Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Historische Romane.

denen überall verschiedenes Recht und verschiedne Ordnung herrschte, ein lebens¬
fähiges Ganze zu bilden. Imsen zeigt uus einen deutschen Hof in seiner schmach¬
vollen Abhängigkeit von dem Muster, das Versailles länger als ein ganzes
Jahrhundert für Europa abgab, und offenbart uns dessen ganze Unsittlichkeit bei
allem äußern Glänze, bei allem Geist und Kunstsinn, und deckt die innere Faul¬
heit des gauzen sozialen Baues auf, den das g-molem re"iirro aufgerichtet hatte. Aber
die Tendenz beider Dichter ist es, der Freude an dem endlichen Besitze natio¬
naler Einheit und nationalen Selbstgefühls Ausdruck zu geben; die Stimmung
beider Erzähler ist gehoben und erfüllt von dem Glücke der Gegenwart: die
trübe Vergangenheit dient nur dem einen Gedanken, Relief für die Gegenwart
zu bilden, den dunkeln Hintergrund für das nahe Licht und dessen richtige Wert¬
schätzung abzugeben. Es soll gezeigt werden, dort, in "Fritz Kcmnacher," mit
wie unsäglichen Schwierigkeiten der Gründer Preußens zu kämpfen hatte, hier,
im "Ausgange des Reiches," auf wievielen Umwegen der Deutsche zum natio¬
nalen Selbstbewußtsein gekommen ist. Mag sein, daß man dies "Tendenz"
nennen und in doktrinärer Ästhetik die Nase darüber rümpfen wird, aber wir
erkennen diese Tendenz deswegen als poetisch vollkommen berechtigt an,
weil sie einer allgemeinen und lebendigen Empfindung des Volkes Ausdruck
verleiht.

Zeusen eröffnet seinen Roman mit einer "historischen Landschaft" von
wahrhaft tragischer Größe. Die Grenzfestung Philippsburg ist der Träger
dieses erschütternden Gemäldes. Philippsburg ist im "Bruchrhein" gelegen,
als, wenn sich die Menschen in unbegreiflicher Verblendung den sumpfigsten und
unfrnchtbcirste" Winkel zwischen weithin gesegneten Gefilden zur Ansiedlung aus¬
gesucht hätten. Und so jämmerlich das Aussehen des Städtchens von jeher
war, ist es gleichwohl ewig der Zankapfel der streitenden Mächte gewesen, die
es nacheinander zerstörten und wieder neu befestigten. Besonders die Franzosen
bemühten sich, dieser Grenzfestung bei jedem ihrer zahlreichen Einfälle habhaft
zu werden, bis ihnen Friedrichs des Großen Sieg bei Roßbach für lange Zeit,
bis zu den Revolutionskriegen, die Lust nach dem rechten Rheinufer vertrieb.
Nach dem siebenjährigen Kriege kam Philippsburg in den Besitz des Fürst¬
bischofs von Speier. Aber auch er geriet in Zank seinetwegen, denn der Kaiser
in Wien erklärte es für eine Neichsfestung und besetzte es mit einem eignen
.Kommandanten, der dem Bischof viel Ärger verursachte und ihm den Gedanken,
eingab, die streitbringenden Festungswerke zu schleifen. Und nun wollen wir den
Dichter selbst reden lassen. "So schaute denn der Fürstbischof von seinem
Schlosse zu Bruchsal über den "Lußhard"-Wald im Bruchrhein nach dein etwa
zwei Meilen entfernten Philippsbnrg hinüber und bethätigte seine landesväterliche
Fürsorge für dasselbe uur dann und wann durch dorthin erlassene nützliche
Verfügungen, indem er z. B. strengstens den Viehhandel mit Juden verbot, auch
anordnete, daß jeder dortige Unterthan jährlich zwölf Sperlingsköpfe an die


Historische Romane.

denen überall verschiedenes Recht und verschiedne Ordnung herrschte, ein lebens¬
fähiges Ganze zu bilden. Imsen zeigt uus einen deutschen Hof in seiner schmach¬
vollen Abhängigkeit von dem Muster, das Versailles länger als ein ganzes
Jahrhundert für Europa abgab, und offenbart uns dessen ganze Unsittlichkeit bei
allem äußern Glänze, bei allem Geist und Kunstsinn, und deckt die innere Faul¬
heit des gauzen sozialen Baues auf, den das g-molem re«iirro aufgerichtet hatte. Aber
die Tendenz beider Dichter ist es, der Freude an dem endlichen Besitze natio¬
naler Einheit und nationalen Selbstgefühls Ausdruck zu geben; die Stimmung
beider Erzähler ist gehoben und erfüllt von dem Glücke der Gegenwart: die
trübe Vergangenheit dient nur dem einen Gedanken, Relief für die Gegenwart
zu bilden, den dunkeln Hintergrund für das nahe Licht und dessen richtige Wert¬
schätzung abzugeben. Es soll gezeigt werden, dort, in „Fritz Kcmnacher," mit
wie unsäglichen Schwierigkeiten der Gründer Preußens zu kämpfen hatte, hier,
im „Ausgange des Reiches," auf wievielen Umwegen der Deutsche zum natio¬
nalen Selbstbewußtsein gekommen ist. Mag sein, daß man dies „Tendenz"
nennen und in doktrinärer Ästhetik die Nase darüber rümpfen wird, aber wir
erkennen diese Tendenz deswegen als poetisch vollkommen berechtigt an,
weil sie einer allgemeinen und lebendigen Empfindung des Volkes Ausdruck
verleiht.

Zeusen eröffnet seinen Roman mit einer „historischen Landschaft" von
wahrhaft tragischer Größe. Die Grenzfestung Philippsburg ist der Träger
dieses erschütternden Gemäldes. Philippsburg ist im „Bruchrhein" gelegen,
als, wenn sich die Menschen in unbegreiflicher Verblendung den sumpfigsten und
unfrnchtbcirste» Winkel zwischen weithin gesegneten Gefilden zur Ansiedlung aus¬
gesucht hätten. Und so jämmerlich das Aussehen des Städtchens von jeher
war, ist es gleichwohl ewig der Zankapfel der streitenden Mächte gewesen, die
es nacheinander zerstörten und wieder neu befestigten. Besonders die Franzosen
bemühten sich, dieser Grenzfestung bei jedem ihrer zahlreichen Einfälle habhaft
zu werden, bis ihnen Friedrichs des Großen Sieg bei Roßbach für lange Zeit,
bis zu den Revolutionskriegen, die Lust nach dem rechten Rheinufer vertrieb.
Nach dem siebenjährigen Kriege kam Philippsburg in den Besitz des Fürst¬
bischofs von Speier. Aber auch er geriet in Zank seinetwegen, denn der Kaiser
in Wien erklärte es für eine Neichsfestung und besetzte es mit einem eignen
.Kommandanten, der dem Bischof viel Ärger verursachte und ihm den Gedanken,
eingab, die streitbringenden Festungswerke zu schleifen. Und nun wollen wir den
Dichter selbst reden lassen. „So schaute denn der Fürstbischof von seinem
Schlosse zu Bruchsal über den »Lußhard«-Wald im Bruchrhein nach dein etwa
zwei Meilen entfernten Philippsbnrg hinüber und bethätigte seine landesväterliche
Fürsorge für dasselbe uur dann und wann durch dorthin erlassene nützliche
Verfügungen, indem er z. B. strengstens den Viehhandel mit Juden verbot, auch
anordnete, daß jeder dortige Unterthan jährlich zwölf Sperlingsköpfe an die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197654"/>
          <fw type="header" place="top"> Historische Romane.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_680" prev="#ID_679"> denen überall verschiedenes Recht und verschiedne Ordnung herrschte, ein lebens¬<lb/>
fähiges Ganze zu bilden. Imsen zeigt uus einen deutschen Hof in seiner schmach¬<lb/>
vollen Abhängigkeit von dem Muster, das Versailles länger als ein ganzes<lb/>
Jahrhundert für Europa abgab, und offenbart uns dessen ganze Unsittlichkeit bei<lb/>
allem äußern Glänze, bei allem Geist und Kunstsinn, und deckt die innere Faul¬<lb/>
heit des gauzen sozialen Baues auf, den das g-molem re«iirro aufgerichtet hatte. Aber<lb/>
die Tendenz beider Dichter ist es, der Freude an dem endlichen Besitze natio¬<lb/>
naler Einheit und nationalen Selbstgefühls Ausdruck zu geben; die Stimmung<lb/>
beider Erzähler ist gehoben und erfüllt von dem Glücke der Gegenwart: die<lb/>
trübe Vergangenheit dient nur dem einen Gedanken, Relief für die Gegenwart<lb/>
zu bilden, den dunkeln Hintergrund für das nahe Licht und dessen richtige Wert¬<lb/>
schätzung abzugeben. Es soll gezeigt werden, dort, in &#x201E;Fritz Kcmnacher," mit<lb/>
wie unsäglichen Schwierigkeiten der Gründer Preußens zu kämpfen hatte, hier,<lb/>
im &#x201E;Ausgange des Reiches," auf wievielen Umwegen der Deutsche zum natio¬<lb/>
nalen Selbstbewußtsein gekommen ist. Mag sein, daß man dies &#x201E;Tendenz"<lb/>
nennen und in doktrinärer Ästhetik die Nase darüber rümpfen wird, aber wir<lb/>
erkennen diese Tendenz deswegen als poetisch vollkommen berechtigt an,<lb/>
weil sie einer allgemeinen und lebendigen Empfindung des Volkes Ausdruck<lb/>
verleiht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_681" next="#ID_682"> Zeusen eröffnet seinen Roman mit einer &#x201E;historischen Landschaft" von<lb/>
wahrhaft tragischer Größe. Die Grenzfestung Philippsburg ist der Träger<lb/>
dieses erschütternden Gemäldes. Philippsburg ist im &#x201E;Bruchrhein" gelegen,<lb/>
als, wenn sich die Menschen in unbegreiflicher Verblendung den sumpfigsten und<lb/>
unfrnchtbcirste» Winkel zwischen weithin gesegneten Gefilden zur Ansiedlung aus¬<lb/>
gesucht hätten. Und so jämmerlich das Aussehen des Städtchens von jeher<lb/>
war, ist es gleichwohl ewig der Zankapfel der streitenden Mächte gewesen, die<lb/>
es nacheinander zerstörten und wieder neu befestigten. Besonders die Franzosen<lb/>
bemühten sich, dieser Grenzfestung bei jedem ihrer zahlreichen Einfälle habhaft<lb/>
zu werden, bis ihnen Friedrichs des Großen Sieg bei Roßbach für lange Zeit,<lb/>
bis zu den Revolutionskriegen, die Lust nach dem rechten Rheinufer vertrieb.<lb/>
Nach dem siebenjährigen Kriege kam Philippsburg in den Besitz des Fürst¬<lb/>
bischofs von Speier. Aber auch er geriet in Zank seinetwegen, denn der Kaiser<lb/>
in Wien erklärte es für eine Neichsfestung und besetzte es mit einem eignen<lb/>
.Kommandanten, der dem Bischof viel Ärger verursachte und ihm den Gedanken,<lb/>
eingab, die streitbringenden Festungswerke zu schleifen. Und nun wollen wir den<lb/>
Dichter selbst reden lassen. &#x201E;So schaute denn der Fürstbischof von seinem<lb/>
Schlosse zu Bruchsal über den »Lußhard«-Wald im Bruchrhein nach dein etwa<lb/>
zwei Meilen entfernten Philippsbnrg hinüber und bethätigte seine landesväterliche<lb/>
Fürsorge für dasselbe uur dann und wann durch dorthin erlassene nützliche<lb/>
Verfügungen, indem er z. B. strengstens den Viehhandel mit Juden verbot, auch<lb/>
anordnete, daß jeder dortige Unterthan jährlich zwölf Sperlingsköpfe an die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0230] Historische Romane. denen überall verschiedenes Recht und verschiedne Ordnung herrschte, ein lebens¬ fähiges Ganze zu bilden. Imsen zeigt uus einen deutschen Hof in seiner schmach¬ vollen Abhängigkeit von dem Muster, das Versailles länger als ein ganzes Jahrhundert für Europa abgab, und offenbart uns dessen ganze Unsittlichkeit bei allem äußern Glänze, bei allem Geist und Kunstsinn, und deckt die innere Faul¬ heit des gauzen sozialen Baues auf, den das g-molem re«iirro aufgerichtet hatte. Aber die Tendenz beider Dichter ist es, der Freude an dem endlichen Besitze natio¬ naler Einheit und nationalen Selbstgefühls Ausdruck zu geben; die Stimmung beider Erzähler ist gehoben und erfüllt von dem Glücke der Gegenwart: die trübe Vergangenheit dient nur dem einen Gedanken, Relief für die Gegenwart zu bilden, den dunkeln Hintergrund für das nahe Licht und dessen richtige Wert¬ schätzung abzugeben. Es soll gezeigt werden, dort, in „Fritz Kcmnacher," mit wie unsäglichen Schwierigkeiten der Gründer Preußens zu kämpfen hatte, hier, im „Ausgange des Reiches," auf wievielen Umwegen der Deutsche zum natio¬ nalen Selbstbewußtsein gekommen ist. Mag sein, daß man dies „Tendenz" nennen und in doktrinärer Ästhetik die Nase darüber rümpfen wird, aber wir erkennen diese Tendenz deswegen als poetisch vollkommen berechtigt an, weil sie einer allgemeinen und lebendigen Empfindung des Volkes Ausdruck verleiht. Zeusen eröffnet seinen Roman mit einer „historischen Landschaft" von wahrhaft tragischer Größe. Die Grenzfestung Philippsburg ist der Träger dieses erschütternden Gemäldes. Philippsburg ist im „Bruchrhein" gelegen, als, wenn sich die Menschen in unbegreiflicher Verblendung den sumpfigsten und unfrnchtbcirste» Winkel zwischen weithin gesegneten Gefilden zur Ansiedlung aus¬ gesucht hätten. Und so jämmerlich das Aussehen des Städtchens von jeher war, ist es gleichwohl ewig der Zankapfel der streitenden Mächte gewesen, die es nacheinander zerstörten und wieder neu befestigten. Besonders die Franzosen bemühten sich, dieser Grenzfestung bei jedem ihrer zahlreichen Einfälle habhaft zu werden, bis ihnen Friedrichs des Großen Sieg bei Roßbach für lange Zeit, bis zu den Revolutionskriegen, die Lust nach dem rechten Rheinufer vertrieb. Nach dem siebenjährigen Kriege kam Philippsburg in den Besitz des Fürst¬ bischofs von Speier. Aber auch er geriet in Zank seinetwegen, denn der Kaiser in Wien erklärte es für eine Neichsfestung und besetzte es mit einem eignen .Kommandanten, der dem Bischof viel Ärger verursachte und ihm den Gedanken, eingab, die streitbringenden Festungswerke zu schleifen. Und nun wollen wir den Dichter selbst reden lassen. „So schaute denn der Fürstbischof von seinem Schlosse zu Bruchsal über den »Lußhard«-Wald im Bruchrhein nach dein etwa zwei Meilen entfernten Philippsbnrg hinüber und bethätigte seine landesväterliche Fürsorge für dasselbe uur dann und wann durch dorthin erlassene nützliche Verfügungen, indem er z. B. strengstens den Viehhandel mit Juden verbot, auch anordnete, daß jeder dortige Unterthan jährlich zwölf Sperlingsköpfe an die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/230
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/230>, abgerufen am 05.02.2025.