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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Der Verlust des Volkstums durch die Sprache.

nicht oft decken. Zusammengesetzt aus selbständigen Wortelementen sind der
Mehrzahl nach im Deutschen auch die grammatischen Zeiten, denen gegenüber
verschmolzene Wortbildungen in andern Sprachen stehe". Auch hier liegt der¬
selbe Grund vor, ans dem es dem Deutschen große Mühe verursacht, sich an
die fremden Elemente zu gewöhnen. Der größten Anstrengungen bedarf es
z. B., damit der Deutsche die Feinheiten des slawischen Zeitwortes verstehe,
welches durch eigens hierzu ausgeprägte Formen fähig ist, die verschiednen
Grade der Thätigleits- und Znstandsdaner sehr genau auszudrücken.

Die Redeteile also und ihre gegenwärtige Ausbildung siud das zweite
Hauptelement, welches bei der Erlernung einer fremden Sprache in Betracht
kommt, und dessen Bewältigung desto schwerer vor sich geht, je weniger Elemente
die Sprache des Lernenden besitzt, um die fremde Sprache damit Teil für Teil
zu decken.

Faßt man das bisher gesagte über die Aussprache und die Redebestandteilc
in den Sprachen zusammen, so könnte man nur gerade bei dem Deutschen geneigt
sein, anzunehmen, daß er die fremden Sprachen seiner Nachbarvölker schwerer
erlerne, als jene die seinige, und daß also eher die Nachbarn durch die deutsche
Sprache eutnativualisirt werden müßten. Denn dort, wo sür den Deutschen
Schwierigkeiten vorhanden sind, bestehen für den Fremden oft Leichtigkeiten,
teils weil jene sowohl Lautelemente besitzen, die sich mit denen der deutschen
Sprache decken, teils weil die Zusammensetzungen der Wörter und grammati¬
kalischen Forme,? in manchen fremden Sprachen feiner sind, und die betreffenden
Völker daher leichter imstande sind, die mehr sichtbaren, gleichwertigen Zeichen
der deutschen Sprache zu erfassen und zu handhaben. Man sollte also meinen,
daß die Fremden beim Zusammentreffen mit den Deutschen sich geneigt zeigen
würden, die Sprache derselben anzunehmen, also mit den Deutschen deutsch zu
verkehren. Wie kommt statt dessen der Deutsche, obwohl er manche nichtdentsche
Sprache schwer erlernen muß, dazu, sich dem sür ihn schwereren anzupassen,
damit er es dem Fremden zuliebe handhabe?

Für dieses Problem, welches erst in solcher Zuspitzung seine ganze Schwierigkeit
zeigt, liegt die Lösung in einem Umstände, den wir vorausschicke!! müssen, dem
Umstände nämlich, daß es sich bei der Entnationalisirung durch die Sprache
garnicht um die in der Schrift niedergelegte Sprache, sondern lediglich um den
lebendigen Verkehr zwischen Mensch und Mensch handelt. Bei der Berührung
zweier Menschen, von denen jedem die Muttersprache des andern gänzlich un¬
bekannt ist, zeigt sich, daß die mechanische Arbeit den Ausschlag giebt, welche
bei der Aussprache des nächsten besten Wortes vom Sprechenden aufgewendet
werden muß. Für jeden von beiden läuft nämlich seine Muttersprache sozu¬
sagen auf "aufgefahrenen Bahnen", wie sich der Wiener Phhsiologe Brücke aus¬
drückt, und es wird sich der Deutsche z. B. bei der Hervorbringung seiner eignen
Sprachbestandteile nicht einmal bewußt, welche mechanische Arbeit er während


Der Verlust des Volkstums durch die Sprache.

nicht oft decken. Zusammengesetzt aus selbständigen Wortelementen sind der
Mehrzahl nach im Deutschen auch die grammatischen Zeiten, denen gegenüber
verschmolzene Wortbildungen in andern Sprachen stehe». Auch hier liegt der¬
selbe Grund vor, ans dem es dem Deutschen große Mühe verursacht, sich an
die fremden Elemente zu gewöhnen. Der größten Anstrengungen bedarf es
z. B., damit der Deutsche die Feinheiten des slawischen Zeitwortes verstehe,
welches durch eigens hierzu ausgeprägte Formen fähig ist, die verschiednen
Grade der Thätigleits- und Znstandsdaner sehr genau auszudrücken.

Die Redeteile also und ihre gegenwärtige Ausbildung siud das zweite
Hauptelement, welches bei der Erlernung einer fremden Sprache in Betracht
kommt, und dessen Bewältigung desto schwerer vor sich geht, je weniger Elemente
die Sprache des Lernenden besitzt, um die fremde Sprache damit Teil für Teil
zu decken.

Faßt man das bisher gesagte über die Aussprache und die Redebestandteilc
in den Sprachen zusammen, so könnte man nur gerade bei dem Deutschen geneigt
sein, anzunehmen, daß er die fremden Sprachen seiner Nachbarvölker schwerer
erlerne, als jene die seinige, und daß also eher die Nachbarn durch die deutsche
Sprache eutnativualisirt werden müßten. Denn dort, wo sür den Deutschen
Schwierigkeiten vorhanden sind, bestehen für den Fremden oft Leichtigkeiten,
teils weil jene sowohl Lautelemente besitzen, die sich mit denen der deutschen
Sprache decken, teils weil die Zusammensetzungen der Wörter und grammati¬
kalischen Forme,? in manchen fremden Sprachen feiner sind, und die betreffenden
Völker daher leichter imstande sind, die mehr sichtbaren, gleichwertigen Zeichen
der deutschen Sprache zu erfassen und zu handhaben. Man sollte also meinen,
daß die Fremden beim Zusammentreffen mit den Deutschen sich geneigt zeigen
würden, die Sprache derselben anzunehmen, also mit den Deutschen deutsch zu
verkehren. Wie kommt statt dessen der Deutsche, obwohl er manche nichtdentsche
Sprache schwer erlernen muß, dazu, sich dem sür ihn schwereren anzupassen,
damit er es dem Fremden zuliebe handhabe?

Für dieses Problem, welches erst in solcher Zuspitzung seine ganze Schwierigkeit
zeigt, liegt die Lösung in einem Umstände, den wir vorausschicke!! müssen, dem
Umstände nämlich, daß es sich bei der Entnationalisirung durch die Sprache
garnicht um die in der Schrift niedergelegte Sprache, sondern lediglich um den
lebendigen Verkehr zwischen Mensch und Mensch handelt. Bei der Berührung
zweier Menschen, von denen jedem die Muttersprache des andern gänzlich un¬
bekannt ist, zeigt sich, daß die mechanische Arbeit den Ausschlag giebt, welche
bei der Aussprache des nächsten besten Wortes vom Sprechenden aufgewendet
werden muß. Für jeden von beiden läuft nämlich seine Muttersprache sozu¬
sagen auf „aufgefahrenen Bahnen", wie sich der Wiener Phhsiologe Brücke aus¬
drückt, und es wird sich der Deutsche z. B. bei der Hervorbringung seiner eignen
Sprachbestandteile nicht einmal bewußt, welche mechanische Arbeit er während


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[0163] Der Verlust des Volkstums durch die Sprache. nicht oft decken. Zusammengesetzt aus selbständigen Wortelementen sind der Mehrzahl nach im Deutschen auch die grammatischen Zeiten, denen gegenüber verschmolzene Wortbildungen in andern Sprachen stehe». Auch hier liegt der¬ selbe Grund vor, ans dem es dem Deutschen große Mühe verursacht, sich an die fremden Elemente zu gewöhnen. Der größten Anstrengungen bedarf es z. B., damit der Deutsche die Feinheiten des slawischen Zeitwortes verstehe, welches durch eigens hierzu ausgeprägte Formen fähig ist, die verschiednen Grade der Thätigleits- und Znstandsdaner sehr genau auszudrücken. Die Redeteile also und ihre gegenwärtige Ausbildung siud das zweite Hauptelement, welches bei der Erlernung einer fremden Sprache in Betracht kommt, und dessen Bewältigung desto schwerer vor sich geht, je weniger Elemente die Sprache des Lernenden besitzt, um die fremde Sprache damit Teil für Teil zu decken. Faßt man das bisher gesagte über die Aussprache und die Redebestandteilc in den Sprachen zusammen, so könnte man nur gerade bei dem Deutschen geneigt sein, anzunehmen, daß er die fremden Sprachen seiner Nachbarvölker schwerer erlerne, als jene die seinige, und daß also eher die Nachbarn durch die deutsche Sprache eutnativualisirt werden müßten. Denn dort, wo sür den Deutschen Schwierigkeiten vorhanden sind, bestehen für den Fremden oft Leichtigkeiten, teils weil jene sowohl Lautelemente besitzen, die sich mit denen der deutschen Sprache decken, teils weil die Zusammensetzungen der Wörter und grammati¬ kalischen Forme,? in manchen fremden Sprachen feiner sind, und die betreffenden Völker daher leichter imstande sind, die mehr sichtbaren, gleichwertigen Zeichen der deutschen Sprache zu erfassen und zu handhaben. Man sollte also meinen, daß die Fremden beim Zusammentreffen mit den Deutschen sich geneigt zeigen würden, die Sprache derselben anzunehmen, also mit den Deutschen deutsch zu verkehren. Wie kommt statt dessen der Deutsche, obwohl er manche nichtdentsche Sprache schwer erlernen muß, dazu, sich dem sür ihn schwereren anzupassen, damit er es dem Fremden zuliebe handhabe? Für dieses Problem, welches erst in solcher Zuspitzung seine ganze Schwierigkeit zeigt, liegt die Lösung in einem Umstände, den wir vorausschicke!! müssen, dem Umstände nämlich, daß es sich bei der Entnationalisirung durch die Sprache garnicht um die in der Schrift niedergelegte Sprache, sondern lediglich um den lebendigen Verkehr zwischen Mensch und Mensch handelt. Bei der Berührung zweier Menschen, von denen jedem die Muttersprache des andern gänzlich un¬ bekannt ist, zeigt sich, daß die mechanische Arbeit den Ausschlag giebt, welche bei der Aussprache des nächsten besten Wortes vom Sprechenden aufgewendet werden muß. Für jeden von beiden läuft nämlich seine Muttersprache sozu¬ sagen auf „aufgefahrenen Bahnen", wie sich der Wiener Phhsiologe Brücke aus¬ drückt, und es wird sich der Deutsche z. B. bei der Hervorbringung seiner eignen Sprachbestandteile nicht einmal bewußt, welche mechanische Arbeit er während

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/163>, abgerufen am 05.02.2025.