Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Unsre Handelsbeziehungen zu Rußland.

Produktion und Ausfuhr von Cerealien, Vieh, Häuten, Tnlg u, s. w. wird sich
in keinem andern europäischen Staate in einem gleich hohen Maße finden lassen.
Aber die Sonderheit und Exklusivität, in welcher sich die gewaltige Urproduktion
des nordischen Reiches innerhalb seines übrigen Erwerbslebens lange Zeit be¬
funden hat, ist eine Hauptursache dafür geworden, daß trotz der großen Werte,
welche Rußland aus dem Absatz seiner überschüssigen Brotstoffe vom europäischen
Markte bezogen hat, die Handelsbilanz dennoch für das Land wiederholt gefahr¬
drohend geworden ist.

Man hat in Rußland je länger je mehr eingesehen, daß die Zeiten, wo
die heimatlichen Getreidefluren die Kornkammer" für einen großen Teil des
westlichen Europas waren, vorüber sind und daß nicht bloß die Vereinigten
Staaten von Nordamerika, sondern auch Ostindien, Australien und die süd¬
amerikanischen Staaten als gewichtige Rohproduzenten mit wachsender Konkurrenz
ihre Angebote auf den europäischen Markt gebracht haben. Man hat ferner
eingesehen, daß unter den gänzlich veränderten Marktverhältnissen die frühere
unabhängige Preisbestimmung der heimatlichen Produktion nicht mehr wieder
zu erlangen ist, und daß in demselben Maße, wie das Angebot dieser überseeischen
Konkurrenz entscheidender geworden ist, die Handelsbilanz Rußlands von dem
beschränkten und schwankenden Konsmntionsvermvgen des übrigen Europas und
von jenem eingreifenden überseeischen Angebot abhängig geworden ist.

Es hat in der vollen Würdigung dieser veränderte!? Verhältnisse gelegen,
daß die russische Bevölkerung, um sich eiuen Ersatz für die Verluste auf den
ausgetretenen einseitigen Wegen ihrer bisherigen Wirtschaftstätigkeit zu suchen,
ihre schöpferischen Kräfte einem Arbeitsgebiete zugewandt hat, auf welchem
Anfänge zwar schon seit langer Zeit bestanden hatten, aber eine aufsteigende
und zeitgemäße Entwicklung des Vorhandnen nur ungenügend erstrebt worden war.

Auf eine Belebung und Befruchtung der Gewerbe und der ersten schüchternen
Versuche einer Großindustrie waren schon viele der ältern russischen .Herrscher
bedacht gewesen. Wenn aber trotz aller staatlichen Musterbetriebe und aus¬
ländischen Lehrmeister die russische Bevölkerung wenig Talent und Neigung zum
Gewerbebetrieb gezeigt hat, so wird dies wenigstens in den ältern Jahrhunderten
der Hauptsache nach auf deu Maugel eines eigentlichen Bürgerstandes, bei dem
von jeher in allen Staaten die Stärke des Gewerbfleißes gelegen hat, zurück¬
zuführen sein. Die eminente Kraft eines Staatsgenies wie Peter der Große
übersah die Wichtigkeit einer Belebung der nationalen Gewerbsarbeit nicht.

Von der Regieruugsperiode dieses Kaisers hob eine neue Epoche der
nationalen Gewerbsarbeit an. Vornehmlich seit dem Jahre 1702 -- schreibt
Schnitzler in seinem Buche I/Lmxirö clss (Bd. 4, S. 467) -- verdoppelte
dieser energische Fürst seine Anstrengungen, um seinem Lande dieselben Elemente
des Reichtums und der Kraft zu sichern, welche die hervorragendsten Staaten
des Westens schon seit langer Zeit dnrch das System einer weitverzweigten


Unsre Handelsbeziehungen zu Rußland.

Produktion und Ausfuhr von Cerealien, Vieh, Häuten, Tnlg u, s. w. wird sich
in keinem andern europäischen Staate in einem gleich hohen Maße finden lassen.
Aber die Sonderheit und Exklusivität, in welcher sich die gewaltige Urproduktion
des nordischen Reiches innerhalb seines übrigen Erwerbslebens lange Zeit be¬
funden hat, ist eine Hauptursache dafür geworden, daß trotz der großen Werte,
welche Rußland aus dem Absatz seiner überschüssigen Brotstoffe vom europäischen
Markte bezogen hat, die Handelsbilanz dennoch für das Land wiederholt gefahr¬
drohend geworden ist.

Man hat in Rußland je länger je mehr eingesehen, daß die Zeiten, wo
die heimatlichen Getreidefluren die Kornkammer» für einen großen Teil des
westlichen Europas waren, vorüber sind und daß nicht bloß die Vereinigten
Staaten von Nordamerika, sondern auch Ostindien, Australien und die süd¬
amerikanischen Staaten als gewichtige Rohproduzenten mit wachsender Konkurrenz
ihre Angebote auf den europäischen Markt gebracht haben. Man hat ferner
eingesehen, daß unter den gänzlich veränderten Marktverhältnissen die frühere
unabhängige Preisbestimmung der heimatlichen Produktion nicht mehr wieder
zu erlangen ist, und daß in demselben Maße, wie das Angebot dieser überseeischen
Konkurrenz entscheidender geworden ist, die Handelsbilanz Rußlands von dem
beschränkten und schwankenden Konsmntionsvermvgen des übrigen Europas und
von jenem eingreifenden überseeischen Angebot abhängig geworden ist.

Es hat in der vollen Würdigung dieser veränderte!? Verhältnisse gelegen,
daß die russische Bevölkerung, um sich eiuen Ersatz für die Verluste auf den
ausgetretenen einseitigen Wegen ihrer bisherigen Wirtschaftstätigkeit zu suchen,
ihre schöpferischen Kräfte einem Arbeitsgebiete zugewandt hat, auf welchem
Anfänge zwar schon seit langer Zeit bestanden hatten, aber eine aufsteigende
und zeitgemäße Entwicklung des Vorhandnen nur ungenügend erstrebt worden war.

Auf eine Belebung und Befruchtung der Gewerbe und der ersten schüchternen
Versuche einer Großindustrie waren schon viele der ältern russischen .Herrscher
bedacht gewesen. Wenn aber trotz aller staatlichen Musterbetriebe und aus¬
ländischen Lehrmeister die russische Bevölkerung wenig Talent und Neigung zum
Gewerbebetrieb gezeigt hat, so wird dies wenigstens in den ältern Jahrhunderten
der Hauptsache nach auf deu Maugel eines eigentlichen Bürgerstandes, bei dem
von jeher in allen Staaten die Stärke des Gewerbfleißes gelegen hat, zurück¬
zuführen sein. Die eminente Kraft eines Staatsgenies wie Peter der Große
übersah die Wichtigkeit einer Belebung der nationalen Gewerbsarbeit nicht.

Von der Regieruugsperiode dieses Kaisers hob eine neue Epoche der
nationalen Gewerbsarbeit an. Vornehmlich seit dem Jahre 1702 — schreibt
Schnitzler in seinem Buche I/Lmxirö clss (Bd. 4, S. 467) — verdoppelte
dieser energische Fürst seine Anstrengungen, um seinem Lande dieselben Elemente
des Reichtums und der Kraft zu sichern, welche die hervorragendsten Staaten
des Westens schon seit langer Zeit dnrch das System einer weitverzweigten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0118" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197542"/>
          <fw type="header" place="top"> Unsre Handelsbeziehungen zu Rußland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_349" prev="#ID_348"> Produktion und Ausfuhr von Cerealien, Vieh, Häuten, Tnlg u, s. w. wird sich<lb/>
in keinem andern europäischen Staate in einem gleich hohen Maße finden lassen.<lb/>
Aber die Sonderheit und Exklusivität, in welcher sich die gewaltige Urproduktion<lb/>
des nordischen Reiches innerhalb seines übrigen Erwerbslebens lange Zeit be¬<lb/>
funden hat, ist eine Hauptursache dafür geworden, daß trotz der großen Werte,<lb/>
welche Rußland aus dem Absatz seiner überschüssigen Brotstoffe vom europäischen<lb/>
Markte bezogen hat, die Handelsbilanz dennoch für das Land wiederholt gefahr¬<lb/>
drohend geworden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_350"> Man hat in Rußland je länger je mehr eingesehen, daß die Zeiten, wo<lb/>
die heimatlichen Getreidefluren die Kornkammer» für einen großen Teil des<lb/>
westlichen Europas waren, vorüber sind und daß nicht bloß die Vereinigten<lb/>
Staaten von Nordamerika, sondern auch Ostindien, Australien und die süd¬<lb/>
amerikanischen Staaten als gewichtige Rohproduzenten mit wachsender Konkurrenz<lb/>
ihre Angebote auf den europäischen Markt gebracht haben. Man hat ferner<lb/>
eingesehen, daß unter den gänzlich veränderten Marktverhältnissen die frühere<lb/>
unabhängige Preisbestimmung der heimatlichen Produktion nicht mehr wieder<lb/>
zu erlangen ist, und daß in demselben Maße, wie das Angebot dieser überseeischen<lb/>
Konkurrenz entscheidender geworden ist, die Handelsbilanz Rußlands von dem<lb/>
beschränkten und schwankenden Konsmntionsvermvgen des übrigen Europas und<lb/>
von jenem eingreifenden überseeischen Angebot abhängig geworden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_351"> Es hat in der vollen Würdigung dieser veränderte!? Verhältnisse gelegen,<lb/>
daß die russische Bevölkerung, um sich eiuen Ersatz für die Verluste auf den<lb/>
ausgetretenen einseitigen Wegen ihrer bisherigen Wirtschaftstätigkeit zu suchen,<lb/>
ihre schöpferischen Kräfte einem Arbeitsgebiete zugewandt hat, auf welchem<lb/>
Anfänge zwar schon seit langer Zeit bestanden hatten, aber eine aufsteigende<lb/>
und zeitgemäße Entwicklung des Vorhandnen nur ungenügend erstrebt worden war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_352"> Auf eine Belebung und Befruchtung der Gewerbe und der ersten schüchternen<lb/>
Versuche einer Großindustrie waren schon viele der ältern russischen .Herrscher<lb/>
bedacht gewesen. Wenn aber trotz aller staatlichen Musterbetriebe und aus¬<lb/>
ländischen Lehrmeister die russische Bevölkerung wenig Talent und Neigung zum<lb/>
Gewerbebetrieb gezeigt hat, so wird dies wenigstens in den ältern Jahrhunderten<lb/>
der Hauptsache nach auf deu Maugel eines eigentlichen Bürgerstandes, bei dem<lb/>
von jeher in allen Staaten die Stärke des Gewerbfleißes gelegen hat, zurück¬<lb/>
zuführen sein. Die eminente Kraft eines Staatsgenies wie Peter der Große<lb/>
übersah die Wichtigkeit einer Belebung der nationalen Gewerbsarbeit nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_353" next="#ID_354"> Von der Regieruugsperiode dieses Kaisers hob eine neue Epoche der<lb/>
nationalen Gewerbsarbeit an. Vornehmlich seit dem Jahre 1702 &#x2014; schreibt<lb/>
Schnitzler in seinem Buche I/Lmxirö clss (Bd. 4, S. 467) &#x2014; verdoppelte<lb/>
dieser energische Fürst seine Anstrengungen, um seinem Lande dieselben Elemente<lb/>
des Reichtums und der Kraft zu sichern, welche die hervorragendsten Staaten<lb/>
des Westens schon seit langer Zeit dnrch das System einer weitverzweigten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0118] Unsre Handelsbeziehungen zu Rußland. Produktion und Ausfuhr von Cerealien, Vieh, Häuten, Tnlg u, s. w. wird sich in keinem andern europäischen Staate in einem gleich hohen Maße finden lassen. Aber die Sonderheit und Exklusivität, in welcher sich die gewaltige Urproduktion des nordischen Reiches innerhalb seines übrigen Erwerbslebens lange Zeit be¬ funden hat, ist eine Hauptursache dafür geworden, daß trotz der großen Werte, welche Rußland aus dem Absatz seiner überschüssigen Brotstoffe vom europäischen Markte bezogen hat, die Handelsbilanz dennoch für das Land wiederholt gefahr¬ drohend geworden ist. Man hat in Rußland je länger je mehr eingesehen, daß die Zeiten, wo die heimatlichen Getreidefluren die Kornkammer» für einen großen Teil des westlichen Europas waren, vorüber sind und daß nicht bloß die Vereinigten Staaten von Nordamerika, sondern auch Ostindien, Australien und die süd¬ amerikanischen Staaten als gewichtige Rohproduzenten mit wachsender Konkurrenz ihre Angebote auf den europäischen Markt gebracht haben. Man hat ferner eingesehen, daß unter den gänzlich veränderten Marktverhältnissen die frühere unabhängige Preisbestimmung der heimatlichen Produktion nicht mehr wieder zu erlangen ist, und daß in demselben Maße, wie das Angebot dieser überseeischen Konkurrenz entscheidender geworden ist, die Handelsbilanz Rußlands von dem beschränkten und schwankenden Konsmntionsvermvgen des übrigen Europas und von jenem eingreifenden überseeischen Angebot abhängig geworden ist. Es hat in der vollen Würdigung dieser veränderte!? Verhältnisse gelegen, daß die russische Bevölkerung, um sich eiuen Ersatz für die Verluste auf den ausgetretenen einseitigen Wegen ihrer bisherigen Wirtschaftstätigkeit zu suchen, ihre schöpferischen Kräfte einem Arbeitsgebiete zugewandt hat, auf welchem Anfänge zwar schon seit langer Zeit bestanden hatten, aber eine aufsteigende und zeitgemäße Entwicklung des Vorhandnen nur ungenügend erstrebt worden war. Auf eine Belebung und Befruchtung der Gewerbe und der ersten schüchternen Versuche einer Großindustrie waren schon viele der ältern russischen .Herrscher bedacht gewesen. Wenn aber trotz aller staatlichen Musterbetriebe und aus¬ ländischen Lehrmeister die russische Bevölkerung wenig Talent und Neigung zum Gewerbebetrieb gezeigt hat, so wird dies wenigstens in den ältern Jahrhunderten der Hauptsache nach auf deu Maugel eines eigentlichen Bürgerstandes, bei dem von jeher in allen Staaten die Stärke des Gewerbfleißes gelegen hat, zurück¬ zuführen sein. Die eminente Kraft eines Staatsgenies wie Peter der Große übersah die Wichtigkeit einer Belebung der nationalen Gewerbsarbeit nicht. Von der Regieruugsperiode dieses Kaisers hob eine neue Epoche der nationalen Gewerbsarbeit an. Vornehmlich seit dem Jahre 1702 — schreibt Schnitzler in seinem Buche I/Lmxirö clss (Bd. 4, S. 467) — verdoppelte dieser energische Fürst seine Anstrengungen, um seinem Lande dieselben Elemente des Reichtums und der Kraft zu sichern, welche die hervorragendsten Staaten des Westens schon seit langer Zeit dnrch das System einer weitverzweigten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/118
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/118>, abgerufen am 05.02.2025.