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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Hayms Herderbiographie.

In der Natur der Sache liegt es, daß man bei dieser Arbeit keinem Teile
vor dem andern einen Vorzug geben kann, und daß die einfache Bestätigung,
jede Partie der ausgedehnten Biographie sei gleich gediegen, gleich lebendig,
gleich fesselnd, das höchste Lob einschließt. Herders Leben hat keine sogenannten
Glanzpartien, es zeigt ein merkwürdiges Auf und Ab und gewinnt unser Interesse
vor allem durch die Art, wie es genutzt wurde, welche Früchte, deu Verhält¬
nissen und der eigue" Natur trotzend, ihm entsprossen sind. Durch eine freud¬
lose und harte Kindheit hindurch, die von Herder in keiner ihrer Einzelheiten
je vergessen worden ist und über die es auch Hahn nicht gelungen ist viel
mehr und viel wesentlicheres beizubringen, als wir ans Herders Erinnerungen
wußten, ringt sich der Jüngling zur Universität Königsberg und zum Studium
der Theologie hindurch, beginnt die Laufbahn, auf der er einer der größten und
wirkungsreichsten Schriftsteller der Nation geworden ist, gleichzeitig mit dem
ersten Schul- und Prcdigtamte in Riga. Von dem Rigaer Jahre des Ver¬
fassers der "Fragmente" und der "Kritischen Wälder" hat der Biograph schon
ein Bild, welches ganz anders und viel voller wirkt als die seitherigen Dar¬
stellungen. Es folgen im ersten Bande die merkwürdigen Reisejahre und die
Jahre, in denen Herder als Hofprediger des Grafen Wilhelm von Schaumburg-
Lippe in dem kleinen Bückeburg saß. Mit der Berufung mich Weimar, die ihm.
notwendigerweise als eine Erlösung erschien, schließt die erste Hälfte von Herders
Leben, der erste Teil der große" Biographie. Den ganzen zweiten Teil nehmen
die Jahrzehnte in Weimar (von 1776 bis 1803) ein, und je weiter Haym hier
vorschreitet, umsomehr ist das meiste von dem, was er zu bieten hat, "neu."
Selbst die bekannten Thatsachen erscheinen hier vielfach zuerst auf ihre wahren
Motive zurückgeführt, in ihrem Zusammenhange erfaßt, in ihrer Bedeutung dar¬
gestellt, beinahe nichts bleibt dunkel und ungewürdigt. Der Biograph trägt
natürlich ein andres Bild des klassischen Weimar in der eignen Seele als das
mannichfach verzerrte und beinahe immer getrübte, welches in der Seele Herders
lebte, aber keinen Augenblick vergißt er, daß wir die Dinge mit Herders Augen
sehen, daß wir erfahren und begreifen müssen, wie Herder auf seinein Weima¬
rischen Tvpfberg duzn kam, Menschen und Begebnisse feindselig anzuschauen,
welche für uns vom goldensten Schein umwoben sind.

Wie billig, drängt Haym alle diese Momente nicht zurück, aber er legt
ihnen auch nicht die ausschließliche Wichtigkeit bei, welche sie in gewissen Charak¬
teristiken erlangt haben. So gepreßt, geklemmt, dnrch fremde und eigne Schuld
Herders Lebcnssituation oft erscheint, er hat sich reichen und starken Geistes
über sie geschwungen, er hat, den Ärger und Verdruß der Tage besiegend, seinen
Jahren unvergängliche Stempel ausgedrückt und der scheinbar fremd- und frucht¬
losesten Zeit Werke abgewonnen, die mit und trotz allen Mängeln bleibend sind.
Was er im Leben vermocht, muß ihm auch in der Erinnerung zu Gute kommen;
da er bei aller Weichheit, Reizbarkeit und Hypochondrie im einzelnen ein Helden-


Hayms Herderbiographie.

In der Natur der Sache liegt es, daß man bei dieser Arbeit keinem Teile
vor dem andern einen Vorzug geben kann, und daß die einfache Bestätigung,
jede Partie der ausgedehnten Biographie sei gleich gediegen, gleich lebendig,
gleich fesselnd, das höchste Lob einschließt. Herders Leben hat keine sogenannten
Glanzpartien, es zeigt ein merkwürdiges Auf und Ab und gewinnt unser Interesse
vor allem durch die Art, wie es genutzt wurde, welche Früchte, deu Verhält¬
nissen und der eigue» Natur trotzend, ihm entsprossen sind. Durch eine freud¬
lose und harte Kindheit hindurch, die von Herder in keiner ihrer Einzelheiten
je vergessen worden ist und über die es auch Hahn nicht gelungen ist viel
mehr und viel wesentlicheres beizubringen, als wir ans Herders Erinnerungen
wußten, ringt sich der Jüngling zur Universität Königsberg und zum Studium
der Theologie hindurch, beginnt die Laufbahn, auf der er einer der größten und
wirkungsreichsten Schriftsteller der Nation geworden ist, gleichzeitig mit dem
ersten Schul- und Prcdigtamte in Riga. Von dem Rigaer Jahre des Ver¬
fassers der „Fragmente" und der „Kritischen Wälder" hat der Biograph schon
ein Bild, welches ganz anders und viel voller wirkt als die seitherigen Dar¬
stellungen. Es folgen im ersten Bande die merkwürdigen Reisejahre und die
Jahre, in denen Herder als Hofprediger des Grafen Wilhelm von Schaumburg-
Lippe in dem kleinen Bückeburg saß. Mit der Berufung mich Weimar, die ihm.
notwendigerweise als eine Erlösung erschien, schließt die erste Hälfte von Herders
Leben, der erste Teil der große» Biographie. Den ganzen zweiten Teil nehmen
die Jahrzehnte in Weimar (von 1776 bis 1803) ein, und je weiter Haym hier
vorschreitet, umsomehr ist das meiste von dem, was er zu bieten hat, „neu."
Selbst die bekannten Thatsachen erscheinen hier vielfach zuerst auf ihre wahren
Motive zurückgeführt, in ihrem Zusammenhange erfaßt, in ihrer Bedeutung dar¬
gestellt, beinahe nichts bleibt dunkel und ungewürdigt. Der Biograph trägt
natürlich ein andres Bild des klassischen Weimar in der eignen Seele als das
mannichfach verzerrte und beinahe immer getrübte, welches in der Seele Herders
lebte, aber keinen Augenblick vergißt er, daß wir die Dinge mit Herders Augen
sehen, daß wir erfahren und begreifen müssen, wie Herder auf seinein Weima¬
rischen Tvpfberg duzn kam, Menschen und Begebnisse feindselig anzuschauen,
welche für uns vom goldensten Schein umwoben sind.

Wie billig, drängt Haym alle diese Momente nicht zurück, aber er legt
ihnen auch nicht die ausschließliche Wichtigkeit bei, welche sie in gewissen Charak¬
teristiken erlangt haben. So gepreßt, geklemmt, dnrch fremde und eigne Schuld
Herders Lebcnssituation oft erscheint, er hat sich reichen und starken Geistes
über sie geschwungen, er hat, den Ärger und Verdruß der Tage besiegend, seinen
Jahren unvergängliche Stempel ausgedrückt und der scheinbar fremd- und frucht¬
losesten Zeit Werke abgewonnen, die mit und trotz allen Mängeln bleibend sind.
Was er im Leben vermocht, muß ihm auch in der Erinnerung zu Gute kommen;
da er bei aller Weichheit, Reizbarkeit und Hypochondrie im einzelnen ein Helden-


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[0132] Hayms Herderbiographie. In der Natur der Sache liegt es, daß man bei dieser Arbeit keinem Teile vor dem andern einen Vorzug geben kann, und daß die einfache Bestätigung, jede Partie der ausgedehnten Biographie sei gleich gediegen, gleich lebendig, gleich fesselnd, das höchste Lob einschließt. Herders Leben hat keine sogenannten Glanzpartien, es zeigt ein merkwürdiges Auf und Ab und gewinnt unser Interesse vor allem durch die Art, wie es genutzt wurde, welche Früchte, deu Verhält¬ nissen und der eigue» Natur trotzend, ihm entsprossen sind. Durch eine freud¬ lose und harte Kindheit hindurch, die von Herder in keiner ihrer Einzelheiten je vergessen worden ist und über die es auch Hahn nicht gelungen ist viel mehr und viel wesentlicheres beizubringen, als wir ans Herders Erinnerungen wußten, ringt sich der Jüngling zur Universität Königsberg und zum Studium der Theologie hindurch, beginnt die Laufbahn, auf der er einer der größten und wirkungsreichsten Schriftsteller der Nation geworden ist, gleichzeitig mit dem ersten Schul- und Prcdigtamte in Riga. Von dem Rigaer Jahre des Ver¬ fassers der „Fragmente" und der „Kritischen Wälder" hat der Biograph schon ein Bild, welches ganz anders und viel voller wirkt als die seitherigen Dar¬ stellungen. Es folgen im ersten Bande die merkwürdigen Reisejahre und die Jahre, in denen Herder als Hofprediger des Grafen Wilhelm von Schaumburg- Lippe in dem kleinen Bückeburg saß. Mit der Berufung mich Weimar, die ihm. notwendigerweise als eine Erlösung erschien, schließt die erste Hälfte von Herders Leben, der erste Teil der große» Biographie. Den ganzen zweiten Teil nehmen die Jahrzehnte in Weimar (von 1776 bis 1803) ein, und je weiter Haym hier vorschreitet, umsomehr ist das meiste von dem, was er zu bieten hat, „neu." Selbst die bekannten Thatsachen erscheinen hier vielfach zuerst auf ihre wahren Motive zurückgeführt, in ihrem Zusammenhange erfaßt, in ihrer Bedeutung dar¬ gestellt, beinahe nichts bleibt dunkel und ungewürdigt. Der Biograph trägt natürlich ein andres Bild des klassischen Weimar in der eignen Seele als das mannichfach verzerrte und beinahe immer getrübte, welches in der Seele Herders lebte, aber keinen Augenblick vergißt er, daß wir die Dinge mit Herders Augen sehen, daß wir erfahren und begreifen müssen, wie Herder auf seinein Weima¬ rischen Tvpfberg duzn kam, Menschen und Begebnisse feindselig anzuschauen, welche für uns vom goldensten Schein umwoben sind. Wie billig, drängt Haym alle diese Momente nicht zurück, aber er legt ihnen auch nicht die ausschließliche Wichtigkeit bei, welche sie in gewissen Charak¬ teristiken erlangt haben. So gepreßt, geklemmt, dnrch fremde und eigne Schuld Herders Lebcnssituation oft erscheint, er hat sich reichen und starken Geistes über sie geschwungen, er hat, den Ärger und Verdruß der Tage besiegend, seinen Jahren unvergängliche Stempel ausgedrückt und der scheinbar fremd- und frucht¬ losesten Zeit Werke abgewonnen, die mit und trotz allen Mängeln bleibend sind. Was er im Leben vermocht, muß ihm auch in der Erinnerung zu Gute kommen; da er bei aller Weichheit, Reizbarkeit und Hypochondrie im einzelnen ein Helden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/132>, abgerufen am 05.02.2025.