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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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russischen Industrie auf ihrem vorbehaltuen Gebiete lohnend und aussichtsvoll.
In der Umwandlung der massenhaften russischen Rohprodukte in eigne Halb¬
oder Ganzfabrikate liegt ein Moment von der größten nationalwirtschaftlichen
Bedeutung. Denn gerade durch diese eigne Verarbeitung der Rohprodukte ist
nicht nnr ein Ersatz sür die verminderte Marktfähigkeit derselben im Auslande
gewonnen, sondern es ist damit auch der Gewinn erreicht, daß die Masse des
Volkes ihre Manufakturbedürfnisfe zu billigeren Preisen befriedigen kann als
früher, wo dieselben vom Auslande zu einem großen Teile aus den eignen aus¬
geführten Rohmaterialien gefertigt und bei den Einfuhrpreisen mit dem Zuschlag
der fremden Arbeit belegt wurden. Wo es sich um die Befriedigung von Volks¬
bedürfnissen bei einer Bevölkerung von 85 Millionen Seelen handelt, darf jene
Aufgabe nicht unterschätzt werden. Der Vorwurf, daß die russische Industrie
nur gewöhnliche und grobe Fabrikate liefere, muß deshalb auch auf ein be¬
scheidnes Maß beschränkt werden. Matthäi hat in seinem erschöpfenden Werke
"Die Industrie Rußlands" sehr richtig betont: Hinge es von der Neigung der
Fabrikanten ab, so würden es gewiß die meisten vorziehen, statt der groben
Tücher zu 1--1^ Rubel per Arschin lieber Tücher zu 4 und 5 Rubel zu
fabrizircn, denn ihr Verdienst würde ein entsprechend höherer sein, und es ist
immer angenehmer, eine feine als eine ordinäre Waare zu produziren. Während
diese Fabriken aber für ihre groben Tücher reichlich Absatz finden und bequem
^ Million Arschin davon verkaufen, würden sie von feinen Tüchern mit voller
Sicherheit nicht 100 000 Arschin absetzen können, sie müßten denn einen ver¬
hältnismäßig sehr niedrigen Preis stellen, und dann würde sich die Fabrikation
feiner Waare weit weniger lohnen als die grober. Man hatte auf der Pariser
Weltausstellung die russische Abteilung belächelt, weil man dort so viele grobe
Tücher, rohe Webstoffe, dicke Stiefel und ordinäre Schafpelze ausgestellt fand,
hat aber vergessen, daß es in Rußland 60 Millionen Menschen giebt, die sich
ausschließlich dieser groben, billigen, aber haltbaren Waaren bedienen, dagegen
komm 10 Millionen, die feine Waare verlangen. Die große Masse des russischen
Volkes sind Bauern. Volkreiche Städte wie in den andern großen Industrie¬
staaten fehlen in Nußland, und auch der gute Bürgerstand, bei welchem in den
andern Staate" die eigentliche Stärke der gewerblichen Konsumtion liegt, ist hier
ungleich spärlicher vertreten. Dazu muß man noch etwas andres berücksichtigen.
Trotz aller und zwar vielfach glücklich eingeschlagnen Versuche zur Einführung
des modernen Jnduftrieshstems hat sich in Rußland von dem Zustande der
isolirten Produktion die Eigengewinnung neben der Hausarbeit bis ins neunzehnte
Jahrhundert hinein noch in großen Resten erhalten. Jeder Bauernhof erzeugte
früher die Nahrungsmittel, die Bekleidungsstücke und auch die sonstigen Güter,
welche in der Hauswirtschaft gebraucht wurden, selbst. Von dieser Familien¬
wirtschaft haben sich nun bis auf den heutigen Tag noch vielfach Überreste
erhalten, und daß diese Art Gewerbfleißes -- die sich namentlich auf eine eigne


Grenzboten 1. 1886. 15

russischen Industrie auf ihrem vorbehaltuen Gebiete lohnend und aussichtsvoll.
In der Umwandlung der massenhaften russischen Rohprodukte in eigne Halb¬
oder Ganzfabrikate liegt ein Moment von der größten nationalwirtschaftlichen
Bedeutung. Denn gerade durch diese eigne Verarbeitung der Rohprodukte ist
nicht nnr ein Ersatz sür die verminderte Marktfähigkeit derselben im Auslande
gewonnen, sondern es ist damit auch der Gewinn erreicht, daß die Masse des
Volkes ihre Manufakturbedürfnisfe zu billigeren Preisen befriedigen kann als
früher, wo dieselben vom Auslande zu einem großen Teile aus den eignen aus¬
geführten Rohmaterialien gefertigt und bei den Einfuhrpreisen mit dem Zuschlag
der fremden Arbeit belegt wurden. Wo es sich um die Befriedigung von Volks¬
bedürfnissen bei einer Bevölkerung von 85 Millionen Seelen handelt, darf jene
Aufgabe nicht unterschätzt werden. Der Vorwurf, daß die russische Industrie
nur gewöhnliche und grobe Fabrikate liefere, muß deshalb auch auf ein be¬
scheidnes Maß beschränkt werden. Matthäi hat in seinem erschöpfenden Werke
„Die Industrie Rußlands" sehr richtig betont: Hinge es von der Neigung der
Fabrikanten ab, so würden es gewiß die meisten vorziehen, statt der groben
Tücher zu 1—1^ Rubel per Arschin lieber Tücher zu 4 und 5 Rubel zu
fabrizircn, denn ihr Verdienst würde ein entsprechend höherer sein, und es ist
immer angenehmer, eine feine als eine ordinäre Waare zu produziren. Während
diese Fabriken aber für ihre groben Tücher reichlich Absatz finden und bequem
^ Million Arschin davon verkaufen, würden sie von feinen Tüchern mit voller
Sicherheit nicht 100 000 Arschin absetzen können, sie müßten denn einen ver¬
hältnismäßig sehr niedrigen Preis stellen, und dann würde sich die Fabrikation
feiner Waare weit weniger lohnen als die grober. Man hatte auf der Pariser
Weltausstellung die russische Abteilung belächelt, weil man dort so viele grobe
Tücher, rohe Webstoffe, dicke Stiefel und ordinäre Schafpelze ausgestellt fand,
hat aber vergessen, daß es in Rußland 60 Millionen Menschen giebt, die sich
ausschließlich dieser groben, billigen, aber haltbaren Waaren bedienen, dagegen
komm 10 Millionen, die feine Waare verlangen. Die große Masse des russischen
Volkes sind Bauern. Volkreiche Städte wie in den andern großen Industrie¬
staaten fehlen in Nußland, und auch der gute Bürgerstand, bei welchem in den
andern Staate» die eigentliche Stärke der gewerblichen Konsumtion liegt, ist hier
ungleich spärlicher vertreten. Dazu muß man noch etwas andres berücksichtigen.
Trotz aller und zwar vielfach glücklich eingeschlagnen Versuche zur Einführung
des modernen Jnduftrieshstems hat sich in Rußland von dem Zustande der
isolirten Produktion die Eigengewinnung neben der Hausarbeit bis ins neunzehnte
Jahrhundert hinein noch in großen Resten erhalten. Jeder Bauernhof erzeugte
früher die Nahrungsmittel, die Bekleidungsstücke und auch die sonstigen Güter,
welche in der Hauswirtschaft gebraucht wurden, selbst. Von dieser Familien¬
wirtschaft haben sich nun bis auf den heutigen Tag noch vielfach Überreste
erhalten, und daß diese Art Gewerbfleißes — die sich namentlich auf eine eigne


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[0121] russischen Industrie auf ihrem vorbehaltuen Gebiete lohnend und aussichtsvoll. In der Umwandlung der massenhaften russischen Rohprodukte in eigne Halb¬ oder Ganzfabrikate liegt ein Moment von der größten nationalwirtschaftlichen Bedeutung. Denn gerade durch diese eigne Verarbeitung der Rohprodukte ist nicht nnr ein Ersatz sür die verminderte Marktfähigkeit derselben im Auslande gewonnen, sondern es ist damit auch der Gewinn erreicht, daß die Masse des Volkes ihre Manufakturbedürfnisfe zu billigeren Preisen befriedigen kann als früher, wo dieselben vom Auslande zu einem großen Teile aus den eignen aus¬ geführten Rohmaterialien gefertigt und bei den Einfuhrpreisen mit dem Zuschlag der fremden Arbeit belegt wurden. Wo es sich um die Befriedigung von Volks¬ bedürfnissen bei einer Bevölkerung von 85 Millionen Seelen handelt, darf jene Aufgabe nicht unterschätzt werden. Der Vorwurf, daß die russische Industrie nur gewöhnliche und grobe Fabrikate liefere, muß deshalb auch auf ein be¬ scheidnes Maß beschränkt werden. Matthäi hat in seinem erschöpfenden Werke „Die Industrie Rußlands" sehr richtig betont: Hinge es von der Neigung der Fabrikanten ab, so würden es gewiß die meisten vorziehen, statt der groben Tücher zu 1—1^ Rubel per Arschin lieber Tücher zu 4 und 5 Rubel zu fabrizircn, denn ihr Verdienst würde ein entsprechend höherer sein, und es ist immer angenehmer, eine feine als eine ordinäre Waare zu produziren. Während diese Fabriken aber für ihre groben Tücher reichlich Absatz finden und bequem ^ Million Arschin davon verkaufen, würden sie von feinen Tüchern mit voller Sicherheit nicht 100 000 Arschin absetzen können, sie müßten denn einen ver¬ hältnismäßig sehr niedrigen Preis stellen, und dann würde sich die Fabrikation feiner Waare weit weniger lohnen als die grober. Man hatte auf der Pariser Weltausstellung die russische Abteilung belächelt, weil man dort so viele grobe Tücher, rohe Webstoffe, dicke Stiefel und ordinäre Schafpelze ausgestellt fand, hat aber vergessen, daß es in Rußland 60 Millionen Menschen giebt, die sich ausschließlich dieser groben, billigen, aber haltbaren Waaren bedienen, dagegen komm 10 Millionen, die feine Waare verlangen. Die große Masse des russischen Volkes sind Bauern. Volkreiche Städte wie in den andern großen Industrie¬ staaten fehlen in Nußland, und auch der gute Bürgerstand, bei welchem in den andern Staate» die eigentliche Stärke der gewerblichen Konsumtion liegt, ist hier ungleich spärlicher vertreten. Dazu muß man noch etwas andres berücksichtigen. Trotz aller und zwar vielfach glücklich eingeschlagnen Versuche zur Einführung des modernen Jnduftrieshstems hat sich in Rußland von dem Zustande der isolirten Produktion die Eigengewinnung neben der Hausarbeit bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein noch in großen Resten erhalten. Jeder Bauernhof erzeugte früher die Nahrungsmittel, die Bekleidungsstücke und auch die sonstigen Güter, welche in der Hauswirtschaft gebraucht wurden, selbst. Von dieser Familien¬ wirtschaft haben sich nun bis auf den heutigen Tag noch vielfach Überreste erhalten, und daß diese Art Gewerbfleißes — die sich namentlich auf eine eigne Grenzboten 1. 1886. 15

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/121>, abgerufen am 05.02.2025.