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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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6. So wenig also die numerische Fraltivnsstärke im Reichstage der Zahl der
Parteimitglieder in der Wählerschaft entspricht, so wenig berechtigt ein An¬
wachsen und Abnehmen einer Parlamentsfraktivn zu der Annahme, daß die
politischen Anschauungen, die sie vertritt, im Lande selbst eine entsprechende
Wandlung erfahren haben. Alle Schlüsse, welche man gewöhnlich aus dem
Überwiegen konservativer, liberaler oder selbst radikaler Parteigruppen ans eine
entsprechende allgemeine Zeitströmung zu ziehen geneigt ist, erweisen sich als
irrig. Wenn sich in irgendeinem Wahlkreise, in welchem bisher die eine Partei
die erdrückende Majorität bildete, ein Umschwung der Meinungen dahin voll¬
zieht, daß ein Teil der Parteimitglieder abfällt und zu einer Gegenpartei über¬
geht, so kann diese doch immerhin sehr bemerkenswerte Thatsache erst dann den
Besitz des Maubads gefährden, wenn die bisherige Minorität nahe an den Rest
der durch Abtrünnige verminderten Majorität hinanreicht. Es können im Lande
große Veränderungen in der Parteischattirnug entstehen und im Reichstage nicht
zum Ausdruck komme". Es können umgekehrt Schiebungen der Fraktionen im
Reichstage eintreten, obwohl die Stärke der einzelnen Wählergrnppen die gleiche
geblieben ist. Wahlenthaltnngen und Wahlbündnisse tonnen deu Sieg bald der
einen, bald der andern Gruppe zuwenden, ohne daß ein Mitglied aus dem bis¬
herigen Parteiverbande aufzutreten braucht. Wenn z. B. in einem Wahlkreise
die konservative Partei 7000, die fortschrittliche 6000 und die sozialdemokra¬
tische 2000 Anhänger zählt, so liegt die Entscheidung, welche der erstgenannten
beiden Parteien das Mandat erhalten soll, in den Händen der dritten. Das
bedeutet soviel als die Herrschaft der Willkür, und es ist sogar die schwächste
Gruppe, die sie ausübt.

7. Das Majoritätsprinzip führt aber nicht nur zu einer Verhehlung oder
Entstellung thatsächlicher Vorgänge, es ruft auch Schiebungen und Bewegungen
hervor, die sonst erst später oder allmählich in die Erscheinung treten würden.
Da es in jedem Wahlbezirke nur ein einziger ist, der seine und seiner nächsten
Gesinnungsgenossen Ansprüche in vollkommen befriedigender Weise zur Geltung
bringen kann, so ist die Wählerschaft bei jeder Erneuerung des Reichstages
genötigt, in unzweideutiger Weise zur Personalfrage Stellung zu nehmen. Die
Wandlungen in den politischen Anschauungen einer Nation aber vollziehen sich
langsam und unter der Einwirkung konstanter Kräfte. Bei unserm bedächtigen
Volksstamme treten dieselben noch weniger hastig ein als bei manchen andern
Nationen. Die Notwendigkeit indessen, sich am Wahltage schnell und ohne
genaue Kenntnis der Verhältnisse für einen Kandidaten zu entscheiden, der
die Sicherheit oder doch die größten Chancen des Erfolges für sich hat und
dessen Programm uns am wenigsten widerstrebt -- diese Notwendigkeit ver¬
anlaßt uns. oft unser Urteil übereilt abzugeben. Eine solche Überstürzung führt
zu vorübergehenden Parteibildungen, deren Mitglieder keineswegs durch die
Übereinstimmung der Ansichten, sondern durch den gemeinsamen Wunsch der


6. So wenig also die numerische Fraltivnsstärke im Reichstage der Zahl der
Parteimitglieder in der Wählerschaft entspricht, so wenig berechtigt ein An¬
wachsen und Abnehmen einer Parlamentsfraktivn zu der Annahme, daß die
politischen Anschauungen, die sie vertritt, im Lande selbst eine entsprechende
Wandlung erfahren haben. Alle Schlüsse, welche man gewöhnlich aus dem
Überwiegen konservativer, liberaler oder selbst radikaler Parteigruppen ans eine
entsprechende allgemeine Zeitströmung zu ziehen geneigt ist, erweisen sich als
irrig. Wenn sich in irgendeinem Wahlkreise, in welchem bisher die eine Partei
die erdrückende Majorität bildete, ein Umschwung der Meinungen dahin voll¬
zieht, daß ein Teil der Parteimitglieder abfällt und zu einer Gegenpartei über¬
geht, so kann diese doch immerhin sehr bemerkenswerte Thatsache erst dann den
Besitz des Maubads gefährden, wenn die bisherige Minorität nahe an den Rest
der durch Abtrünnige verminderten Majorität hinanreicht. Es können im Lande
große Veränderungen in der Parteischattirnug entstehen und im Reichstage nicht
zum Ausdruck komme». Es können umgekehrt Schiebungen der Fraktionen im
Reichstage eintreten, obwohl die Stärke der einzelnen Wählergrnppen die gleiche
geblieben ist. Wahlenthaltnngen und Wahlbündnisse tonnen deu Sieg bald der
einen, bald der andern Gruppe zuwenden, ohne daß ein Mitglied aus dem bis¬
herigen Parteiverbande aufzutreten braucht. Wenn z. B. in einem Wahlkreise
die konservative Partei 7000, die fortschrittliche 6000 und die sozialdemokra¬
tische 2000 Anhänger zählt, so liegt die Entscheidung, welche der erstgenannten
beiden Parteien das Mandat erhalten soll, in den Händen der dritten. Das
bedeutet soviel als die Herrschaft der Willkür, und es ist sogar die schwächste
Gruppe, die sie ausübt.

7. Das Majoritätsprinzip führt aber nicht nur zu einer Verhehlung oder
Entstellung thatsächlicher Vorgänge, es ruft auch Schiebungen und Bewegungen
hervor, die sonst erst später oder allmählich in die Erscheinung treten würden.
Da es in jedem Wahlbezirke nur ein einziger ist, der seine und seiner nächsten
Gesinnungsgenossen Ansprüche in vollkommen befriedigender Weise zur Geltung
bringen kann, so ist die Wählerschaft bei jeder Erneuerung des Reichstages
genötigt, in unzweideutiger Weise zur Personalfrage Stellung zu nehmen. Die
Wandlungen in den politischen Anschauungen einer Nation aber vollziehen sich
langsam und unter der Einwirkung konstanter Kräfte. Bei unserm bedächtigen
Volksstamme treten dieselben noch weniger hastig ein als bei manchen andern
Nationen. Die Notwendigkeit indessen, sich am Wahltage schnell und ohne
genaue Kenntnis der Verhältnisse für einen Kandidaten zu entscheiden, der
die Sicherheit oder doch die größten Chancen des Erfolges für sich hat und
dessen Programm uns am wenigsten widerstrebt — diese Notwendigkeit ver¬
anlaßt uns. oft unser Urteil übereilt abzugeben. Eine solche Überstürzung führt
zu vorübergehenden Parteibildungen, deren Mitglieder keineswegs durch die
Übereinstimmung der Ansichten, sondern durch den gemeinsamen Wunsch der


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[0077] 6. So wenig also die numerische Fraltivnsstärke im Reichstage der Zahl der Parteimitglieder in der Wählerschaft entspricht, so wenig berechtigt ein An¬ wachsen und Abnehmen einer Parlamentsfraktivn zu der Annahme, daß die politischen Anschauungen, die sie vertritt, im Lande selbst eine entsprechende Wandlung erfahren haben. Alle Schlüsse, welche man gewöhnlich aus dem Überwiegen konservativer, liberaler oder selbst radikaler Parteigruppen ans eine entsprechende allgemeine Zeitströmung zu ziehen geneigt ist, erweisen sich als irrig. Wenn sich in irgendeinem Wahlkreise, in welchem bisher die eine Partei die erdrückende Majorität bildete, ein Umschwung der Meinungen dahin voll¬ zieht, daß ein Teil der Parteimitglieder abfällt und zu einer Gegenpartei über¬ geht, so kann diese doch immerhin sehr bemerkenswerte Thatsache erst dann den Besitz des Maubads gefährden, wenn die bisherige Minorität nahe an den Rest der durch Abtrünnige verminderten Majorität hinanreicht. Es können im Lande große Veränderungen in der Parteischattirnug entstehen und im Reichstage nicht zum Ausdruck komme». Es können umgekehrt Schiebungen der Fraktionen im Reichstage eintreten, obwohl die Stärke der einzelnen Wählergrnppen die gleiche geblieben ist. Wahlenthaltnngen und Wahlbündnisse tonnen deu Sieg bald der einen, bald der andern Gruppe zuwenden, ohne daß ein Mitglied aus dem bis¬ herigen Parteiverbande aufzutreten braucht. Wenn z. B. in einem Wahlkreise die konservative Partei 7000, die fortschrittliche 6000 und die sozialdemokra¬ tische 2000 Anhänger zählt, so liegt die Entscheidung, welche der erstgenannten beiden Parteien das Mandat erhalten soll, in den Händen der dritten. Das bedeutet soviel als die Herrschaft der Willkür, und es ist sogar die schwächste Gruppe, die sie ausübt. 7. Das Majoritätsprinzip führt aber nicht nur zu einer Verhehlung oder Entstellung thatsächlicher Vorgänge, es ruft auch Schiebungen und Bewegungen hervor, die sonst erst später oder allmählich in die Erscheinung treten würden. Da es in jedem Wahlbezirke nur ein einziger ist, der seine und seiner nächsten Gesinnungsgenossen Ansprüche in vollkommen befriedigender Weise zur Geltung bringen kann, so ist die Wählerschaft bei jeder Erneuerung des Reichstages genötigt, in unzweideutiger Weise zur Personalfrage Stellung zu nehmen. Die Wandlungen in den politischen Anschauungen einer Nation aber vollziehen sich langsam und unter der Einwirkung konstanter Kräfte. Bei unserm bedächtigen Volksstamme treten dieselben noch weniger hastig ein als bei manchen andern Nationen. Die Notwendigkeit indessen, sich am Wahltage schnell und ohne genaue Kenntnis der Verhältnisse für einen Kandidaten zu entscheiden, der die Sicherheit oder doch die größten Chancen des Erfolges für sich hat und dessen Programm uns am wenigsten widerstrebt — diese Notwendigkeit ver¬ anlaßt uns. oft unser Urteil übereilt abzugeben. Eine solche Überstürzung führt zu vorübergehenden Parteibildungen, deren Mitglieder keineswegs durch die Übereinstimmung der Ansichten, sondern durch den gemeinsamen Wunsch der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/77>, abgerufen am 15.01.2025.