Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die proportionale Berufsklassenwahl, entspringen lediglich den Bestimmungen des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 1. Das Majoritätsprinzip verleitet zur Wahlenthaltuug. Diese pflegt in 2. Die Minimalgrenze, welche durch die Forderung einer absoluten Majorität 3. Die Notwendigkeit, sich für einen Kandidaten zu entscheiden, bewirkt die Die proportionale Berufsklassenwahl, entspringen lediglich den Bestimmungen des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 1. Das Majoritätsprinzip verleitet zur Wahlenthaltuug. Diese pflegt in 2. Die Minimalgrenze, welche durch die Forderung einer absoluten Majorität 3. Die Notwendigkeit, sich für einen Kandidaten zu entscheiden, bewirkt die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0075" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196809"/> <fw type="header" place="top"> Die proportionale Berufsklassenwahl,</fw><lb/> <p xml:id="ID_178" prev="#ID_177"> entspringen lediglich den Bestimmungen des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869<lb/> und dessen späteren Ergänzungen. Mit dem verkehrten Prinzip dieser Aus-<lb/> führnngsnormen hängt eine Reihe von Übelständen zusammen, deren nähere<lb/> Beleuchtung zur Klärung der Frage unerläßlich erscheint.</p><lb/> <p xml:id="ID_179"> 1. Das Majoritätsprinzip verleitet zur Wahlenthaltuug. Diese pflegt in<lb/> den Fällen einzutreten, in welchen die Aussicht auf Erfolg entweder sehr groß<lb/> oder sehr gering ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_180"> 2. Die Minimalgrenze, welche durch die Forderung einer absoluten Majorität<lb/> von Stimmen für den Abgeordneten bedingt wird, erheischt die Koalition ge¬<lb/> sonderter Meinungsgruppen, welche an sich nicht stark genug wären, jene<lb/> Grenze zu erreichen. Um nicht einen Kandidaten durchzubringen, dessen An¬<lb/> schauungen sie nicht teilen, sind die Wähler genötigt, entweder ein Meinnugs-<lb/> vpfer zu bringen, d. h. denjenigen zu wählen, der, obwohl ihre Überzeugung<lb/> nicht vollständig vertretend, doch derselben am wenigsten entgegensteht, oder d) ihre<lb/> Meinung ohne Aussicht auf Erfolg geltend zu machen, oder o) sich der Wahl<lb/> zu enthalten. In dem ersteren dieser drei Fülle stellt sich die Wahl nicht als ein<lb/> Akt des Vertrauens, sondern als ein Versuch der Abwehr gefährlicherer Kon¬<lb/> kurrenten dar. Der zweite Fall ist eine thatsächlich wirkungslose, gewissermaßen<lb/> akademische Ausübung des Wahlrechts (Aufstellung von Zühlkandidaten), der<lb/> dritte gestaltet sich zum Verzicht auf Teilnahme an der Bildung der Volksvertre¬<lb/> tung. Von diesen drei Wegen, welche abseits von der ursprünglich beabsichtigten<lb/> Richtung führen, wird ohne Zweifel der erste am häufigsten beschritten. Hieraus<lb/> ergiebt sich, daß die Wahl der meisten Abgeordneten schon bei der Hauptwahl<lb/> nur durch stillschweigende Kompromisse zustande kommt, was wiederum dahin<lb/> führt, daß der Reichstag nicht die Mannichfaltigkeit der vielen, verschiedenartigen<lb/> Willensäußerungen der Nation wiederspiegelt. Je mehr Konzessionen im einzelnen<lb/> gemacht werden, desto größer ist die Inkongruenz zwischen Wählerschaft und<lb/> Vertretung.</p><lb/> <p xml:id="ID_181"> 3. Die Notwendigkeit, sich für einen Kandidaten zu entscheiden, bewirkt die<lb/> Unterjochung vieler Versprengten unter die Führerschaft einer tonangebenden<lb/> Clique. So entsteht die Partei, deren Programm nur von einem — oft<lb/> geringen — Teile der Mitglieder vollkommen gebilligt wird. Trotz mangelnder<lb/> Übereinstimmung der Anschauungen vollzieht sich meist uuter dem Drucke der Agi¬<lb/> tation oder unter der vorübergehenden Zugkraft eines politischen Stichwortes eine<lb/> Gruppirung um eine Persönlichkeit, die nicht als Träger der meisten überein¬<lb/> stimmenden Anschauungen gelten kann, sondern von einem rührigen Wahlvereiu<lb/> auf den Schild gehoben, ihr Ansehen traditionellen oder lokalen Eimvirkuugen.<lb/> oft auch nur einer allgemeinen Beliebtheit verdankt. Diese nnter dem moralischen<lb/> Drucke tonangebender Vereine stattfindende Zusammenschiebung erklärt in be¬<lb/> wegten Zeiten den Terrorismus politischer Koterien und führt in friedlichen<lb/> zur despotischen Herrschaft des Ccmcus.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0075]
Die proportionale Berufsklassenwahl,
entspringen lediglich den Bestimmungen des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869
und dessen späteren Ergänzungen. Mit dem verkehrten Prinzip dieser Aus-
führnngsnormen hängt eine Reihe von Übelständen zusammen, deren nähere
Beleuchtung zur Klärung der Frage unerläßlich erscheint.
1. Das Majoritätsprinzip verleitet zur Wahlenthaltuug. Diese pflegt in
den Fällen einzutreten, in welchen die Aussicht auf Erfolg entweder sehr groß
oder sehr gering ist.
2. Die Minimalgrenze, welche durch die Forderung einer absoluten Majorität
von Stimmen für den Abgeordneten bedingt wird, erheischt die Koalition ge¬
sonderter Meinungsgruppen, welche an sich nicht stark genug wären, jene
Grenze zu erreichen. Um nicht einen Kandidaten durchzubringen, dessen An¬
schauungen sie nicht teilen, sind die Wähler genötigt, entweder ein Meinnugs-
vpfer zu bringen, d. h. denjenigen zu wählen, der, obwohl ihre Überzeugung
nicht vollständig vertretend, doch derselben am wenigsten entgegensteht, oder d) ihre
Meinung ohne Aussicht auf Erfolg geltend zu machen, oder o) sich der Wahl
zu enthalten. In dem ersteren dieser drei Fülle stellt sich die Wahl nicht als ein
Akt des Vertrauens, sondern als ein Versuch der Abwehr gefährlicherer Kon¬
kurrenten dar. Der zweite Fall ist eine thatsächlich wirkungslose, gewissermaßen
akademische Ausübung des Wahlrechts (Aufstellung von Zühlkandidaten), der
dritte gestaltet sich zum Verzicht auf Teilnahme an der Bildung der Volksvertre¬
tung. Von diesen drei Wegen, welche abseits von der ursprünglich beabsichtigten
Richtung führen, wird ohne Zweifel der erste am häufigsten beschritten. Hieraus
ergiebt sich, daß die Wahl der meisten Abgeordneten schon bei der Hauptwahl
nur durch stillschweigende Kompromisse zustande kommt, was wiederum dahin
führt, daß der Reichstag nicht die Mannichfaltigkeit der vielen, verschiedenartigen
Willensäußerungen der Nation wiederspiegelt. Je mehr Konzessionen im einzelnen
gemacht werden, desto größer ist die Inkongruenz zwischen Wählerschaft und
Vertretung.
3. Die Notwendigkeit, sich für einen Kandidaten zu entscheiden, bewirkt die
Unterjochung vieler Versprengten unter die Führerschaft einer tonangebenden
Clique. So entsteht die Partei, deren Programm nur von einem — oft
geringen — Teile der Mitglieder vollkommen gebilligt wird. Trotz mangelnder
Übereinstimmung der Anschauungen vollzieht sich meist uuter dem Drucke der Agi¬
tation oder unter der vorübergehenden Zugkraft eines politischen Stichwortes eine
Gruppirung um eine Persönlichkeit, die nicht als Träger der meisten überein¬
stimmenden Anschauungen gelten kann, sondern von einem rührigen Wahlvereiu
auf den Schild gehoben, ihr Ansehen traditionellen oder lokalen Eimvirkuugen.
oft auch nur einer allgemeinen Beliebtheit verdankt. Diese nnter dem moralischen
Drucke tonangebender Vereine stattfindende Zusammenschiebung erklärt in be¬
wegten Zeiten den Terrorismus politischer Koterien und führt in friedlichen
zur despotischen Herrschaft des Ccmcus.
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