Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Ungehaltene Roben eines Nichtgewählten. Deutschlands. Ich bin kein Mann des Pathos und der Phrase, mir stehen So urteilt die Mitwelt, und was wird einst die Nachwelt sagen! Aber, Ungehaltene Roben eines Nichtgewählten. Deutschlands. Ich bin kein Mann des Pathos und der Phrase, mir stehen So urteilt die Mitwelt, und was wird einst die Nachwelt sagen! Aber, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0188" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197612"/> <fw type="header" place="top"> Ungehaltene Roben eines Nichtgewählten.</fw><lb/> <p xml:id="ID_559" prev="#ID_558"> Deutschlands. Ich bin kein Mann des Pathos und der Phrase, mir stehen<lb/> nur schlichte Worte patriotischer Bekümmernis zu Gebote. Und so sage ich<lb/> Ihnen einfach und kunstlos: Das Scheusal der Reaktion schleicht unhörbar<lb/> von allen Seiten an uns herau, fletscht klirrend die Zähne und stößt aus blut¬<lb/> triefenden Nachen gellendes Geheul hervor. Jede Freiheit zertrampelt und<lb/> verschlingt das Ungeheuer, um mit dem Polizeistaate, dem Militarismus und<lb/> der Frömmelei wüste Orgien zu feiern. Oder kann noch von Freiheit der<lb/> Presse gesprochen werden, wo der Staatsanwalt auf jede Beleidigung einer<lb/> Behörde fahndet? Von einem Versammlungsrechte, wo jedem Redner, der<lb/> ganz bescheiden zum Untergraben der Fundamente des Staates auffordert,<lb/> sofort das Wort entzogen wird? Von persönlicher Freiheit, wo unmündige<lb/> Greise ausgewiesen werden aus keinem andern Grunde, als weil sie, wie wir<lb/> aus den' Mitteilungen der Herren Möller, Windthorst und Jazdzewski ent¬<lb/> nehmen konnten, jüdisch-katholische Polen sind? Von einem Wahlrechte, wo man<lb/> russische Unterthanen verhindert, ihrer Hinneigung zu Deutschland durch Stimmen¬<lb/> abgabe für Herren Rickert Ausdruck zu geben? Tief gesunken ist das Ansehen<lb/> Deutschlands in der Welt und würde nicht mehr tiefer sinken können, wenn<lb/> nicht dann und wann eine große Staatsrede eines unsrer zukünftigen Reichs¬<lb/> kanzler, der Herren Richter, Vamberger, Rickert u. s. w., es wieder kreditfähig<lb/> machte. Sämtliche Cohns und Levys, sämtliche Frankfurters und Goldsteins<lb/> der ganzen europäischen Presse schlagen bereits die Hände über dem Kopfe zu¬<lb/> sammen und rufe» Wehe über unsre Barbarei. Mit Recht sprechen sie: „Haben<lb/> wir darum andre Leute ihr Blut verspritzen lassen für die Einheit Deutschlands?<lb/> Haben wir darum Bismarck an jedem Morgen zugeflüstert, wie er die Pläne<lb/> der Gegner zunichte machen könne? Haben wir darum seine Maßregeln, die<lb/> nicht mit unserm Rate in Einklang waren, dennoch gebilligt, sobald der Erfolg<lb/> ihm Recht gegeben hatte? Ein Palästina sollte das neue Reich werden, ein<lb/> Land nämlich, wo Milch und Honig und Geschäft fließt; statt dessen ist es eine<lb/> Zwingburg geworden im Stile jenes Mittelalters, welches wir aus den<lb/> wissenschaftlichen Werken von Spieß, Cramer und Adolf Streckfuß so gründ¬<lb/> lich kennen. Wir schütteln den Staub von unsern Füßen und rufen Wehe liber<lb/> Deutschland!"</p><lb/> <p xml:id="ID_560" next="#ID_561"> So urteilt die Mitwelt, und was wird einst die Nachwelt sagen! Aber,<lb/> ich wiederhole es, noch sind wir da, und wir, z. B. die Herren Liebknecht,<lb/> Richter und ich, bedeuten etwas mehr als der Reichskanzler. Bildet er sich<lb/> etwas auf seine Thaten ein, so sind wir mit besserm Rechte stolz auf das, was<lb/> wir einmal thun werden. Ihm gehört die Vergangenheit, für welche bekanntlich<lb/> der Handelsmann nichts giebt, uns die Zukunft. Wie viel Monat ». clato der<lb/> Wechsel honorirt werden wird, das kann ich im Augenblicke noch nicht sagen,<lb/> und für alle Fälle halte ich mir die Prolongation frei. Jetzt aber scharen wir<lb/> uns um die Ideale unsrer Jugend und decken sie mit unsern Leibern! Mag</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0188]
Ungehaltene Roben eines Nichtgewählten.
Deutschlands. Ich bin kein Mann des Pathos und der Phrase, mir stehen
nur schlichte Worte patriotischer Bekümmernis zu Gebote. Und so sage ich
Ihnen einfach und kunstlos: Das Scheusal der Reaktion schleicht unhörbar
von allen Seiten an uns herau, fletscht klirrend die Zähne und stößt aus blut¬
triefenden Nachen gellendes Geheul hervor. Jede Freiheit zertrampelt und
verschlingt das Ungeheuer, um mit dem Polizeistaate, dem Militarismus und
der Frömmelei wüste Orgien zu feiern. Oder kann noch von Freiheit der
Presse gesprochen werden, wo der Staatsanwalt auf jede Beleidigung einer
Behörde fahndet? Von einem Versammlungsrechte, wo jedem Redner, der
ganz bescheiden zum Untergraben der Fundamente des Staates auffordert,
sofort das Wort entzogen wird? Von persönlicher Freiheit, wo unmündige
Greise ausgewiesen werden aus keinem andern Grunde, als weil sie, wie wir
aus den' Mitteilungen der Herren Möller, Windthorst und Jazdzewski ent¬
nehmen konnten, jüdisch-katholische Polen sind? Von einem Wahlrechte, wo man
russische Unterthanen verhindert, ihrer Hinneigung zu Deutschland durch Stimmen¬
abgabe für Herren Rickert Ausdruck zu geben? Tief gesunken ist das Ansehen
Deutschlands in der Welt und würde nicht mehr tiefer sinken können, wenn
nicht dann und wann eine große Staatsrede eines unsrer zukünftigen Reichs¬
kanzler, der Herren Richter, Vamberger, Rickert u. s. w., es wieder kreditfähig
machte. Sämtliche Cohns und Levys, sämtliche Frankfurters und Goldsteins
der ganzen europäischen Presse schlagen bereits die Hände über dem Kopfe zu¬
sammen und rufe» Wehe über unsre Barbarei. Mit Recht sprechen sie: „Haben
wir darum andre Leute ihr Blut verspritzen lassen für die Einheit Deutschlands?
Haben wir darum Bismarck an jedem Morgen zugeflüstert, wie er die Pläne
der Gegner zunichte machen könne? Haben wir darum seine Maßregeln, die
nicht mit unserm Rate in Einklang waren, dennoch gebilligt, sobald der Erfolg
ihm Recht gegeben hatte? Ein Palästina sollte das neue Reich werden, ein
Land nämlich, wo Milch und Honig und Geschäft fließt; statt dessen ist es eine
Zwingburg geworden im Stile jenes Mittelalters, welches wir aus den
wissenschaftlichen Werken von Spieß, Cramer und Adolf Streckfuß so gründ¬
lich kennen. Wir schütteln den Staub von unsern Füßen und rufen Wehe liber
Deutschland!"
So urteilt die Mitwelt, und was wird einst die Nachwelt sagen! Aber,
ich wiederhole es, noch sind wir da, und wir, z. B. die Herren Liebknecht,
Richter und ich, bedeuten etwas mehr als der Reichskanzler. Bildet er sich
etwas auf seine Thaten ein, so sind wir mit besserm Rechte stolz auf das, was
wir einmal thun werden. Ihm gehört die Vergangenheit, für welche bekanntlich
der Handelsmann nichts giebt, uns die Zukunft. Wie viel Monat ». clato der
Wechsel honorirt werden wird, das kann ich im Augenblicke noch nicht sagen,
und für alle Fälle halte ich mir die Prolongation frei. Jetzt aber scharen wir
uns um die Ideale unsrer Jugend und decken sie mit unsern Leibern! Mag
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