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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Nentkcimmcr auszuliefern habe. Das geschah allerdings mit emsiger Pflichttreue,
doch trotzdem verringerte sich die Anzahl der in Bruchsal eingehenden Spatzen¬
köpfe von Jahr zu Jahr. Dieser Ausfall entstammte indes keineswegs einer
langsamen Ausrottung der bischöflich zum Untergange verurteilten Vogelgattung,
uoch einer etwa nnter ihr ausgebrochnen Pest oder Unfruchtbarkeit, sondern
leitete sich lediglich daher ab, daß der lieferuugspflichtigeu Hände und Unter¬
thanen von Jahr zu Jahr immer weniger wurden. Die nicht geköpften Sper¬
linge fanden stets noch ausreichende Nährmittel, um ihren Hunger zu stillen
und sich zu vermehren, aber die Bewohner und Bewohnerinnen Philippsbnrgs
besaßen zu ihrem eignen Leidwesen keine Spatzenmcigeu die sich täglich mit
dem Auspicken einer Hand voll Körner oder einem Kerf- und Würmergericht
begnügen konnten. Da ihre Speisekarte ihnen jedoch in der Festung zumeist
keine andre Wahl freistellte, machten sie es truppweise wie die Schwalben, Staare
und Störche um sie herum, nur daß sie uicht den Herbst allein dazu benutzten,
sondern zu allen Jahreszeiten, auch im Frühling, Sommer und Winter, von
dannen zogen, hierhin und dorthin, wo die Hoffnung langsameren Verhnngerus
ihnen winkte, ostwärts und westwärts, über den Rhein und über das Meer in
die sagenhafte, viel und dunkel beredete "neue Welt" hinüber. Sie wanderten
in die Fremde, das hieß nach dem alten deutsche" Worte "ins Elend," denn
vor dem dreißigjährigen Kriege galten dem deutschen Volte diese beiden Be¬
zeichnungen als gleichartig; ins Elend ziehen hieß in die Fremde davongehen.
Seitdem hat sich freilich in dieser Anschauung mancherlei geändert, doch die
landesväterliche Fürsorge zu Bruchsal hielt noch an der alten Auslegung fest
und fühlte sich deshalb berufen, im Jahre 1785 ein ernstliches Mandat nach
Philippsburg zu erlassen, in welchem vor der Ruchlosigkeit der Auswanderung
streng verwarnt und angeordnet wird, achtsamst auf die Verführer zu fahnden.
Denn die Ruchlosigkeit war dadurch zweifellos noch um ein Beträchtliches er¬
höht, daß die Leute nicht allein für sich selbst "ins Elend wanderten," vielmehr
jedes von ihnen obendrein wider göttliches und menschliches Recht ein Stück
nicht ihm, sondern dem speierischen Fürstbischof leibeigen angehöriges Fleisch
und Blut mit sich in die Fremde mitnahm. Wenn aber Herr Damian August
Graf von Limburg-Sthrum dergestalt in seinem Schlosse wartete, so nahm all¬
mählich im Stillen und unbeachtet die Neichsfestuug Philippsburg diese Ange¬
legenheit in ihre eigue Hand. Als ein mächtiger und wahrhafter Beschützer
deutscher Lande hochaufgerichtet stand der hohe Geist und die Prcußenmacht
Friedrichs des Großen da, und seit bald vier Jahrzehnten genoß das Reich
Unter ihrem "Schutze" eines wirklichen, vorher unbekannt gewesenen Friedens.
Das Auge blickte nicht mehr in unablässiger Angst nach Westen über den Rhein,
ob auflodernde Feuerfunken den Anmarsch eines Nachfolgers des großen Tu-
renne, Melach oder Duras' verkündigten; das deutsche Volk lag in einem schweren
dumpfen Schlafe, doch es schlief insofern ruhig, als das Nlbdrückeu seiner


Nentkcimmcr auszuliefern habe. Das geschah allerdings mit emsiger Pflichttreue,
doch trotzdem verringerte sich die Anzahl der in Bruchsal eingehenden Spatzen¬
köpfe von Jahr zu Jahr. Dieser Ausfall entstammte indes keineswegs einer
langsamen Ausrottung der bischöflich zum Untergange verurteilten Vogelgattung,
uoch einer etwa nnter ihr ausgebrochnen Pest oder Unfruchtbarkeit, sondern
leitete sich lediglich daher ab, daß der lieferuugspflichtigeu Hände und Unter¬
thanen von Jahr zu Jahr immer weniger wurden. Die nicht geköpften Sper¬
linge fanden stets noch ausreichende Nährmittel, um ihren Hunger zu stillen
und sich zu vermehren, aber die Bewohner und Bewohnerinnen Philippsbnrgs
besaßen zu ihrem eignen Leidwesen keine Spatzenmcigeu die sich täglich mit
dem Auspicken einer Hand voll Körner oder einem Kerf- und Würmergericht
begnügen konnten. Da ihre Speisekarte ihnen jedoch in der Festung zumeist
keine andre Wahl freistellte, machten sie es truppweise wie die Schwalben, Staare
und Störche um sie herum, nur daß sie uicht den Herbst allein dazu benutzten,
sondern zu allen Jahreszeiten, auch im Frühling, Sommer und Winter, von
dannen zogen, hierhin und dorthin, wo die Hoffnung langsameren Verhnngerus
ihnen winkte, ostwärts und westwärts, über den Rhein und über das Meer in
die sagenhafte, viel und dunkel beredete »neue Welt« hinüber. Sie wanderten
in die Fremde, das hieß nach dem alten deutsche» Worte »ins Elend,« denn
vor dem dreißigjährigen Kriege galten dem deutschen Volte diese beiden Be¬
zeichnungen als gleichartig; ins Elend ziehen hieß in die Fremde davongehen.
Seitdem hat sich freilich in dieser Anschauung mancherlei geändert, doch die
landesväterliche Fürsorge zu Bruchsal hielt noch an der alten Auslegung fest
und fühlte sich deshalb berufen, im Jahre 1785 ein ernstliches Mandat nach
Philippsburg zu erlassen, in welchem vor der Ruchlosigkeit der Auswanderung
streng verwarnt und angeordnet wird, achtsamst auf die Verführer zu fahnden.
Denn die Ruchlosigkeit war dadurch zweifellos noch um ein Beträchtliches er¬
höht, daß die Leute nicht allein für sich selbst »ins Elend wanderten,« vielmehr
jedes von ihnen obendrein wider göttliches und menschliches Recht ein Stück
nicht ihm, sondern dem speierischen Fürstbischof leibeigen angehöriges Fleisch
und Blut mit sich in die Fremde mitnahm. Wenn aber Herr Damian August
Graf von Limburg-Sthrum dergestalt in seinem Schlosse wartete, so nahm all¬
mählich im Stillen und unbeachtet die Neichsfestuug Philippsburg diese Ange¬
legenheit in ihre eigue Hand. Als ein mächtiger und wahrhafter Beschützer
deutscher Lande hochaufgerichtet stand der hohe Geist und die Prcußenmacht
Friedrichs des Großen da, und seit bald vier Jahrzehnten genoß das Reich
Unter ihrem »Schutze« eines wirklichen, vorher unbekannt gewesenen Friedens.
Das Auge blickte nicht mehr in unablässiger Angst nach Westen über den Rhein,
ob auflodernde Feuerfunken den Anmarsch eines Nachfolgers des großen Tu-
renne, Melach oder Duras' verkündigten; das deutsche Volk lag in einem schweren
dumpfen Schlafe, doch es schlief insofern ruhig, als das Nlbdrückeu seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/231>, abgerufen am 05.02.2025.