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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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tarif im wesentlichen dein Streben nach Selbstbehauptung und weiterer kräftiger
Fortentwicklung der nationalen Produktion Ausdruck geben wollen. Man wird
auf Grund unsrer obigen Nachweise gern zugeben können, daß unter den Ein¬
wirkungen dieser Gewaltkur die russische Industrie auch thatsächlich im Laufe
der letzten Jahrzehnte einen Aufschwung erreicht hat. Trotzdem wird man, und
namentlich bei einem Vergleiche der verminderten russischen Ausfuhr- und Einfuhr-
listeu, der Ansicht sein dürfen, daß sie die Fähigkeit solcher Schutzmaßregeln
etwas einseitig überschätzt hatte, indem sie bei der Durchführung des Fichteschen
Lehrsatzes vom geschlossenen Handelsstaate, des Grundsatzes, daß alles, was im
Lande produzirt werde, auch im Lande konsumirt werden müsse, ohne Rücksicht
auf die natürlichen Existenzbedingungen vieler Industriezweige mit beträchtlichen
Opfern eine künstliche Schöpfung ins Leben gerufen habe, die weniger durch
sich selbst als durch die Gesetzbestimmnugen zur Haltbarkeit gelangt ist. Um
derartige Schutzmaßregeln zu rechtfertigen, wie sie jetzt in Rußland bestehen,
darf nicht nur der Nachweis der ernstlichen Bedrohung eines erheblichen Teiles
der nationalen Produktion verlangt werden, sondern es muß auch mindestens
wahrscheinlich gemacht werden, daß der Gewinn auf dieser Seite den unver¬
meidlichen Nachteilen auf der andern Seite die Wage halte.

Jeder Schutzzollpolitik letztes Ziel ist die Handelsfreiheit, aber diese darf
nicht in rein idealistischer Weise antizipirt werden, sonder" sie soll zuvor in
ihren realen Bedingungen sichergestellt werden, und deshalb muß man vor
allen Dingen die nötige Reife für die Jndustriethätigkeit voraussetzen dürfen.
Mit bloßen Nepressivmaßregelu ist eine blühende Industrie auf die Dauer aus
dem Nichts nicht hervorzuzaubern. Von einem unsrer neuern Nationalökonomen
ist sehr treffend der Satz aufgestellt worden: Eine Nation ist nur dann industrie-
rcif, wenn sie einen Überschuß an Kapital und Bevölkerung erzeugt hat, der
im Ackerbau mit seinen gewohnten Kleingewerben keine hinlängliche Beschäftigung
mehr finde" kann und deshalb entweder zur Auswanderung oder aber zu einer
noch uuseligeru Bvdenzersplitternng drängt. Bei diesem Stadium angelangt,
gilt es, die überschießenden Kräfte mit weiser Staatskunst in die neuen Gewerbs-
lanäle, welche die Natur selbst für sie in Bereitschaft hält, überzuleiten. Man
kann billig fragen, ob in Rußland soviele überschüssige Kapital- und Menschen¬
kräfte vorhanden seien, daß es bereits darin die Mittel findet, ans einen Aus¬
tausch seiner Produkte mit dem Auslande dauernd zu verzichten. Die Frage,
ob Rußland jene Vorbedingungen für sein Schutzzollsystem geschaffen habe, wird
sich nach den obigen Darlegungen von selbst erledigen.

Die Frage der deutsch-russischen Zollausgleichuugeu ist augenblicklich durch
eine Agitation der rheinisch-westfälischen Handelskammern von neuem brennend
geworden. Diese haben auf einer Konferenz in Iserlohn eine Petition an den
Reichskanzler zu Gunsten von Zolltarifermäßignngen im Verkehr mit Nußland
beschlossen. Wir glauben deshalb, daß eine Darlegung der gegenwärtigen deutsch-


tarif im wesentlichen dein Streben nach Selbstbehauptung und weiterer kräftiger
Fortentwicklung der nationalen Produktion Ausdruck geben wollen. Man wird
auf Grund unsrer obigen Nachweise gern zugeben können, daß unter den Ein¬
wirkungen dieser Gewaltkur die russische Industrie auch thatsächlich im Laufe
der letzten Jahrzehnte einen Aufschwung erreicht hat. Trotzdem wird man, und
namentlich bei einem Vergleiche der verminderten russischen Ausfuhr- und Einfuhr-
listeu, der Ansicht sein dürfen, daß sie die Fähigkeit solcher Schutzmaßregeln
etwas einseitig überschätzt hatte, indem sie bei der Durchführung des Fichteschen
Lehrsatzes vom geschlossenen Handelsstaate, des Grundsatzes, daß alles, was im
Lande produzirt werde, auch im Lande konsumirt werden müsse, ohne Rücksicht
auf die natürlichen Existenzbedingungen vieler Industriezweige mit beträchtlichen
Opfern eine künstliche Schöpfung ins Leben gerufen habe, die weniger durch
sich selbst als durch die Gesetzbestimmnugen zur Haltbarkeit gelangt ist. Um
derartige Schutzmaßregeln zu rechtfertigen, wie sie jetzt in Rußland bestehen,
darf nicht nur der Nachweis der ernstlichen Bedrohung eines erheblichen Teiles
der nationalen Produktion verlangt werden, sondern es muß auch mindestens
wahrscheinlich gemacht werden, daß der Gewinn auf dieser Seite den unver¬
meidlichen Nachteilen auf der andern Seite die Wage halte.

Jeder Schutzzollpolitik letztes Ziel ist die Handelsfreiheit, aber diese darf
nicht in rein idealistischer Weise antizipirt werden, sonder» sie soll zuvor in
ihren realen Bedingungen sichergestellt werden, und deshalb muß man vor
allen Dingen die nötige Reife für die Jndustriethätigkeit voraussetzen dürfen.
Mit bloßen Nepressivmaßregelu ist eine blühende Industrie auf die Dauer aus
dem Nichts nicht hervorzuzaubern. Von einem unsrer neuern Nationalökonomen
ist sehr treffend der Satz aufgestellt worden: Eine Nation ist nur dann industrie-
rcif, wenn sie einen Überschuß an Kapital und Bevölkerung erzeugt hat, der
im Ackerbau mit seinen gewohnten Kleingewerben keine hinlängliche Beschäftigung
mehr finde» kann und deshalb entweder zur Auswanderung oder aber zu einer
noch uuseligeru Bvdenzersplitternng drängt. Bei diesem Stadium angelangt,
gilt es, die überschießenden Kräfte mit weiser Staatskunst in die neuen Gewerbs-
lanäle, welche die Natur selbst für sie in Bereitschaft hält, überzuleiten. Man
kann billig fragen, ob in Rußland soviele überschüssige Kapital- und Menschen¬
kräfte vorhanden seien, daß es bereits darin die Mittel findet, ans einen Aus¬
tausch seiner Produkte mit dem Auslande dauernd zu verzichten. Die Frage,
ob Rußland jene Vorbedingungen für sein Schutzzollsystem geschaffen habe, wird
sich nach den obigen Darlegungen von selbst erledigen.

Die Frage der deutsch-russischen Zollausgleichuugeu ist augenblicklich durch
eine Agitation der rheinisch-westfälischen Handelskammern von neuem brennend
geworden. Diese haben auf einer Konferenz in Iserlohn eine Petition an den
Reichskanzler zu Gunsten von Zolltarifermäßignngen im Verkehr mit Nußland
beschlossen. Wir glauben deshalb, daß eine Darlegung der gegenwärtigen deutsch-


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[0127] tarif im wesentlichen dein Streben nach Selbstbehauptung und weiterer kräftiger Fortentwicklung der nationalen Produktion Ausdruck geben wollen. Man wird auf Grund unsrer obigen Nachweise gern zugeben können, daß unter den Ein¬ wirkungen dieser Gewaltkur die russische Industrie auch thatsächlich im Laufe der letzten Jahrzehnte einen Aufschwung erreicht hat. Trotzdem wird man, und namentlich bei einem Vergleiche der verminderten russischen Ausfuhr- und Einfuhr- listeu, der Ansicht sein dürfen, daß sie die Fähigkeit solcher Schutzmaßregeln etwas einseitig überschätzt hatte, indem sie bei der Durchführung des Fichteschen Lehrsatzes vom geschlossenen Handelsstaate, des Grundsatzes, daß alles, was im Lande produzirt werde, auch im Lande konsumirt werden müsse, ohne Rücksicht auf die natürlichen Existenzbedingungen vieler Industriezweige mit beträchtlichen Opfern eine künstliche Schöpfung ins Leben gerufen habe, die weniger durch sich selbst als durch die Gesetzbestimmnugen zur Haltbarkeit gelangt ist. Um derartige Schutzmaßregeln zu rechtfertigen, wie sie jetzt in Rußland bestehen, darf nicht nur der Nachweis der ernstlichen Bedrohung eines erheblichen Teiles der nationalen Produktion verlangt werden, sondern es muß auch mindestens wahrscheinlich gemacht werden, daß der Gewinn auf dieser Seite den unver¬ meidlichen Nachteilen auf der andern Seite die Wage halte. Jeder Schutzzollpolitik letztes Ziel ist die Handelsfreiheit, aber diese darf nicht in rein idealistischer Weise antizipirt werden, sonder» sie soll zuvor in ihren realen Bedingungen sichergestellt werden, und deshalb muß man vor allen Dingen die nötige Reife für die Jndustriethätigkeit voraussetzen dürfen. Mit bloßen Nepressivmaßregelu ist eine blühende Industrie auf die Dauer aus dem Nichts nicht hervorzuzaubern. Von einem unsrer neuern Nationalökonomen ist sehr treffend der Satz aufgestellt worden: Eine Nation ist nur dann industrie- rcif, wenn sie einen Überschuß an Kapital und Bevölkerung erzeugt hat, der im Ackerbau mit seinen gewohnten Kleingewerben keine hinlängliche Beschäftigung mehr finde» kann und deshalb entweder zur Auswanderung oder aber zu einer noch uuseligeru Bvdenzersplitternng drängt. Bei diesem Stadium angelangt, gilt es, die überschießenden Kräfte mit weiser Staatskunst in die neuen Gewerbs- lanäle, welche die Natur selbst für sie in Bereitschaft hält, überzuleiten. Man kann billig fragen, ob in Rußland soviele überschüssige Kapital- und Menschen¬ kräfte vorhanden seien, daß es bereits darin die Mittel findet, ans einen Aus¬ tausch seiner Produkte mit dem Auslande dauernd zu verzichten. Die Frage, ob Rußland jene Vorbedingungen für sein Schutzzollsystem geschaffen habe, wird sich nach den obigen Darlegungen von selbst erledigen. Die Frage der deutsch-russischen Zollausgleichuugeu ist augenblicklich durch eine Agitation der rheinisch-westfälischen Handelskammern von neuem brennend geworden. Diese haben auf einer Konferenz in Iserlohn eine Petition an den Reichskanzler zu Gunsten von Zolltarifermäßignngen im Verkehr mit Nußland beschlossen. Wir glauben deshalb, daß eine Darlegung der gegenwärtigen deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/127>, abgerufen am 05.02.2025.