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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Archäologie und Anschauung.

Ein zweiter Mangel an unsern Gymnasien, auf welchen Brunn hinweist,
ist die ungenügende Ausbildung im Zeichnen. Hier geschieht in der That viel
zu wenig. Das Zeichnen ist freilich eine Kunst, zu deren erfolgreicher Aus¬
übung jemand Talent mitbringen muß, und die Mehrzahl der Menschen ent¬
behrt dieser Anlage; aber so viel konnte durch geeigneten Unterricht jedem,
selbst dem ungeschicktesten Menschen, beigebracht werden, daß er imstande wäre,
ein nicht zu schwieriges Objekt wiederzugeben, wohlverstanden nach der Natur,
nicht nach einer Vorzeichnung; denn das ist es ja gerade, was geübt werden
soll. "Der Gymuasialunterricht im Zeichnen, sagt Brunn, soll nicht eine Vor¬
schule für den künftigen Künstler sein, nicht einmal sür ein geschicktes Dilettanten¬
tum; er soll vielmehr auf die Ausbildung des Auges und damit auf das Ver¬
ständnis der Form hinwirken, und indem es sich dabei gerade wie bei der
Mathematik um Linien und Flächen und ihre Verbindung zu körperlichen
Formen handelt, so soll auch das Zeichne" auf seiner ersten Stufe diese plcmi-
mctrischen und stereometrischen Grundlagen ausdrücklich betonen: es soll einen
überwiegend konstruktiven Charakter tragen." Mit der Zeit kann ja auch hier
weiter fortgeschritten werden, so weit es bei jedem die Anlage erlaubt; aber ein
gewisses technisches Können müßte sich jeder Schüler ans dem Gymnasium zu
erwerben die Gelegenheit haben. Es lernen Tausende und aber Tausende, welche
nicht das geringste musikalische Talent, ja nicht einmal Gehör haben, Klavier
spielen und bereiten damit lediglich ihren Mitmenschen Mißvergnügen und sich
selbst keine Freude; daß die gleiche Zeit unendlich besser und nützlicher cmge-
wcmdr wäre, wenn man sie einem methodischen Zeichenunterrichte widmete,
daran scheint niemand zu denken. Um wieviel aber das Verständnis der
künstlerischen Formen wächst, wenn jemand selbst die Gesetze der Perspektive
kennt und anwenden kann, wenn er mit dem Stifte den Linien eines Kunst¬
werkes im allgemeinen zu folgen vermag, das bedarf wohl keiner besondern
Darlegung.

Freilich müßte der Zeichenunterricht auf den Gymnasien, wenn er wirklich
ersprießlich sein soll, so viel als möglich aus der Hand der Fachlehrer in die
der Gmynasiallehrcr übergehen. Die Zeichenlehrer vom Fach pflegen sich mit
Vorliebe denjenigen Schülern zu widmen, die Anlage für das Zeichnen haben
und die sie weiterbringen können, die übrigen aber zu > vernachlässigen; zudem
ist es eine bekannte Thatsache, daß es bei ihnen meist mit der Disziplin hapert,
worunter der Unterricht natürlich leiden muß.

Daß, worauf Brunn ebenfalls hinweist, auch der Lehrer des Deutschen
vielfach Gelegenheit hat, durch Übung im Beschreiben die Anschauung zu fördern,
liegt auf der Hand. Was man da auf deu untern Stufen "Anschauungs¬
unterricht" nennt, sollte, nur in entsprechend fortschreitender Weise, auch auf
höhern Stufen noch fortgesetzt werden. Beschreibende Aufsätze, wie die Be¬
schreibung eines Gemäldes, die Schilderung einer Landschaft u. dergl., sollten


Archäologie und Anschauung.

Ein zweiter Mangel an unsern Gymnasien, auf welchen Brunn hinweist,
ist die ungenügende Ausbildung im Zeichnen. Hier geschieht in der That viel
zu wenig. Das Zeichnen ist freilich eine Kunst, zu deren erfolgreicher Aus¬
übung jemand Talent mitbringen muß, und die Mehrzahl der Menschen ent¬
behrt dieser Anlage; aber so viel konnte durch geeigneten Unterricht jedem,
selbst dem ungeschicktesten Menschen, beigebracht werden, daß er imstande wäre,
ein nicht zu schwieriges Objekt wiederzugeben, wohlverstanden nach der Natur,
nicht nach einer Vorzeichnung; denn das ist es ja gerade, was geübt werden
soll. „Der Gymuasialunterricht im Zeichnen, sagt Brunn, soll nicht eine Vor¬
schule für den künftigen Künstler sein, nicht einmal sür ein geschicktes Dilettanten¬
tum; er soll vielmehr auf die Ausbildung des Auges und damit auf das Ver¬
ständnis der Form hinwirken, und indem es sich dabei gerade wie bei der
Mathematik um Linien und Flächen und ihre Verbindung zu körperlichen
Formen handelt, so soll auch das Zeichne« auf seiner ersten Stufe diese plcmi-
mctrischen und stereometrischen Grundlagen ausdrücklich betonen: es soll einen
überwiegend konstruktiven Charakter tragen." Mit der Zeit kann ja auch hier
weiter fortgeschritten werden, so weit es bei jedem die Anlage erlaubt; aber ein
gewisses technisches Können müßte sich jeder Schüler ans dem Gymnasium zu
erwerben die Gelegenheit haben. Es lernen Tausende und aber Tausende, welche
nicht das geringste musikalische Talent, ja nicht einmal Gehör haben, Klavier
spielen und bereiten damit lediglich ihren Mitmenschen Mißvergnügen und sich
selbst keine Freude; daß die gleiche Zeit unendlich besser und nützlicher cmge-
wcmdr wäre, wenn man sie einem methodischen Zeichenunterrichte widmete,
daran scheint niemand zu denken. Um wieviel aber das Verständnis der
künstlerischen Formen wächst, wenn jemand selbst die Gesetze der Perspektive
kennt und anwenden kann, wenn er mit dem Stifte den Linien eines Kunst¬
werkes im allgemeinen zu folgen vermag, das bedarf wohl keiner besondern
Darlegung.

Freilich müßte der Zeichenunterricht auf den Gymnasien, wenn er wirklich
ersprießlich sein soll, so viel als möglich aus der Hand der Fachlehrer in die
der Gmynasiallehrcr übergehen. Die Zeichenlehrer vom Fach pflegen sich mit
Vorliebe denjenigen Schülern zu widmen, die Anlage für das Zeichnen haben
und die sie weiterbringen können, die übrigen aber zu > vernachlässigen; zudem
ist es eine bekannte Thatsache, daß es bei ihnen meist mit der Disziplin hapert,
worunter der Unterricht natürlich leiden muß.

Daß, worauf Brunn ebenfalls hinweist, auch der Lehrer des Deutschen
vielfach Gelegenheit hat, durch Übung im Beschreiben die Anschauung zu fördern,
liegt auf der Hand. Was man da auf deu untern Stufen „Anschauungs¬
unterricht" nennt, sollte, nur in entsprechend fortschreitender Weise, auch auf
höhern Stufen noch fortgesetzt werden. Beschreibende Aufsätze, wie die Be¬
schreibung eines Gemäldes, die Schilderung einer Landschaft u. dergl., sollten


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[0184] Archäologie und Anschauung. Ein zweiter Mangel an unsern Gymnasien, auf welchen Brunn hinweist, ist die ungenügende Ausbildung im Zeichnen. Hier geschieht in der That viel zu wenig. Das Zeichnen ist freilich eine Kunst, zu deren erfolgreicher Aus¬ übung jemand Talent mitbringen muß, und die Mehrzahl der Menschen ent¬ behrt dieser Anlage; aber so viel konnte durch geeigneten Unterricht jedem, selbst dem ungeschicktesten Menschen, beigebracht werden, daß er imstande wäre, ein nicht zu schwieriges Objekt wiederzugeben, wohlverstanden nach der Natur, nicht nach einer Vorzeichnung; denn das ist es ja gerade, was geübt werden soll. „Der Gymuasialunterricht im Zeichnen, sagt Brunn, soll nicht eine Vor¬ schule für den künftigen Künstler sein, nicht einmal sür ein geschicktes Dilettanten¬ tum; er soll vielmehr auf die Ausbildung des Auges und damit auf das Ver¬ ständnis der Form hinwirken, und indem es sich dabei gerade wie bei der Mathematik um Linien und Flächen und ihre Verbindung zu körperlichen Formen handelt, so soll auch das Zeichne« auf seiner ersten Stufe diese plcmi- mctrischen und stereometrischen Grundlagen ausdrücklich betonen: es soll einen überwiegend konstruktiven Charakter tragen." Mit der Zeit kann ja auch hier weiter fortgeschritten werden, so weit es bei jedem die Anlage erlaubt; aber ein gewisses technisches Können müßte sich jeder Schüler ans dem Gymnasium zu erwerben die Gelegenheit haben. Es lernen Tausende und aber Tausende, welche nicht das geringste musikalische Talent, ja nicht einmal Gehör haben, Klavier spielen und bereiten damit lediglich ihren Mitmenschen Mißvergnügen und sich selbst keine Freude; daß die gleiche Zeit unendlich besser und nützlicher cmge- wcmdr wäre, wenn man sie einem methodischen Zeichenunterrichte widmete, daran scheint niemand zu denken. Um wieviel aber das Verständnis der künstlerischen Formen wächst, wenn jemand selbst die Gesetze der Perspektive kennt und anwenden kann, wenn er mit dem Stifte den Linien eines Kunst¬ werkes im allgemeinen zu folgen vermag, das bedarf wohl keiner besondern Darlegung. Freilich müßte der Zeichenunterricht auf den Gymnasien, wenn er wirklich ersprießlich sein soll, so viel als möglich aus der Hand der Fachlehrer in die der Gmynasiallehrcr übergehen. Die Zeichenlehrer vom Fach pflegen sich mit Vorliebe denjenigen Schülern zu widmen, die Anlage für das Zeichnen haben und die sie weiterbringen können, die übrigen aber zu > vernachlässigen; zudem ist es eine bekannte Thatsache, daß es bei ihnen meist mit der Disziplin hapert, worunter der Unterricht natürlich leiden muß. Daß, worauf Brunn ebenfalls hinweist, auch der Lehrer des Deutschen vielfach Gelegenheit hat, durch Übung im Beschreiben die Anschauung zu fördern, liegt auf der Hand. Was man da auf deu untern Stufen „Anschauungs¬ unterricht" nennt, sollte, nur in entsprechend fortschreitender Weise, auch auf höhern Stufen noch fortgesetzt werden. Beschreibende Aufsätze, wie die Be¬ schreibung eines Gemäldes, die Schilderung einer Landschaft u. dergl., sollten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/184>, abgerufen am 05.02.2025.