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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Architekten in der gewerblichen Bcrufsklasse bereits aufgenommen und werden
durch deren Abgeordnete vertreten, ebenso die Post-, Eisenbahn- und Tele¬
graphenbeamten in der Berufsklasse 3.

Immerhin wäre es undenkbar, die geistige Blüte der Nation nur durch
15 Repräsentanten verkörpert zu sehen, und schon aus diesem Grunde muß der
Gedanke, das Mandat von der Berufszugehörigkeit abhängig zu machen, aufge¬
geben werden, so sehr derselbe auch im innern Wesen einer Klassenvertretnng
begründet liegt.

Anderseits kann es fraglich erscheinen, ob einige Berufsklassen imstande
sein werden, die Zahl der ihnen zugewiesenen Sitze durch Mitglieder von unbe¬
streitbarer Qualität zu besehen, ja noch mehr, ob sich bei der Industrie und
dem Handelsstande bei jeder Wahl eine genügende Anzahl von Persönlichkeiten
vorfände, die gewillt wären, jene Sitze in einem diätenlvsen Reichstage anzu¬
nehmen. Der Umstand, daß zu der gegenwärtig lagerten Versammlung die
gewerbtreibenden Klassen nur 41, der Handelsstand nur 21 Mitglieder entsandten,
weist vielmehr darauf hiu, daß Kaufleute und Industrielle weniger Zeit und
Neigung haben, sich am parlamentarischen Treiben zu beteiligen. Die Industrie,
welche diesen 41 Berufsgenossen bei dem neuen Wahlsystem noch weitere 102
zugesellen müßte, wird diesen Bedarf aus den Reihen ihrer Freiwilligen kaum
zu decken vermögen. Eine ähnliche Schwierigkeit würde sich wahrscheinlich bei
der vierten Berufsklasse herausstellen. Während die fünfte an einer Hyper¬
trophie unvcrwcndbarer Arbeitskräfte litte, würde sich bei der zweiten, dritten
und vierten Verufsklaffe ein Mangel an Kandidaten fühlbar machen, dem in
keiner Weise durch hilfreiches Eingreifen der andern Stände begegnet werden
könnte. Alle diese Gründe würden dafür sprechen, das passive Wahlrecht nicht
zu beschränken und es den Berufsstünden zu überlassen, sich ihre Vertreter aus
denjenigen Kreisen zu wählen, auf die sie ihr Vertrauen hinweist. Es wäre
außerdem, wenn man jene Beschränkung prinzipiell aufhöbe, die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, daß die Praxis dieselbe teilweise von selbst einführte und die ein¬
zelnen Berufsklassen ihre Vertreter nach Maßgabe des Vorhandenseins geeigneter
Individuen thatsächlich aus ihrer Mitte wählten. Die Beibehaltung des allge¬
meinen passiven Wahlrechts in seiner gegenwärtigen Ausdehnung würde übrigens
dem neuen Reichstage den mißfälligen Charakter einer rein materiellen Interessen¬
vertretung nehmen, der ihm sonst anhaften könnte. Da die Landwirtschaft die
numerisch stärkste Berufsklasse ist und ihren Abgeordneten in einer vollzähligen
Versammlung nur 25 Stimmen zur Erlangung der absoluten Majorität fehlen
würden, so wäre die Haltung dieser Berufsgenossenschaft bei der Erledigung
wirtschaftlicher Fragen immer von bestimmenden Einfluß und sehr oft ausschlag¬
gebend. Die Beurteilung politischer und sozialer Fragen aber vom eugbegrenztcu
Staudpunkte selbstsüchtigen Berufsintcresses aus müßte auf die staatliche Ent¬
wicklung hemmend und schädlich einwirken. Eine solche reine Interessenvertretung


Grenzboten VI. 1885. 11

Architekten in der gewerblichen Bcrufsklasse bereits aufgenommen und werden
durch deren Abgeordnete vertreten, ebenso die Post-, Eisenbahn- und Tele¬
graphenbeamten in der Berufsklasse 3.

Immerhin wäre es undenkbar, die geistige Blüte der Nation nur durch
15 Repräsentanten verkörpert zu sehen, und schon aus diesem Grunde muß der
Gedanke, das Mandat von der Berufszugehörigkeit abhängig zu machen, aufge¬
geben werden, so sehr derselbe auch im innern Wesen einer Klassenvertretnng
begründet liegt.

Anderseits kann es fraglich erscheinen, ob einige Berufsklassen imstande
sein werden, die Zahl der ihnen zugewiesenen Sitze durch Mitglieder von unbe¬
streitbarer Qualität zu besehen, ja noch mehr, ob sich bei der Industrie und
dem Handelsstande bei jeder Wahl eine genügende Anzahl von Persönlichkeiten
vorfände, die gewillt wären, jene Sitze in einem diätenlvsen Reichstage anzu¬
nehmen. Der Umstand, daß zu der gegenwärtig lagerten Versammlung die
gewerbtreibenden Klassen nur 41, der Handelsstand nur 21 Mitglieder entsandten,
weist vielmehr darauf hiu, daß Kaufleute und Industrielle weniger Zeit und
Neigung haben, sich am parlamentarischen Treiben zu beteiligen. Die Industrie,
welche diesen 41 Berufsgenossen bei dem neuen Wahlsystem noch weitere 102
zugesellen müßte, wird diesen Bedarf aus den Reihen ihrer Freiwilligen kaum
zu decken vermögen. Eine ähnliche Schwierigkeit würde sich wahrscheinlich bei
der vierten Berufsklasse herausstellen. Während die fünfte an einer Hyper¬
trophie unvcrwcndbarer Arbeitskräfte litte, würde sich bei der zweiten, dritten
und vierten Verufsklaffe ein Mangel an Kandidaten fühlbar machen, dem in
keiner Weise durch hilfreiches Eingreifen der andern Stände begegnet werden
könnte. Alle diese Gründe würden dafür sprechen, das passive Wahlrecht nicht
zu beschränken und es den Berufsstünden zu überlassen, sich ihre Vertreter aus
denjenigen Kreisen zu wählen, auf die sie ihr Vertrauen hinweist. Es wäre
außerdem, wenn man jene Beschränkung prinzipiell aufhöbe, die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen, daß die Praxis dieselbe teilweise von selbst einführte und die ein¬
zelnen Berufsklassen ihre Vertreter nach Maßgabe des Vorhandenseins geeigneter
Individuen thatsächlich aus ihrer Mitte wählten. Die Beibehaltung des allge¬
meinen passiven Wahlrechts in seiner gegenwärtigen Ausdehnung würde übrigens
dem neuen Reichstage den mißfälligen Charakter einer rein materiellen Interessen¬
vertretung nehmen, der ihm sonst anhaften könnte. Da die Landwirtschaft die
numerisch stärkste Berufsklasse ist und ihren Abgeordneten in einer vollzähligen
Versammlung nur 25 Stimmen zur Erlangung der absoluten Majorität fehlen
würden, so wäre die Haltung dieser Berufsgenossenschaft bei der Erledigung
wirtschaftlicher Fragen immer von bestimmenden Einfluß und sehr oft ausschlag¬
gebend. Die Beurteilung politischer und sozialer Fragen aber vom eugbegrenztcu
Staudpunkte selbstsüchtigen Berufsintcresses aus müßte auf die staatliche Ent¬
wicklung hemmend und schädlich einwirken. Eine solche reine Interessenvertretung


Grenzboten VI. 1885. 11
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/89>, abgerufen am 15.01.2025.