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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Lkizzen aus der Levante und Griechenland.

lassen zu werde" oder bei der jämmerlichen Beschaffenheit der Gefängnisse die
Flucht zu ergreife". Sämtliche Berufskonsuln im Orient sind entweder selbst
rechtskundig oder haben einen Juristen zur Seite, dem englischen steht sogar das
Recht zu, aus seinen Landsleuten eine Jury einzuberufen. Die Levantiner sind
frei von den direkten Steuern, mit Ansncchme der auf den Grundbesitz, wofür
sie gleichmäßig an die Pforte zahlen, desgleichen aller indirekten Abgaben. Die
allgemeine Wehrpflicht ihrer Heimat ist obligatorisch, allein wer nicht dahin
zurückkehren will, kann sich derselben leicht entziehen. Schon längst ist man
bemüht, einem so abnormen Zustande ein Ende zu machen, nnr müßte dann
eine Totalreform der türkischen Verfassung und Gesetzgebung vorausgehen, was
bis jetzt an der Unübcrsteiglichkeit der religiösen Grundsätze und Hindernisse ge¬
scheitert ist. So lange der Koran für die Ungläubigen kein gleiches Recht aner¬
kennt, läßt sich von internationalen Institutionen mit Gegenseitigkeit nicht reden.
Es leben Millionen Griechen, Armenier, Juden als türkische Unterthanen, sie
sind aber von einer Reihe öffentlicher Ämter, wie z. B. vom Militär, der Justiz
und dem Unterrichtswesen, grundsätzlich ausgeschlossen, und wo sie, wie in den
Finanzen und im diplomatischen Dienste, vereinzelt zugelassen werden, fehlt ihnen
doch die staatsbürgerliche Geltung, sie unterliegen der Kopfsteuer, und der ge¬
meinste Muselmann betrachtet sie uicht als ebenbürtig. Die europäischen Be¬
amten, die neuerdings selbst höhere Ämter bekleiden, sind auf Zeit und Wider¬
ruf angestellt und könnten, wenn sie sonst wollten, nur durch Übertritt zum
Islam als Türken nationalisirt werden, wie dies bei Militärs ja öfter ge¬
schehen ist. In der ottomanischen Armee fehlt es nicht an Renegaten.

Die Levantiner in der angeführten Definition haben sich bisher gewisser¬
maßen als die Aristokratie des Orients betrachtet, obwohl es mit ihrem sozialen
Stammbaum nicht eben weit her ist. Die Eltern und Großeltern vieler reichen
Handelsherren in Smhrna und Alexandrien waren Lastträger und Schiffsleute, und
wenn sie hvchkliugende, selbst historische Namen, wie Giustiniani, Durcmdv u. s. w.
trage", so sind dies höchst willkürliche Anmaßungen, die sich daher schreiben,
daß sie ans Besitzungen geboren sind, wo einstmals jene venezianischen und Ge¬
nueser Familien herrschten. Das charakteristische Merkmal des Levantiners ist
seine Vaterlandslosigkeit; da, wo er geboren, betrachtet er sich als Fremder und
nimmt keinen Anteil an dem allgemeinen Geschick seiner Mitmenschen. Von dem
europäischen Staate, dem er ostensibel angehört, verlangt er nur den Schutz
seiner materiellen Interessen, will aber sonst mit ihm außer allem geistigen,
selbst politischen Zusammenhange bleiben und von bürgerlichen Pflichten gegen den¬
selben so wenig als möglich wissen. Der Levantiner ist der verkörperte Egoismus,
der noch dadurch verstärkt wird, daß bei dem Aufschlüsse fast aller andern Be¬
rufswege sein ganzes Streben und Trachten auf geschäftlichen Besitz und Ge¬
winn gerichtet ist und jeder Gemeinsamkeit für Erreichung höherer und edlerer
Zwecke eiuer staatsbürgerlichen Gesellschaft entbehrt.


Lkizzen aus der Levante und Griechenland.

lassen zu werde» oder bei der jämmerlichen Beschaffenheit der Gefängnisse die
Flucht zu ergreife«. Sämtliche Berufskonsuln im Orient sind entweder selbst
rechtskundig oder haben einen Juristen zur Seite, dem englischen steht sogar das
Recht zu, aus seinen Landsleuten eine Jury einzuberufen. Die Levantiner sind
frei von den direkten Steuern, mit Ansncchme der auf den Grundbesitz, wofür
sie gleichmäßig an die Pforte zahlen, desgleichen aller indirekten Abgaben. Die
allgemeine Wehrpflicht ihrer Heimat ist obligatorisch, allein wer nicht dahin
zurückkehren will, kann sich derselben leicht entziehen. Schon längst ist man
bemüht, einem so abnormen Zustande ein Ende zu machen, nnr müßte dann
eine Totalreform der türkischen Verfassung und Gesetzgebung vorausgehen, was
bis jetzt an der Unübcrsteiglichkeit der religiösen Grundsätze und Hindernisse ge¬
scheitert ist. So lange der Koran für die Ungläubigen kein gleiches Recht aner¬
kennt, läßt sich von internationalen Institutionen mit Gegenseitigkeit nicht reden.
Es leben Millionen Griechen, Armenier, Juden als türkische Unterthanen, sie
sind aber von einer Reihe öffentlicher Ämter, wie z. B. vom Militär, der Justiz
und dem Unterrichtswesen, grundsätzlich ausgeschlossen, und wo sie, wie in den
Finanzen und im diplomatischen Dienste, vereinzelt zugelassen werden, fehlt ihnen
doch die staatsbürgerliche Geltung, sie unterliegen der Kopfsteuer, und der ge¬
meinste Muselmann betrachtet sie uicht als ebenbürtig. Die europäischen Be¬
amten, die neuerdings selbst höhere Ämter bekleiden, sind auf Zeit und Wider¬
ruf angestellt und könnten, wenn sie sonst wollten, nur durch Übertritt zum
Islam als Türken nationalisirt werden, wie dies bei Militärs ja öfter ge¬
schehen ist. In der ottomanischen Armee fehlt es nicht an Renegaten.

Die Levantiner in der angeführten Definition haben sich bisher gewisser¬
maßen als die Aristokratie des Orients betrachtet, obwohl es mit ihrem sozialen
Stammbaum nicht eben weit her ist. Die Eltern und Großeltern vieler reichen
Handelsherren in Smhrna und Alexandrien waren Lastträger und Schiffsleute, und
wenn sie hvchkliugende, selbst historische Namen, wie Giustiniani, Durcmdv u. s. w.
trage», so sind dies höchst willkürliche Anmaßungen, die sich daher schreiben,
daß sie ans Besitzungen geboren sind, wo einstmals jene venezianischen und Ge¬
nueser Familien herrschten. Das charakteristische Merkmal des Levantiners ist
seine Vaterlandslosigkeit; da, wo er geboren, betrachtet er sich als Fremder und
nimmt keinen Anteil an dem allgemeinen Geschick seiner Mitmenschen. Von dem
europäischen Staate, dem er ostensibel angehört, verlangt er nur den Schutz
seiner materiellen Interessen, will aber sonst mit ihm außer allem geistigen,
selbst politischen Zusammenhange bleiben und von bürgerlichen Pflichten gegen den¬
selben so wenig als möglich wissen. Der Levantiner ist der verkörperte Egoismus,
der noch dadurch verstärkt wird, daß bei dem Aufschlüsse fast aller andern Be¬
rufswege sein ganzes Streben und Trachten auf geschäftlichen Besitz und Ge¬
winn gerichtet ist und jeder Gemeinsamkeit für Erreichung höherer und edlerer
Zwecke eiuer staatsbürgerlichen Gesellschaft entbehrt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/136>, abgerufen am 05.02.2025.