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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Steinthal über den Sozialismus.

irgendwelche Störung der sittlichen Ordnung." Auch hier ist wieder ein An¬
klang zu finden an F. A. Langes letzte Kapitel in der "Geschichte des Mate¬
rialismus." Lange hielt es nicht für möglich, den sozialdemokratischen Ansturm
zu vermeiden, ohne eine große sittliche Idee und Opfer. Ganz ähnlich soll sich
nach Steinthal der ideale Sozialismus einführen, der ja auch ganz gegen das
Rezept der roten Partei sich ohne die Erschütterungen des ganzen Lebens ver¬
wirklichen soll.

Wir haben damit den Exkurs über den Sozialismus zur Darstellung
gebracht. Nur einige Folgerungen müssen wir noch nachtragen, die der Ver¬
fasser aus seiner sozialistischen Versorgung durch die Gesellschaft zieht. Wo
er von der Ehe spricht, bemerkt er, daß ihr Wesen umso reiner zur Erscheinung
komme, je weniger die Thätigkeit des Mannes sür das Bedürfnis der Familie
zu sorgen habe, also am reinsten in der sozialistischen Einrichtung. Denn dann
habe die Frau dem Manne sür nichts weiter zu danken als für ihn selbst, und
umgekehrt. Für den Unterhalt sorgt ja die Gesellschaft. Auch der Umstand,
daß die Unverheirateten nur um ihres Unterhaltes willen die Ehe wünschen, fällt
dann weg; denn es muß ja sozialistisch auch für sie gesorgt werden. In Bezug
auf die Ansicht von der reinsten Erscheinung der Ehe möchte man wiederum
Steinthals Meinung an die eigne innere Erfahrung als Maßstab legen. Ist
es wirklich so, daß ein junges Paar, das nicht durch seine Arbeit, aber unter
Voraussetzung seiner freien Arbeit, von irgendeinem andern gerade so viel ge¬
schenkt erhält, als es braucht, ohne seine Lage verbessern zu können, das Glück
der Ehe am reinsten genießt? Ich kann dazu nicht ja sagen, obgleich ich sehr
wünsche, daß durch Erbe, Renteuversicherung und, um mit Schäffle zu sprechen,
durch "Widmungskapitalien" die äußere Lage der Familie noch gegen die Zu¬
fälle des Arbeitsverdienstes geschützt werde. Aber anch abgesehen von diesem
Umstände komme ich nicht über den ersten Fehler der Steinthalschen Konstruktion
hinaus, über die Abhängigkeit von der austeilenden Willkür der Gesellschaft, die
sich bei der Bestimmung desjenigen, was die Familie braucht, noch schwereren
Aufgaben gegenüber findet, als gegenüber dem Bedarf des Einzelne". In so
vielem bleiben wir von der Gesellschaft abhängig, stets und überall, aber es ist
ein erdrückender Gedanke, in allen täglichen Subsistenzfragen nicht etwa von
der mystisch gedachten Gesellschaft, sondern von einer Organisation bestimmter
Gesellschaftsglieder, konkreter Mitbürger schlechterdings abhängig zu sein. Selbst
in dem von Schäffle gezeichneten Kollektivwirtschaftssystem kann mehr Freiheit
in der Befriedigung meines Bedarfs walten, mehr Selbstverantwortlichkeit, mehr
Energie des Handelns geweckt werden als in diesem idealen Sozialismus
Steinthals. Und wegen dieses Grundfehlers wird dieser Sozialismus in den
mittlern bürgerlichen Klassen, in den Klassen, die schon den Wert freier Lebens¬
führung schätzen gelernt haben, wenig Zustimmung finden.

Es war von vornherein unsre Absicht, nur den vielerwähnteu Exkurs


Steinthal über den Sozialismus.

irgendwelche Störung der sittlichen Ordnung." Auch hier ist wieder ein An¬
klang zu finden an F. A. Langes letzte Kapitel in der „Geschichte des Mate¬
rialismus." Lange hielt es nicht für möglich, den sozialdemokratischen Ansturm
zu vermeiden, ohne eine große sittliche Idee und Opfer. Ganz ähnlich soll sich
nach Steinthal der ideale Sozialismus einführen, der ja auch ganz gegen das
Rezept der roten Partei sich ohne die Erschütterungen des ganzen Lebens ver¬
wirklichen soll.

Wir haben damit den Exkurs über den Sozialismus zur Darstellung
gebracht. Nur einige Folgerungen müssen wir noch nachtragen, die der Ver¬
fasser aus seiner sozialistischen Versorgung durch die Gesellschaft zieht. Wo
er von der Ehe spricht, bemerkt er, daß ihr Wesen umso reiner zur Erscheinung
komme, je weniger die Thätigkeit des Mannes sür das Bedürfnis der Familie
zu sorgen habe, also am reinsten in der sozialistischen Einrichtung. Denn dann
habe die Frau dem Manne sür nichts weiter zu danken als für ihn selbst, und
umgekehrt. Für den Unterhalt sorgt ja die Gesellschaft. Auch der Umstand,
daß die Unverheirateten nur um ihres Unterhaltes willen die Ehe wünschen, fällt
dann weg; denn es muß ja sozialistisch auch für sie gesorgt werden. In Bezug
auf die Ansicht von der reinsten Erscheinung der Ehe möchte man wiederum
Steinthals Meinung an die eigne innere Erfahrung als Maßstab legen. Ist
es wirklich so, daß ein junges Paar, das nicht durch seine Arbeit, aber unter
Voraussetzung seiner freien Arbeit, von irgendeinem andern gerade so viel ge¬
schenkt erhält, als es braucht, ohne seine Lage verbessern zu können, das Glück
der Ehe am reinsten genießt? Ich kann dazu nicht ja sagen, obgleich ich sehr
wünsche, daß durch Erbe, Renteuversicherung und, um mit Schäffle zu sprechen,
durch „Widmungskapitalien" die äußere Lage der Familie noch gegen die Zu¬
fälle des Arbeitsverdienstes geschützt werde. Aber anch abgesehen von diesem
Umstände komme ich nicht über den ersten Fehler der Steinthalschen Konstruktion
hinaus, über die Abhängigkeit von der austeilenden Willkür der Gesellschaft, die
sich bei der Bestimmung desjenigen, was die Familie braucht, noch schwereren
Aufgaben gegenüber findet, als gegenüber dem Bedarf des Einzelne». In so
vielem bleiben wir von der Gesellschaft abhängig, stets und überall, aber es ist
ein erdrückender Gedanke, in allen täglichen Subsistenzfragen nicht etwa von
der mystisch gedachten Gesellschaft, sondern von einer Organisation bestimmter
Gesellschaftsglieder, konkreter Mitbürger schlechterdings abhängig zu sein. Selbst
in dem von Schäffle gezeichneten Kollektivwirtschaftssystem kann mehr Freiheit
in der Befriedigung meines Bedarfs walten, mehr Selbstverantwortlichkeit, mehr
Energie des Handelns geweckt werden als in diesem idealen Sozialismus
Steinthals. Und wegen dieses Grundfehlers wird dieser Sozialismus in den
mittlern bürgerlichen Klassen, in den Klassen, die schon den Wert freier Lebens¬
führung schätzen gelernt haben, wenig Zustimmung finden.

Es war von vornherein unsre Absicht, nur den vielerwähnteu Exkurs


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[0213] Steinthal über den Sozialismus. irgendwelche Störung der sittlichen Ordnung." Auch hier ist wieder ein An¬ klang zu finden an F. A. Langes letzte Kapitel in der „Geschichte des Mate¬ rialismus." Lange hielt es nicht für möglich, den sozialdemokratischen Ansturm zu vermeiden, ohne eine große sittliche Idee und Opfer. Ganz ähnlich soll sich nach Steinthal der ideale Sozialismus einführen, der ja auch ganz gegen das Rezept der roten Partei sich ohne die Erschütterungen des ganzen Lebens ver¬ wirklichen soll. Wir haben damit den Exkurs über den Sozialismus zur Darstellung gebracht. Nur einige Folgerungen müssen wir noch nachtragen, die der Ver¬ fasser aus seiner sozialistischen Versorgung durch die Gesellschaft zieht. Wo er von der Ehe spricht, bemerkt er, daß ihr Wesen umso reiner zur Erscheinung komme, je weniger die Thätigkeit des Mannes sür das Bedürfnis der Familie zu sorgen habe, also am reinsten in der sozialistischen Einrichtung. Denn dann habe die Frau dem Manne sür nichts weiter zu danken als für ihn selbst, und umgekehrt. Für den Unterhalt sorgt ja die Gesellschaft. Auch der Umstand, daß die Unverheirateten nur um ihres Unterhaltes willen die Ehe wünschen, fällt dann weg; denn es muß ja sozialistisch auch für sie gesorgt werden. In Bezug auf die Ansicht von der reinsten Erscheinung der Ehe möchte man wiederum Steinthals Meinung an die eigne innere Erfahrung als Maßstab legen. Ist es wirklich so, daß ein junges Paar, das nicht durch seine Arbeit, aber unter Voraussetzung seiner freien Arbeit, von irgendeinem andern gerade so viel ge¬ schenkt erhält, als es braucht, ohne seine Lage verbessern zu können, das Glück der Ehe am reinsten genießt? Ich kann dazu nicht ja sagen, obgleich ich sehr wünsche, daß durch Erbe, Renteuversicherung und, um mit Schäffle zu sprechen, durch „Widmungskapitalien" die äußere Lage der Familie noch gegen die Zu¬ fälle des Arbeitsverdienstes geschützt werde. Aber anch abgesehen von diesem Umstände komme ich nicht über den ersten Fehler der Steinthalschen Konstruktion hinaus, über die Abhängigkeit von der austeilenden Willkür der Gesellschaft, die sich bei der Bestimmung desjenigen, was die Familie braucht, noch schwereren Aufgaben gegenüber findet, als gegenüber dem Bedarf des Einzelne». In so vielem bleiben wir von der Gesellschaft abhängig, stets und überall, aber es ist ein erdrückender Gedanke, in allen täglichen Subsistenzfragen nicht etwa von der mystisch gedachten Gesellschaft, sondern von einer Organisation bestimmter Gesellschaftsglieder, konkreter Mitbürger schlechterdings abhängig zu sein. Selbst in dem von Schäffle gezeichneten Kollektivwirtschaftssystem kann mehr Freiheit in der Befriedigung meines Bedarfs walten, mehr Selbstverantwortlichkeit, mehr Energie des Handelns geweckt werden als in diesem idealen Sozialismus Steinthals. Und wegen dieses Grundfehlers wird dieser Sozialismus in den mittlern bürgerlichen Klassen, in den Klassen, die schon den Wert freier Lebens¬ führung schätzen gelernt haben, wenig Zustimmung finden. Es war von vornherein unsre Absicht, nur den vielerwähnteu Exkurs

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/213>, abgerufen am 05.02.2025.