust auf die Miuisterstühle
gehoben, sich -- wie Schmerling es vorausgesagt hatte -- regierungsunfähig
erwiesen und nach dem kläglichsten Gezänk die Flinten selbst ins Korn warfen;
weil dieselben Männer, und voran der "verehrte Führer," alles aufboten, dem
zweiten Ministerium aus ihrer Partei das Regieren unmöglich zu machen; weil
sie sich uach dem Berliner Kongresse in einer Rechthaberei gefielen, die den
Kaiser und die Armee verletzen mußte, und bei der sie nur beharren konnten,
in der sichern Aussicht, überstimmt zu werden, da sie, an das Ruder ge¬
laugt, sofort hätten sich selbst desavouiren müssen; weil der "verehrte Führer"
die Bildung eines neuen dentschliberalen Kabinets, welches natürlich den stirtus
quo in Bosnien acceptiren wollte, hintertrieb; weil er und seine Gefolgschaft
das erste Ministerium Taaffe, welches uoch zahlreiche befreundete Elemente in
sich schloß, anstatt es zu sich herüberzuziehen, durch leidenschaftliche Anfeindung
förmlich auf die andre Seite drängte -- darum erklärte der Reichskanzler
mit Recht, mit einer Partei, die so wenig die Zeit verstehe und zu benutzen
wisse, könne ein Staatsmann nicht rechnen. Und die verkehrte Politik, welche
in erster Linie allerdings bloß Herbst verschuldet hat, hat die Deutschösterrcicher
heruntergebracht, uicht der leider nur zu treffende Witz von den Herbstzeitlosen.

In der Bevölkerung hat sich diese Erkenntnis auch vielfach Bahn ge¬
brochen, und je mehr Ernst von Pierer die Leitung der frühern Verfasfungs-
partei zufällt, je mehr ist darauf zu rechnen, daß diese eine besonnenere, klarere,
zielbewußte Politik verfolgen werde. Aber diese Politik wird den Beifall des
Herrn Vambcrger schwerlich erwerben, der dem Reichskanzler die energische
Wahrung des Deutschtums im deutschen Reiche als schweren Vorwurf anrechnet.

Es ist offenbar, daß Herr Bamberger und seine Freunde sich über die
Vorgänge in Österreich nur aus Zeitungen unterrichten, welche alles nach fort¬
schrittlichen Geschmacke zurichten. Und das haben nicht allein wir zu bedauern
Ursache. Die Politiker im deutscheu Reiche könnten aus unseru Kämpfen und
Leiden viel lernen, sie könnten durch unsern Schaden klug werden. Die deutsche
Regierung will nicht, wie jene Herren es wünschen, das Reich zu einer Bildungs¬
anstalt für zurückgebliebne oder verwahrloste Nationalitäten werden lassen;
Österreich ist das leider geworden, und die dankbaren Schüler prügeln dafür
ihre Lehrer. Deutschland verspürt keine Lust, das jüdische Element durch fort¬
währenden Zufluß aus Nußland und Polen anschwellen zu sehen; Österreich
könnte sich uicht helfen, wenn es auch seine Grenzen hermetisch abschlösse.
Dafür gewinnt aber auch schwerlich in irgendeinem andern Lande der Antisemi¬
tismus eine so rasche Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung -- das


Herbstzeitlose hüben und drüben.

Herr Bamberger verwechselt Ursache und Wirkung. Weil die liberale
Partei in den verflossenen fünfundzwanzig Jahren einerseits durch künstliche
Wahlordnungen eine Minvritätsherrschaft begründete und gleichzeitig durch Ge¬
setze und Einrichtungen das Slawentum systematisch kräftigte; weil ihre Mata¬
dore, durch den unglücklichen Krieg und Herrn von Beust auf die Miuisterstühle
gehoben, sich — wie Schmerling es vorausgesagt hatte — regierungsunfähig
erwiesen und nach dem kläglichsten Gezänk die Flinten selbst ins Korn warfen;
weil dieselben Männer, und voran der „verehrte Führer," alles aufboten, dem
zweiten Ministerium aus ihrer Partei das Regieren unmöglich zu machen; weil
sie sich uach dem Berliner Kongresse in einer Rechthaberei gefielen, die den
Kaiser und die Armee verletzen mußte, und bei der sie nur beharren konnten,
in der sichern Aussicht, überstimmt zu werden, da sie, an das Ruder ge¬
laugt, sofort hätten sich selbst desavouiren müssen; weil der „verehrte Führer"
die Bildung eines neuen dentschliberalen Kabinets, welches natürlich den stirtus
quo in Bosnien acceptiren wollte, hintertrieb; weil er und seine Gefolgschaft
das erste Ministerium Taaffe, welches uoch zahlreiche befreundete Elemente in
sich schloß, anstatt es zu sich herüberzuziehen, durch leidenschaftliche Anfeindung
förmlich auf die andre Seite drängte — darum erklärte der Reichskanzler
mit Recht, mit einer Partei, die so wenig die Zeit verstehe und zu benutzen
wisse, könne ein Staatsmann nicht rechnen. Und die verkehrte Politik, welche
in erster Linie allerdings bloß Herbst verschuldet hat, hat die Deutschösterrcicher
heruntergebracht, uicht der leider nur zu treffende Witz von den Herbstzeitlosen.

In der Bevölkerung hat sich diese Erkenntnis auch vielfach Bahn ge¬
brochen, und je mehr Ernst von Pierer die Leitung der frühern Verfasfungs-
partei zufällt, je mehr ist darauf zu rechnen, daß diese eine besonnenere, klarere,
zielbewußte Politik verfolgen werde. Aber diese Politik wird den Beifall des
Herrn Vambcrger schwerlich erwerben, der dem Reichskanzler die energische
Wahrung des Deutschtums im deutschen Reiche als schweren Vorwurf anrechnet.

Es ist offenbar, daß Herr Bamberger und seine Freunde sich über die
Vorgänge in Österreich nur aus Zeitungen unterrichten, welche alles nach fort¬
schrittlichen Geschmacke zurichten. Und das haben nicht allein wir zu bedauern
Ursache. Die Politiker im deutscheu Reiche könnten aus unseru Kämpfen und
Leiden viel lernen, sie könnten durch unsern Schaden klug werden. Die deutsche
Regierung will nicht, wie jene Herren es wünschen, das Reich zu einer Bildungs¬
anstalt für zurückgebliebne oder verwahrloste Nationalitäten werden lassen;
Österreich ist das leider geworden, und die dankbaren Schüler prügeln dafür
ihre Lehrer. Deutschland verspürt keine Lust, das jüdische Element durch fort¬
währenden Zufluß aus Nußland und Polen anschwellen zu sehen; Österreich
könnte sich uicht helfen, wenn es auch seine Grenzen hermetisch abschlösse.
Dafür gewinnt aber auch schwerlich in irgendeinem andern Lande der Antisemi¬
tismus eine so rasche Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung — das


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[0238] Herbstzeitlose hüben und drüben. Herr Bamberger verwechselt Ursache und Wirkung. Weil die liberale Partei in den verflossenen fünfundzwanzig Jahren einerseits durch künstliche Wahlordnungen eine Minvritätsherrschaft begründete und gleichzeitig durch Ge¬ setze und Einrichtungen das Slawentum systematisch kräftigte; weil ihre Mata¬ dore, durch den unglücklichen Krieg und Herrn von Beust auf die Miuisterstühle gehoben, sich — wie Schmerling es vorausgesagt hatte — regierungsunfähig erwiesen und nach dem kläglichsten Gezänk die Flinten selbst ins Korn warfen; weil dieselben Männer, und voran der „verehrte Führer," alles aufboten, dem zweiten Ministerium aus ihrer Partei das Regieren unmöglich zu machen; weil sie sich uach dem Berliner Kongresse in einer Rechthaberei gefielen, die den Kaiser und die Armee verletzen mußte, und bei der sie nur beharren konnten, in der sichern Aussicht, überstimmt zu werden, da sie, an das Ruder ge¬ laugt, sofort hätten sich selbst desavouiren müssen; weil der „verehrte Führer" die Bildung eines neuen dentschliberalen Kabinets, welches natürlich den stirtus quo in Bosnien acceptiren wollte, hintertrieb; weil er und seine Gefolgschaft das erste Ministerium Taaffe, welches uoch zahlreiche befreundete Elemente in sich schloß, anstatt es zu sich herüberzuziehen, durch leidenschaftliche Anfeindung förmlich auf die andre Seite drängte — darum erklärte der Reichskanzler mit Recht, mit einer Partei, die so wenig die Zeit verstehe und zu benutzen wisse, könne ein Staatsmann nicht rechnen. Und die verkehrte Politik, welche in erster Linie allerdings bloß Herbst verschuldet hat, hat die Deutschösterrcicher heruntergebracht, uicht der leider nur zu treffende Witz von den Herbstzeitlosen. In der Bevölkerung hat sich diese Erkenntnis auch vielfach Bahn ge¬ brochen, und je mehr Ernst von Pierer die Leitung der frühern Verfasfungs- partei zufällt, je mehr ist darauf zu rechnen, daß diese eine besonnenere, klarere, zielbewußte Politik verfolgen werde. Aber diese Politik wird den Beifall des Herrn Vambcrger schwerlich erwerben, der dem Reichskanzler die energische Wahrung des Deutschtums im deutschen Reiche als schweren Vorwurf anrechnet. Es ist offenbar, daß Herr Bamberger und seine Freunde sich über die Vorgänge in Österreich nur aus Zeitungen unterrichten, welche alles nach fort¬ schrittlichen Geschmacke zurichten. Und das haben nicht allein wir zu bedauern Ursache. Die Politiker im deutscheu Reiche könnten aus unseru Kämpfen und Leiden viel lernen, sie könnten durch unsern Schaden klug werden. Die deutsche Regierung will nicht, wie jene Herren es wünschen, das Reich zu einer Bildungs¬ anstalt für zurückgebliebne oder verwahrloste Nationalitäten werden lassen; Österreich ist das leider geworden, und die dankbaren Schüler prügeln dafür ihre Lehrer. Deutschland verspürt keine Lust, das jüdische Element durch fort¬ währenden Zufluß aus Nußland und Polen anschwellen zu sehen; Österreich könnte sich uicht helfen, wenn es auch seine Grenzen hermetisch abschlösse. Dafür gewinnt aber auch schwerlich in irgendeinem andern Lande der Antisemi¬ tismus eine so rasche Verbreitung in allen Schichten der Bevölkerung — das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/238>, abgerufen am 05.02.2025.