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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Berufsklassemvahl.

wird, Ihre Angehörigen sind nicht einmal durch die Gemeinsamkeit lokaler
oder kommunaler Interessen verbunden. Dies wäre allenfalls noch denkbar in
solchen Fällen, wo die Einwohnerzahl einer Ortsgemeinde sich mit der vor-
geschriebnen Seelenzahl des Wahlbezirks annähernd deckte, sich also auf etwa
100000 Köpfe beliefe. Von dem ersten Berliner Wahlkreise kann man aber
nicht annehmen, das; seine Wähler im Gegensatz zum zweite" oder dritten durch
eine besondre Verbandsgemeinschaft aneinander gekettet würden. Noch weniger
besteht eine solche in den Provinzialwahlbezirkeu, wo ländliche und städtische
Kommunen zusammengelegt sind. Dennoch hat man diesen Wahlkörpern eine
ihrem Wesen nach durchaus unangemessene politische Bedeutung übertragen,
indem man von den Mitgliedern des Wahlkreises eine Einigung oder doch Ent-
scheidung in der Wahl eines einzigen Abgeordneten fordert. Unsre heutige
Organisation geographisch abgeteilter Wahlkörper, welche nur auf einer rein
zufälligen Anhäufung von Individuen beruht, war und bleibt ein Notbehelf,
der uur so lange gerechtfertigt erscheint, als ein vernünftigerer Verbandsorganis¬
mus nicht vorhanden oder nicht aufgefunden ist.

Gesellschaftliche Schichtungen nach Maßgabe des Vermögens oder der Bil¬
dung, wie die alten Stände, sind dazu nicht brauchbar. Ihre feste Begrenzung
durch die an Eintritt und Mitgliedschaft geknüpften Bedingungen widerspricht
den Anforderungen des heutigen Staatswesens, wie es sich nun eünnal nach
dem Zusammenbruch der alten Gesellschaft ausgebildet hat. Die.' Wieder¬
belebung erstorbener Körperschaften soll hier nicht empfohlen werden, da Nur
neue, kräftige, lebensfähige besitzen. Das sind die Berufsstände. Im Gegensatz
zu den gewissermaßen horizontalen Schichten des alten Ständewesens teilen sie
die bürgerliche Gesellschaft in gleichsam vertikaler Richtung von oben nach
unten, von den höchsten Kreisen herab zu den untersten Nolksklassen, von den
Meistbefähigten und Begütertsten bis zu den mittellosen Handlangern und Tageö-
arbeitern. Und dennoch ist jede dieser Gruppen durch ein gemeinsames Interesse
des Berufes verbunden. Alle haben den Blick nach einer Richtung gewendet,
mögen auch unter ihnen Fähigkeit, Fleiß und Erfolg durchaus verschiedenartig
sein. Die Berufsgenossenschaften besitzen alle Erfordernisse wahlpvlitischer Ver¬
bände. Die Wahl eines Berufes ist freiwillig, sie unterliegt keinem gesetzlichen
Zwange. Jeder findet nach Maßgabe seiner Befähigung und Erziehung eine
passende Stelle. Keine rechtliche oder bürgerliche Schranke versperrt ihm den
Weg zu den höchsten Sprossen der Berufsleiter. Außerdem ist die Gliederung
"ach Bcrufsständen einer weiteren sozialpolitischen Entwicklung fähig, wie die
Ausbreitung unsers Asfoziatiousweseus und die Tendenz zur Erweiterung staat-
licher Kollektivwirtschaft deutlich erkennen lassen. Auch die neueste Gesetzgebung
auf dem Gebiete der Hilfskassen, der Haftpflicht und der Unfallversicherung schlägt
diesen Weg ein. In den Bcrufsständen zeigt sich uns mithin ein bisher latenter
volkswirtschaftlicher Organismus, der durchaus geeignet ist, die korporative


Die proportionale Berufsklassemvahl.

wird, Ihre Angehörigen sind nicht einmal durch die Gemeinsamkeit lokaler
oder kommunaler Interessen verbunden. Dies wäre allenfalls noch denkbar in
solchen Fällen, wo die Einwohnerzahl einer Ortsgemeinde sich mit der vor-
geschriebnen Seelenzahl des Wahlbezirks annähernd deckte, sich also auf etwa
100000 Köpfe beliefe. Von dem ersten Berliner Wahlkreise kann man aber
nicht annehmen, das; seine Wähler im Gegensatz zum zweite» oder dritten durch
eine besondre Verbandsgemeinschaft aneinander gekettet würden. Noch weniger
besteht eine solche in den Provinzialwahlbezirkeu, wo ländliche und städtische
Kommunen zusammengelegt sind. Dennoch hat man diesen Wahlkörpern eine
ihrem Wesen nach durchaus unangemessene politische Bedeutung übertragen,
indem man von den Mitgliedern des Wahlkreises eine Einigung oder doch Ent-
scheidung in der Wahl eines einzigen Abgeordneten fordert. Unsre heutige
Organisation geographisch abgeteilter Wahlkörper, welche nur auf einer rein
zufälligen Anhäufung von Individuen beruht, war und bleibt ein Notbehelf,
der uur so lange gerechtfertigt erscheint, als ein vernünftigerer Verbandsorganis¬
mus nicht vorhanden oder nicht aufgefunden ist.

Gesellschaftliche Schichtungen nach Maßgabe des Vermögens oder der Bil¬
dung, wie die alten Stände, sind dazu nicht brauchbar. Ihre feste Begrenzung
durch die an Eintritt und Mitgliedschaft geknüpften Bedingungen widerspricht
den Anforderungen des heutigen Staatswesens, wie es sich nun eünnal nach
dem Zusammenbruch der alten Gesellschaft ausgebildet hat. Die.' Wieder¬
belebung erstorbener Körperschaften soll hier nicht empfohlen werden, da Nur
neue, kräftige, lebensfähige besitzen. Das sind die Berufsstände. Im Gegensatz
zu den gewissermaßen horizontalen Schichten des alten Ständewesens teilen sie
die bürgerliche Gesellschaft in gleichsam vertikaler Richtung von oben nach
unten, von den höchsten Kreisen herab zu den untersten Nolksklassen, von den
Meistbefähigten und Begütertsten bis zu den mittellosen Handlangern und Tageö-
arbeitern. Und dennoch ist jede dieser Gruppen durch ein gemeinsames Interesse
des Berufes verbunden. Alle haben den Blick nach einer Richtung gewendet,
mögen auch unter ihnen Fähigkeit, Fleiß und Erfolg durchaus verschiedenartig
sein. Die Berufsgenossenschaften besitzen alle Erfordernisse wahlpvlitischer Ver¬
bände. Die Wahl eines Berufes ist freiwillig, sie unterliegt keinem gesetzlichen
Zwange. Jeder findet nach Maßgabe seiner Befähigung und Erziehung eine
passende Stelle. Keine rechtliche oder bürgerliche Schranke versperrt ihm den
Weg zu den höchsten Sprossen der Berufsleiter. Außerdem ist die Gliederung
»ach Bcrufsständen einer weiteren sozialpolitischen Entwicklung fähig, wie die
Ausbreitung unsers Asfoziatiousweseus und die Tendenz zur Erweiterung staat-
licher Kollektivwirtschaft deutlich erkennen lassen. Auch die neueste Gesetzgebung
auf dem Gebiete der Hilfskassen, der Haftpflicht und der Unfallversicherung schlägt
diesen Weg ein. In den Bcrufsständen zeigt sich uns mithin ein bisher latenter
volkswirtschaftlicher Organismus, der durchaus geeignet ist, die korporative


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/80>, abgerufen am 15.01.2025.