Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Der Inristenstand und das öffentliche Recht. wundert sein, daß ein Grundsatz der Reichsverfassung, die enge Beziehung Dieser Mangel an Kenntnis des öffentlichen Rechtes zeigt sich aber auch Der Inristenstand und das öffentliche Recht. wundert sein, daß ein Grundsatz der Reichsverfassung, die enge Beziehung Dieser Mangel an Kenntnis des öffentlichen Rechtes zeigt sich aber auch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197539"/> <fw type="header" place="top"> Der Inristenstand und das öffentliche Recht.</fw><lb/> <p xml:id="ID_339" prev="#ID_338"> wundert sein, daß ein Grundsatz der Reichsverfassung, die enge Beziehung<lb/> zwischen Diätenlosigkeit und allgemeinem Wahlrecht, bisher noch keinem Ver¬<lb/> ständnis bei den Gerichten begegnet ist. Daß hier die Diätenlosigkeit in jeder<lb/> Form gemeint sei» muß, wenn dem Kompromiß bei Zubilligung des allgemeinen<lb/> Wahlrechtes nicht jede Bedeutung abgesprochen werden soll, liegt auf der Hand,<lb/> Wie die englischen Gerichte der Hort der englischen Freiheit sind, so sollten doch<lb/> auch die deutschen Gerichte die Fundameutalsütze unsrer Verfassung wahren.<lb/> Es ist leicht, sich mit dein Grunde abzufinden, daß das Gesetz eine Lücke habe.<lb/> Für den Juristen, welcher von dem lebendigen Bewußtsein des öffentlichen<lb/> Rechtes getragen ist, giebt es keine Lücke. Abgesehen von dem Strafrecht, ist<lb/> die Anwendung der Rechts- und Gesetzesanalogie die vornehmste Seite des<lb/> richterlichen Berufes, und wenn je, so ist es in diesem Falle nötig, die<lb/> Thür einer offenbaren Verfassuugsverletzuug mit eisernen Stangen zu ver¬<lb/> schließen.</p><lb/> <p xml:id="ID_340" next="#ID_341"> Dieser Mangel an Kenntnis des öffentlichen Rechtes zeigt sich aber auch<lb/> da, wo der Jurist außerhalb seines amtlichen Berufs in das öffentliche Leben<lb/> eingreift. Überall in Vereinen, in Versammlungen und im Parlament führt<lb/> der Jurist das große Wort, und wie oft begegnet man dann Anschauungen,<lb/> die lediglich dem Boden des Privatrechtes entsprossen sind! Wenn man die<lb/> parlamentarische Geschichte der letzten fünfundzwanzig Jahre studirt, so wird<lb/> man finden, daß den großen ftaatsmnnnischen Zielen des Reichskanzlers immer<lb/> mit kleinlichen zivilistischen Einreden widersprochen worden ist. Niemals war<lb/> diese Kampfesweise üblicher als zu der Zeit, in welcher der verstorbne Abgeordnete<lb/> Laster das Parlament beherrschte, da dessen hauptsächliches Talent in dem privat¬<lb/> rechtlichen juristischen Formalismus bestand, welcher auch die höchste politische<lb/> Aktion nur nach den Regel» von Klage und Einrede behandelt. Vo» diesem Ge¬<lb/> sichtspunkte ans wurde unsre große Jnstizrefvrm behandelt; von den wirtschaft¬<lb/> lichen Bedürfnissen des Volkes, welche dadurch befriedigt werden sollten, war<lb/> nicht die Rede. Um der Schönheit des juristischen Baues willen hat man<lb/> durch den Anwaltszwang, das schleppende Zustellnugs- und Gerichtsvollzieher-<lb/> Wesen den Prozeß verteuert, den Rechtsweg erschwert und eine Unsumme von<lb/> Zeitversäumnis auf die produzirende Bevölkerung gehäuft. Das schou seiner ganzen<lb/> innern Natur nach fluktuirende Gelverbewesen hat man im Jahre 1869 in<lb/> die juristische Schnürbrust eingezwängt, an der es zu Grunde gegangen wäre,<lb/> wenn man nicht, durch die Erfahrung klug gemacht, sich uoch in der zwölften<lb/> Stunde zu Änderungen verstanden hätte. Der Kulturkampf wäre nicht zu<lb/> jener Schärfe gediehen, wenn man nicht von Anfang an alles auf den rein<lb/> zivilistischen Gesichtspunkt eingerichtet hätte; statt dem Ermessen der Regierung<lb/> mit ihren höhern politische» Zielen Rechnung zu tragen, hat man nur dem<lb/> Arbitrium des Richters vollen Spielraum geschaffen, und der Hauptmangel<lb/> der Maigesetze liegt darin, daß ihre Verfasser bedeutende Ziviljuristen waren.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0115]
Der Inristenstand und das öffentliche Recht.
wundert sein, daß ein Grundsatz der Reichsverfassung, die enge Beziehung
zwischen Diätenlosigkeit und allgemeinem Wahlrecht, bisher noch keinem Ver¬
ständnis bei den Gerichten begegnet ist. Daß hier die Diätenlosigkeit in jeder
Form gemeint sei» muß, wenn dem Kompromiß bei Zubilligung des allgemeinen
Wahlrechtes nicht jede Bedeutung abgesprochen werden soll, liegt auf der Hand,
Wie die englischen Gerichte der Hort der englischen Freiheit sind, so sollten doch
auch die deutschen Gerichte die Fundameutalsütze unsrer Verfassung wahren.
Es ist leicht, sich mit dein Grunde abzufinden, daß das Gesetz eine Lücke habe.
Für den Juristen, welcher von dem lebendigen Bewußtsein des öffentlichen
Rechtes getragen ist, giebt es keine Lücke. Abgesehen von dem Strafrecht, ist
die Anwendung der Rechts- und Gesetzesanalogie die vornehmste Seite des
richterlichen Berufes, und wenn je, so ist es in diesem Falle nötig, die
Thür einer offenbaren Verfassuugsverletzuug mit eisernen Stangen zu ver¬
schließen.
Dieser Mangel an Kenntnis des öffentlichen Rechtes zeigt sich aber auch
da, wo der Jurist außerhalb seines amtlichen Berufs in das öffentliche Leben
eingreift. Überall in Vereinen, in Versammlungen und im Parlament führt
der Jurist das große Wort, und wie oft begegnet man dann Anschauungen,
die lediglich dem Boden des Privatrechtes entsprossen sind! Wenn man die
parlamentarische Geschichte der letzten fünfundzwanzig Jahre studirt, so wird
man finden, daß den großen ftaatsmnnnischen Zielen des Reichskanzlers immer
mit kleinlichen zivilistischen Einreden widersprochen worden ist. Niemals war
diese Kampfesweise üblicher als zu der Zeit, in welcher der verstorbne Abgeordnete
Laster das Parlament beherrschte, da dessen hauptsächliches Talent in dem privat¬
rechtlichen juristischen Formalismus bestand, welcher auch die höchste politische
Aktion nur nach den Regel» von Klage und Einrede behandelt. Vo» diesem Ge¬
sichtspunkte ans wurde unsre große Jnstizrefvrm behandelt; von den wirtschaft¬
lichen Bedürfnissen des Volkes, welche dadurch befriedigt werden sollten, war
nicht die Rede. Um der Schönheit des juristischen Baues willen hat man
durch den Anwaltszwang, das schleppende Zustellnugs- und Gerichtsvollzieher-
Wesen den Prozeß verteuert, den Rechtsweg erschwert und eine Unsumme von
Zeitversäumnis auf die produzirende Bevölkerung gehäuft. Das schou seiner ganzen
innern Natur nach fluktuirende Gelverbewesen hat man im Jahre 1869 in
die juristische Schnürbrust eingezwängt, an der es zu Grunde gegangen wäre,
wenn man nicht, durch die Erfahrung klug gemacht, sich uoch in der zwölften
Stunde zu Änderungen verstanden hätte. Der Kulturkampf wäre nicht zu
jener Schärfe gediehen, wenn man nicht von Anfang an alles auf den rein
zivilistischen Gesichtspunkt eingerichtet hätte; statt dem Ermessen der Regierung
mit ihren höhern politische» Zielen Rechnung zu tragen, hat man nur dem
Arbitrium des Richters vollen Spielraum geschaffen, und der Hauptmangel
der Maigesetze liegt darin, daß ihre Verfasser bedeutende Ziviljuristen waren.
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