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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Agitationen ans dem Gebiete der höheren Schulen.

als eine vorzugsweise ideal gerichtete darstellt. Wir müssen es indes den
Agitatoren überlassen, was sie und ihre Hintcrmcinner vorziehen, Beibe¬
haltung aber Gleichmachung der Berechtigungen nach der Kursusdauer, oder
Aufhebung aller Berechtigungen. Denn dies System, das in England ja be¬
liebt ist, könnte vielleicht dem Bürgertume und dem Liberalismus zusagen.
Jeder Zweig des öffentlichen Dienstes setzt seine Examina fest, ohne zu fragen,
wo der Aspirant seine Vorbildung genossen habe und wie lange er dazu nötig
gehabt habe zu sitzen. Das ist wenigstens eine diskutable Einrichtung; vielleicht
wäre sie die beste, wenn sie sich noch in unsre Bildungspolitik einfügen ließe,
was sich in Parlamentskreisen ja leicht herausstellen müßte.

Bis jetzt war immer noch angenommen, nur das Griechische sei gleich-
giltig für die Bildung und die Karriere der höhern Jugend. Das Lateinische
wurde noch im allgemeinen unentbehrlich gefunden; aber es läßt sich denken,
daß derselbe politisch-soziale Gedankengang, der sich von der Pädagogik gänzlich
abgelöst hat, noch weiter drängt. Wir haben besonders seit den Annexionen
von 1866 mehrere lateinlose Schulen. Sie haben seit 1882 ein festes Regu¬
lativ. Sind sie sechsjährig, so heißen sie höhere Bürgerschulen, sind sie Sieben¬
jährig, so sind sie Realschulen, und wenn sie neunjährig sind, so sind sie Ober-
realschnlen. Diese lateinlosen Schulen sind nach vielen die eigentlichen Schulen
der Zukunft. In Bochum wurde der Umstand, daß sie bei uns mit Ausnahme
von großen Städten nicht recht gedeihen wollen, von den geringen Berech¬
tigungen abgeleitet, die sie bisher haben. Das ist gewiß richtig, besonders die
höhere Bürgerschule mit ihrer einzigen, noch dazu verkümmerten Militärberech¬
tigung spielt eine traurige Rolle. Warum man diesen lateinlosen Schulen noch
nicht die üblichen Berechtigungen zuerkannt hat, dafür ist der Grund nicht
sowohl im Kultusministerium zu suchen; man will diesen Schulen im Gegenteil
wohl und denkt in dieselben die Schüler abzuleiten, die doch keine neunjährige
Schule durchmachen können, weil es ihnen an Zeit oder an Kraft fehlt. Es
wird an dem Umstände liegen, daß in vielen öffentlichen Dicnstzweigen die
Vorsteher noch das "Vorurteil" haben, die Bildung durch das Lateinische sei
"kein leerer Wahn." Aber man wird solchen zurückgebliebnen "Büreaukraten"
schon ein Licht aufstecken. Es giebt ja auch Gründe, die die UnWichtigkeit des
Lateinischen ebensogut zeigen, wie man die gänzliche Entbehrlichkeit des Grie¬
chischen längst bewiesen hat. Aber wozu brauchte es der Gründe in einer
Sache, die so ganz im Sinne der Zeit liegt, die auf allen Gebieten freie Be¬
wegung, Abthun aller Privilegien, modernen Weltverkehr durch Parliren
fremder Sprachen hegt und erstrebt. Was kann die Pädagogik gegen solche
Tendenzen machen, selbst wenn die Pädagogen zeigen könnten, was sie nicht
können, das Lateinische sei auch noch dem modernen Menschen ein unersetz¬
liches Bildungselement. Also die Agitation wird das nähere schon besorgen.
Nämlich -- und dies ist die politisch-soziale Höhe des Gedankenganges --:


Agitationen ans dem Gebiete der höheren Schulen.

als eine vorzugsweise ideal gerichtete darstellt. Wir müssen es indes den
Agitatoren überlassen, was sie und ihre Hintcrmcinner vorziehen, Beibe¬
haltung aber Gleichmachung der Berechtigungen nach der Kursusdauer, oder
Aufhebung aller Berechtigungen. Denn dies System, das in England ja be¬
liebt ist, könnte vielleicht dem Bürgertume und dem Liberalismus zusagen.
Jeder Zweig des öffentlichen Dienstes setzt seine Examina fest, ohne zu fragen,
wo der Aspirant seine Vorbildung genossen habe und wie lange er dazu nötig
gehabt habe zu sitzen. Das ist wenigstens eine diskutable Einrichtung; vielleicht
wäre sie die beste, wenn sie sich noch in unsre Bildungspolitik einfügen ließe,
was sich in Parlamentskreisen ja leicht herausstellen müßte.

Bis jetzt war immer noch angenommen, nur das Griechische sei gleich-
giltig für die Bildung und die Karriere der höhern Jugend. Das Lateinische
wurde noch im allgemeinen unentbehrlich gefunden; aber es läßt sich denken,
daß derselbe politisch-soziale Gedankengang, der sich von der Pädagogik gänzlich
abgelöst hat, noch weiter drängt. Wir haben besonders seit den Annexionen
von 1866 mehrere lateinlose Schulen. Sie haben seit 1882 ein festes Regu¬
lativ. Sind sie sechsjährig, so heißen sie höhere Bürgerschulen, sind sie Sieben¬
jährig, so sind sie Realschulen, und wenn sie neunjährig sind, so sind sie Ober-
realschnlen. Diese lateinlosen Schulen sind nach vielen die eigentlichen Schulen
der Zukunft. In Bochum wurde der Umstand, daß sie bei uns mit Ausnahme
von großen Städten nicht recht gedeihen wollen, von den geringen Berech¬
tigungen abgeleitet, die sie bisher haben. Das ist gewiß richtig, besonders die
höhere Bürgerschule mit ihrer einzigen, noch dazu verkümmerten Militärberech¬
tigung spielt eine traurige Rolle. Warum man diesen lateinlosen Schulen noch
nicht die üblichen Berechtigungen zuerkannt hat, dafür ist der Grund nicht
sowohl im Kultusministerium zu suchen; man will diesen Schulen im Gegenteil
wohl und denkt in dieselben die Schüler abzuleiten, die doch keine neunjährige
Schule durchmachen können, weil es ihnen an Zeit oder an Kraft fehlt. Es
wird an dem Umstände liegen, daß in vielen öffentlichen Dicnstzweigen die
Vorsteher noch das „Vorurteil" haben, die Bildung durch das Lateinische sei
„kein leerer Wahn." Aber man wird solchen zurückgebliebnen „Büreaukraten"
schon ein Licht aufstecken. Es giebt ja auch Gründe, die die UnWichtigkeit des
Lateinischen ebensogut zeigen, wie man die gänzliche Entbehrlichkeit des Grie¬
chischen längst bewiesen hat. Aber wozu brauchte es der Gründe in einer
Sache, die so ganz im Sinne der Zeit liegt, die auf allen Gebieten freie Be¬
wegung, Abthun aller Privilegien, modernen Weltverkehr durch Parliren
fremder Sprachen hegt und erstrebt. Was kann die Pädagogik gegen solche
Tendenzen machen, selbst wenn die Pädagogen zeigen könnten, was sie nicht
können, das Lateinische sei auch noch dem modernen Menschen ein unersetz¬
liches Bildungselement. Also die Agitation wird das nähere schon besorgen.
Nämlich — und dies ist die politisch-soziale Höhe des Gedankenganges —:


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[0179] Agitationen ans dem Gebiete der höheren Schulen. als eine vorzugsweise ideal gerichtete darstellt. Wir müssen es indes den Agitatoren überlassen, was sie und ihre Hintcrmcinner vorziehen, Beibe¬ haltung aber Gleichmachung der Berechtigungen nach der Kursusdauer, oder Aufhebung aller Berechtigungen. Denn dies System, das in England ja be¬ liebt ist, könnte vielleicht dem Bürgertume und dem Liberalismus zusagen. Jeder Zweig des öffentlichen Dienstes setzt seine Examina fest, ohne zu fragen, wo der Aspirant seine Vorbildung genossen habe und wie lange er dazu nötig gehabt habe zu sitzen. Das ist wenigstens eine diskutable Einrichtung; vielleicht wäre sie die beste, wenn sie sich noch in unsre Bildungspolitik einfügen ließe, was sich in Parlamentskreisen ja leicht herausstellen müßte. Bis jetzt war immer noch angenommen, nur das Griechische sei gleich- giltig für die Bildung und die Karriere der höhern Jugend. Das Lateinische wurde noch im allgemeinen unentbehrlich gefunden; aber es läßt sich denken, daß derselbe politisch-soziale Gedankengang, der sich von der Pädagogik gänzlich abgelöst hat, noch weiter drängt. Wir haben besonders seit den Annexionen von 1866 mehrere lateinlose Schulen. Sie haben seit 1882 ein festes Regu¬ lativ. Sind sie sechsjährig, so heißen sie höhere Bürgerschulen, sind sie Sieben¬ jährig, so sind sie Realschulen, und wenn sie neunjährig sind, so sind sie Ober- realschnlen. Diese lateinlosen Schulen sind nach vielen die eigentlichen Schulen der Zukunft. In Bochum wurde der Umstand, daß sie bei uns mit Ausnahme von großen Städten nicht recht gedeihen wollen, von den geringen Berech¬ tigungen abgeleitet, die sie bisher haben. Das ist gewiß richtig, besonders die höhere Bürgerschule mit ihrer einzigen, noch dazu verkümmerten Militärberech¬ tigung spielt eine traurige Rolle. Warum man diesen lateinlosen Schulen noch nicht die üblichen Berechtigungen zuerkannt hat, dafür ist der Grund nicht sowohl im Kultusministerium zu suchen; man will diesen Schulen im Gegenteil wohl und denkt in dieselben die Schüler abzuleiten, die doch keine neunjährige Schule durchmachen können, weil es ihnen an Zeit oder an Kraft fehlt. Es wird an dem Umstände liegen, daß in vielen öffentlichen Dicnstzweigen die Vorsteher noch das „Vorurteil" haben, die Bildung durch das Lateinische sei „kein leerer Wahn." Aber man wird solchen zurückgebliebnen „Büreaukraten" schon ein Licht aufstecken. Es giebt ja auch Gründe, die die UnWichtigkeit des Lateinischen ebensogut zeigen, wie man die gänzliche Entbehrlichkeit des Grie¬ chischen längst bewiesen hat. Aber wozu brauchte es der Gründe in einer Sache, die so ganz im Sinne der Zeit liegt, die auf allen Gebieten freie Be¬ wegung, Abthun aller Privilegien, modernen Weltverkehr durch Parliren fremder Sprachen hegt und erstrebt. Was kann die Pädagogik gegen solche Tendenzen machen, selbst wenn die Pädagogen zeigen könnten, was sie nicht können, das Lateinische sei auch noch dem modernen Menschen ein unersetz¬ liches Bildungselement. Also die Agitation wird das nähere schon besorgen. Nämlich — und dies ist die politisch-soziale Höhe des Gedankenganges —:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/179>, abgerufen am 05.02.2025.