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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Berufsklassonwahl.

Abwehr miteinander verbunden sind. Die Abstimmung wird dann nicht durch
das Vertrauen auf deu eignen, sondern dnrch die Abneigung gegen einen mi߬
liebigen Kandidaten diktirt.

8. Diese Kampfgenossenschaftcn ringen am Wahltage umso heftiger mit¬
einander, als eine einzige Stimme genügen kaun, das Zünglein der Wage ab¬
zulenken und es sich außerdem um eine Entscheidung über den ungeschmälerten
Gewinn oder den gänzlichen Verlust handelt. Verschärft wird dieser Kampf
noch durch deu Hinblick auf die Bedeutung, welche die Stimme jedes einzelnen
Mandatars später bei den parlamentarischen Abstimmungen gewinnen wird.
Denn hier wiederholt sich in jedem einzelnen Falle dieselbe Erscheinung. Jede
Abstimmung im Reichstage spaltet dessen Mitglieder in zwei feindliche Gruppen,
die durch Bejahung oder Verneinung der Vorlage in den denkbar schärfsten
Gegensatz treten. Die Voraussicht dieses Zweikampfes, der in letzter Instanz
über die ungleichartigen Wünsche der Wählerschaft entscheidet, trägt den Streit
aus den geschlossenen Räumen des Parlaments hinaus auf die weite Arena
der Wahlbewegung. Daraus erklärt sich denn auch die ungeheure Aufregung,
die einen solchen Alt begleitet, die Erbitterung, mit welcher der Kampf geführt
wird, und die Neigung, zur Erreichung des Zieles unznläßliche oder gar ver¬
werfliche Mittel anzuwenden. Die Bevölkerung gerät in eine Stimmung,
welche der eines Hazardspielers nicht ungleich ist, und die Erregung ist umso
gerechtfertigter, als einem kleinen Einsatz ein unverhältnismäßig hoher Gewinn,
der Aufwendung großer Mühen und Opfer anderseits die totale Einbuße aller
Hoffnungen gegenübersteht.

9. Das Majoritätsprinzip bewirkt, daß unter Umständen eine Stimme mehr
gilt, als sie wert ist, daß ein stärkerer Anspruch nicht entsprechend mehr, ein
schwächerer entsprechend weniger wiegt. Bezeichnend für die Überreizung, welche
die Wahlagitation auf Grund dieses durchaus falschen Systems in allen Be¬
völkerungsschichten zuwege bringt, ist die Thatsache, daß sofort nach dem Be¬
kanntwerde" des Wahlergebnisses die fieberhafte Aufregung verfliegt und nur
der siegreiche Bruchteil der Bevölkerung an dem weitern Verlaufe der Angelegen¬
heit ein direktes Interesse behält, während die für die Dauer von drei Jahren
von dem politischen Kampfplatze ausgeschlossenen Minoritäten sich grollend und
verstimmt zurückziehen.

10. Obwohl die Reichsverfassung die Beteiligung an dem Wahlakt weder
ausdrücklich vorschreibt, noch die Ausübung andrer Bürgerrechte von dieser Be¬
teiligung abhängig gemacht hat -- ein Zwang zum Wählen mithin nicht be¬
steht --, so bildet doch die Wahlpflicht die gedankliche Grundlage und Vor¬
aussetzung für das Zustandekommen einer Volksvertretung. Es liegt demnach,
wenn auch kein direkter Befehl an den Einzelnen, so doch ein Anspruch an die
Gesamtheit der Bevölkerung vor, dem sich die letztere ohne Preisgeben eines
ihrer wichtigsten Rechte nicht zu entziehen vermag. Indem die Verfassung diesen


Die proportionale Berufsklassonwahl.

Abwehr miteinander verbunden sind. Die Abstimmung wird dann nicht durch
das Vertrauen auf deu eignen, sondern dnrch die Abneigung gegen einen mi߬
liebigen Kandidaten diktirt.

8. Diese Kampfgenossenschaftcn ringen am Wahltage umso heftiger mit¬
einander, als eine einzige Stimme genügen kaun, das Zünglein der Wage ab¬
zulenken und es sich außerdem um eine Entscheidung über den ungeschmälerten
Gewinn oder den gänzlichen Verlust handelt. Verschärft wird dieser Kampf
noch durch deu Hinblick auf die Bedeutung, welche die Stimme jedes einzelnen
Mandatars später bei den parlamentarischen Abstimmungen gewinnen wird.
Denn hier wiederholt sich in jedem einzelnen Falle dieselbe Erscheinung. Jede
Abstimmung im Reichstage spaltet dessen Mitglieder in zwei feindliche Gruppen,
die durch Bejahung oder Verneinung der Vorlage in den denkbar schärfsten
Gegensatz treten. Die Voraussicht dieses Zweikampfes, der in letzter Instanz
über die ungleichartigen Wünsche der Wählerschaft entscheidet, trägt den Streit
aus den geschlossenen Räumen des Parlaments hinaus auf die weite Arena
der Wahlbewegung. Daraus erklärt sich denn auch die ungeheure Aufregung,
die einen solchen Alt begleitet, die Erbitterung, mit welcher der Kampf geführt
wird, und die Neigung, zur Erreichung des Zieles unznläßliche oder gar ver¬
werfliche Mittel anzuwenden. Die Bevölkerung gerät in eine Stimmung,
welche der eines Hazardspielers nicht ungleich ist, und die Erregung ist umso
gerechtfertigter, als einem kleinen Einsatz ein unverhältnismäßig hoher Gewinn,
der Aufwendung großer Mühen und Opfer anderseits die totale Einbuße aller
Hoffnungen gegenübersteht.

9. Das Majoritätsprinzip bewirkt, daß unter Umständen eine Stimme mehr
gilt, als sie wert ist, daß ein stärkerer Anspruch nicht entsprechend mehr, ein
schwächerer entsprechend weniger wiegt. Bezeichnend für die Überreizung, welche
die Wahlagitation auf Grund dieses durchaus falschen Systems in allen Be¬
völkerungsschichten zuwege bringt, ist die Thatsache, daß sofort nach dem Be¬
kanntwerde» des Wahlergebnisses die fieberhafte Aufregung verfliegt und nur
der siegreiche Bruchteil der Bevölkerung an dem weitern Verlaufe der Angelegen¬
heit ein direktes Interesse behält, während die für die Dauer von drei Jahren
von dem politischen Kampfplatze ausgeschlossenen Minoritäten sich grollend und
verstimmt zurückziehen.

10. Obwohl die Reichsverfassung die Beteiligung an dem Wahlakt weder
ausdrücklich vorschreibt, noch die Ausübung andrer Bürgerrechte von dieser Be¬
teiligung abhängig gemacht hat — ein Zwang zum Wählen mithin nicht be¬
steht —, so bildet doch die Wahlpflicht die gedankliche Grundlage und Vor¬
aussetzung für das Zustandekommen einer Volksvertretung. Es liegt demnach,
wenn auch kein direkter Befehl an den Einzelnen, so doch ein Anspruch an die
Gesamtheit der Bevölkerung vor, dem sich die letztere ohne Preisgeben eines
ihrer wichtigsten Rechte nicht zu entziehen vermag. Indem die Verfassung diesen


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[0078] Die proportionale Berufsklassonwahl. Abwehr miteinander verbunden sind. Die Abstimmung wird dann nicht durch das Vertrauen auf deu eignen, sondern dnrch die Abneigung gegen einen mi߬ liebigen Kandidaten diktirt. 8. Diese Kampfgenossenschaftcn ringen am Wahltage umso heftiger mit¬ einander, als eine einzige Stimme genügen kaun, das Zünglein der Wage ab¬ zulenken und es sich außerdem um eine Entscheidung über den ungeschmälerten Gewinn oder den gänzlichen Verlust handelt. Verschärft wird dieser Kampf noch durch deu Hinblick auf die Bedeutung, welche die Stimme jedes einzelnen Mandatars später bei den parlamentarischen Abstimmungen gewinnen wird. Denn hier wiederholt sich in jedem einzelnen Falle dieselbe Erscheinung. Jede Abstimmung im Reichstage spaltet dessen Mitglieder in zwei feindliche Gruppen, die durch Bejahung oder Verneinung der Vorlage in den denkbar schärfsten Gegensatz treten. Die Voraussicht dieses Zweikampfes, der in letzter Instanz über die ungleichartigen Wünsche der Wählerschaft entscheidet, trägt den Streit aus den geschlossenen Räumen des Parlaments hinaus auf die weite Arena der Wahlbewegung. Daraus erklärt sich denn auch die ungeheure Aufregung, die einen solchen Alt begleitet, die Erbitterung, mit welcher der Kampf geführt wird, und die Neigung, zur Erreichung des Zieles unznläßliche oder gar ver¬ werfliche Mittel anzuwenden. Die Bevölkerung gerät in eine Stimmung, welche der eines Hazardspielers nicht ungleich ist, und die Erregung ist umso gerechtfertigter, als einem kleinen Einsatz ein unverhältnismäßig hoher Gewinn, der Aufwendung großer Mühen und Opfer anderseits die totale Einbuße aller Hoffnungen gegenübersteht. 9. Das Majoritätsprinzip bewirkt, daß unter Umständen eine Stimme mehr gilt, als sie wert ist, daß ein stärkerer Anspruch nicht entsprechend mehr, ein schwächerer entsprechend weniger wiegt. Bezeichnend für die Überreizung, welche die Wahlagitation auf Grund dieses durchaus falschen Systems in allen Be¬ völkerungsschichten zuwege bringt, ist die Thatsache, daß sofort nach dem Be¬ kanntwerde» des Wahlergebnisses die fieberhafte Aufregung verfliegt und nur der siegreiche Bruchteil der Bevölkerung an dem weitern Verlaufe der Angelegen¬ heit ein direktes Interesse behält, während die für die Dauer von drei Jahren von dem politischen Kampfplatze ausgeschlossenen Minoritäten sich grollend und verstimmt zurückziehen. 10. Obwohl die Reichsverfassung die Beteiligung an dem Wahlakt weder ausdrücklich vorschreibt, noch die Ausübung andrer Bürgerrechte von dieser Be¬ teiligung abhängig gemacht hat — ein Zwang zum Wählen mithin nicht be¬ steht —, so bildet doch die Wahlpflicht die gedankliche Grundlage und Vor¬ aussetzung für das Zustandekommen einer Volksvertretung. Es liegt demnach, wenn auch kein direkter Befehl an den Einzelnen, so doch ein Anspruch an die Gesamtheit der Bevölkerung vor, dem sich die letztere ohne Preisgeben eines ihrer wichtigsten Rechte nicht zu entziehen vermag. Indem die Verfassung diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/78>, abgerufen am 15.01.2025.