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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Steinthcil über den Sozialismus.

AU besprechen. Aber auch die scharfe Zurückweisung des Staatssozialismus ver¬
dient doch noch eine kleine Erörterung. Steinthal gehört, wie wir gesehen
haben, nicht zu den Individualisten, wie sie gewöhnlich mit dem Begriffe des
Mcmchestertnms zusammengedacht werden, aber dem Manchestertnme gehört er
dennoch an, insofern dieses dem Staate nur die Handhabung des Rechtes zumißt
und die Gesellschaft ihre sonstigen Geschäfte besorgen läßt. Das ist auch Stein¬
thals Ansicht, und sie tritt hie und da sogar leidenschaftlich hervor. Es ist
ganz deutlich, daß es Gemütssache bei diesem hervorragenden Denker ist, den
von ihm und Lazarus so viel besprochnen Begriff des objektiven Geistes auch
dadurch zu verherrlichen, daß er ihm in der Regelung der Gesellschaft wunder¬
bare Leistungen zu gute schreibt. Dazu kommt noch, daß der vou ihm viel
verehrte und zu hellerem Verständnis gebrachte Wilhelm von Humboldt in seinen
Jugendaufsätzen die Wirksamkeit des Staates in außerordentlich enge Grenzen
einschließt. Alles dies mag aus den etwas erregten Äußerungen Steinthals
gegen die soziale Thätigkeit des Staates heraussprechen. S. 235 sagt er:
"Der Staat hat sich um gar keine Interessen irgendeiner Person oder eines
Vereins weiter zu kümmern, als daß er ihr Recht schützt und sie hindert, andre
Rechte zu verletzen. Er ist ganz unfähig, mehr als dies zu leisten, und wird
immer fehlgreifen und durch Mißgriffe die Sache schädigen, wenn er sich in die
Interessen selbst mischt, statt ihre Förderung den Einzelnen und den Vereinen
zu überlassei,." So denkt die fortschrittliche Partei im ganzen auch. Ich würde
sagen, sie geht nicht einmal so weit, aber ein großer Unterschied ist nicht vor¬
handen. Denn bei Steinthal finden sich so gut wie bei Eugen Richter auch
anders klingende Maximen. So sagt er z. B. S. 239, daß "der Staat, über¬
haupt der umfassendere Verein, keine Pflicht übernehmen, keine Arbeit ausführen
soll, welche von dem engern Vereine oder von dem Einzelnen recht wohl zweck¬
mäßig und erfolgreich ausgeführt werden kann." So denken auch ganz andre
Männer, wie Hermann Schulze (in seinem Preußischen Staatsrecht, Einleitung,
S. 137). Aber nur eine einseitige manchesterliche Richtung, wie sie sich bei
den Staatsrechtslehrern wohl nicht mehr findet, kann mit Steinthal (S. 237)
behaupten, daß "der Staat, der für uns singt und unsre Geschäfte vollzieht,
unser Feind ist und sich selbst, der Pflege des Rechtes, untreu wird." Oder
(S. 233): "Der Staat soll nicht herrschen, denn man herrscht nur über Feinde.
In den Gesetzen des herrschenden Staates kann der Bürger uicht sein Recht
sehen, und kann er sich da uicht widersetzen, so wird er sich kriechend oder
murrend unterwerfen." Der Staat steht Steinthal nur darum als ein be¬
sondrer da, weil er alle Vereine und alle Einzelnen in ihren Rechten sichern
soll; er steht aber an Wert nicht über ihnen. "Der Staat soll als für sich
bestehende Macht gänzlich aufgehoben werden und die freie Gesellschaft der
Bürger an seine Stelle treten." Dabei leugnet Steinthal nicht die Unentbehr-
lichkeit des Staates. Wie gesagt, wir halten alle diese Versuche, den Staat


Steinthcil über den Sozialismus.

AU besprechen. Aber auch die scharfe Zurückweisung des Staatssozialismus ver¬
dient doch noch eine kleine Erörterung. Steinthal gehört, wie wir gesehen
haben, nicht zu den Individualisten, wie sie gewöhnlich mit dem Begriffe des
Mcmchestertnms zusammengedacht werden, aber dem Manchestertnme gehört er
dennoch an, insofern dieses dem Staate nur die Handhabung des Rechtes zumißt
und die Gesellschaft ihre sonstigen Geschäfte besorgen läßt. Das ist auch Stein¬
thals Ansicht, und sie tritt hie und da sogar leidenschaftlich hervor. Es ist
ganz deutlich, daß es Gemütssache bei diesem hervorragenden Denker ist, den
von ihm und Lazarus so viel besprochnen Begriff des objektiven Geistes auch
dadurch zu verherrlichen, daß er ihm in der Regelung der Gesellschaft wunder¬
bare Leistungen zu gute schreibt. Dazu kommt noch, daß der vou ihm viel
verehrte und zu hellerem Verständnis gebrachte Wilhelm von Humboldt in seinen
Jugendaufsätzen die Wirksamkeit des Staates in außerordentlich enge Grenzen
einschließt. Alles dies mag aus den etwas erregten Äußerungen Steinthals
gegen die soziale Thätigkeit des Staates heraussprechen. S. 235 sagt er:
„Der Staat hat sich um gar keine Interessen irgendeiner Person oder eines
Vereins weiter zu kümmern, als daß er ihr Recht schützt und sie hindert, andre
Rechte zu verletzen. Er ist ganz unfähig, mehr als dies zu leisten, und wird
immer fehlgreifen und durch Mißgriffe die Sache schädigen, wenn er sich in die
Interessen selbst mischt, statt ihre Förderung den Einzelnen und den Vereinen
zu überlassei,." So denkt die fortschrittliche Partei im ganzen auch. Ich würde
sagen, sie geht nicht einmal so weit, aber ein großer Unterschied ist nicht vor¬
handen. Denn bei Steinthal finden sich so gut wie bei Eugen Richter auch
anders klingende Maximen. So sagt er z. B. S. 239, daß „der Staat, über¬
haupt der umfassendere Verein, keine Pflicht übernehmen, keine Arbeit ausführen
soll, welche von dem engern Vereine oder von dem Einzelnen recht wohl zweck¬
mäßig und erfolgreich ausgeführt werden kann." So denken auch ganz andre
Männer, wie Hermann Schulze (in seinem Preußischen Staatsrecht, Einleitung,
S. 137). Aber nur eine einseitige manchesterliche Richtung, wie sie sich bei
den Staatsrechtslehrern wohl nicht mehr findet, kann mit Steinthal (S. 237)
behaupten, daß „der Staat, der für uns singt und unsre Geschäfte vollzieht,
unser Feind ist und sich selbst, der Pflege des Rechtes, untreu wird." Oder
(S. 233): „Der Staat soll nicht herrschen, denn man herrscht nur über Feinde.
In den Gesetzen des herrschenden Staates kann der Bürger uicht sein Recht
sehen, und kann er sich da uicht widersetzen, so wird er sich kriechend oder
murrend unterwerfen." Der Staat steht Steinthal nur darum als ein be¬
sondrer da, weil er alle Vereine und alle Einzelnen in ihren Rechten sichern
soll; er steht aber an Wert nicht über ihnen. „Der Staat soll als für sich
bestehende Macht gänzlich aufgehoben werden und die freie Gesellschaft der
Bürger an seine Stelle treten." Dabei leugnet Steinthal nicht die Unentbehr-
lichkeit des Staates. Wie gesagt, wir halten alle diese Versuche, den Staat


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[0214] Steinthcil über den Sozialismus. AU besprechen. Aber auch die scharfe Zurückweisung des Staatssozialismus ver¬ dient doch noch eine kleine Erörterung. Steinthal gehört, wie wir gesehen haben, nicht zu den Individualisten, wie sie gewöhnlich mit dem Begriffe des Mcmchestertnms zusammengedacht werden, aber dem Manchestertnme gehört er dennoch an, insofern dieses dem Staate nur die Handhabung des Rechtes zumißt und die Gesellschaft ihre sonstigen Geschäfte besorgen läßt. Das ist auch Stein¬ thals Ansicht, und sie tritt hie und da sogar leidenschaftlich hervor. Es ist ganz deutlich, daß es Gemütssache bei diesem hervorragenden Denker ist, den von ihm und Lazarus so viel besprochnen Begriff des objektiven Geistes auch dadurch zu verherrlichen, daß er ihm in der Regelung der Gesellschaft wunder¬ bare Leistungen zu gute schreibt. Dazu kommt noch, daß der vou ihm viel verehrte und zu hellerem Verständnis gebrachte Wilhelm von Humboldt in seinen Jugendaufsätzen die Wirksamkeit des Staates in außerordentlich enge Grenzen einschließt. Alles dies mag aus den etwas erregten Äußerungen Steinthals gegen die soziale Thätigkeit des Staates heraussprechen. S. 235 sagt er: „Der Staat hat sich um gar keine Interessen irgendeiner Person oder eines Vereins weiter zu kümmern, als daß er ihr Recht schützt und sie hindert, andre Rechte zu verletzen. Er ist ganz unfähig, mehr als dies zu leisten, und wird immer fehlgreifen und durch Mißgriffe die Sache schädigen, wenn er sich in die Interessen selbst mischt, statt ihre Förderung den Einzelnen und den Vereinen zu überlassei,." So denkt die fortschrittliche Partei im ganzen auch. Ich würde sagen, sie geht nicht einmal so weit, aber ein großer Unterschied ist nicht vor¬ handen. Denn bei Steinthal finden sich so gut wie bei Eugen Richter auch anders klingende Maximen. So sagt er z. B. S. 239, daß „der Staat, über¬ haupt der umfassendere Verein, keine Pflicht übernehmen, keine Arbeit ausführen soll, welche von dem engern Vereine oder von dem Einzelnen recht wohl zweck¬ mäßig und erfolgreich ausgeführt werden kann." So denken auch ganz andre Männer, wie Hermann Schulze (in seinem Preußischen Staatsrecht, Einleitung, S. 137). Aber nur eine einseitige manchesterliche Richtung, wie sie sich bei den Staatsrechtslehrern wohl nicht mehr findet, kann mit Steinthal (S. 237) behaupten, daß „der Staat, der für uns singt und unsre Geschäfte vollzieht, unser Feind ist und sich selbst, der Pflege des Rechtes, untreu wird." Oder (S. 233): „Der Staat soll nicht herrschen, denn man herrscht nur über Feinde. In den Gesetzen des herrschenden Staates kann der Bürger uicht sein Recht sehen, und kann er sich da uicht widersetzen, so wird er sich kriechend oder murrend unterwerfen." Der Staat steht Steinthal nur darum als ein be¬ sondrer da, weil er alle Vereine und alle Einzelnen in ihren Rechten sichern soll; er steht aber an Wert nicht über ihnen. „Der Staat soll als für sich bestehende Macht gänzlich aufgehoben werden und die freie Gesellschaft der Bürger an seine Stelle treten." Dabei leugnet Steinthal nicht die Unentbehr- lichkeit des Staates. Wie gesagt, wir halten alle diese Versuche, den Staat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/214>, abgerufen am 05.02.2025.