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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

seine Stelle! Das wird die Menschen körperlich und geistig gesund und darum
auch glücklich machen. Sind wir darin einig?

Sie sprechen mir aus der Seele! Nur in dem Einen greifen Sie fehl, daß
Sie diese Erziehung ausschließlich der Schule zuweisen wollen. Freilich, wenn
Sie die Familie abschaffen, bleibt Ihnen nichts andres übrig. Eins noch sagen
Sie mir: Sollen denn z. B. alle Jungen Astronomie lernen?

Der Tadel in Ihrer Frage ist bitter, aber völlig ungerecht. Eben deshalb
wird das Vorzüglichste geleistet werden, weil die Familien- und Vermögens¬
verhältnisse niemandem mehr beengende Schranken ziehen. Nur die Befähigung
wird entscheiden, und alle die vielen Talente, die jetzt im Kampfe mit niedrigen
Verhältnissen zu Grunde gehen, werden zu voller Entfaltung kommen. Begreifen
Sie denn nicht, daß das eine Blüte der Menschheit geben muß, wie die Welt
sie nie gesehen hat?

Wen" es so sein könnte, gewiß! Ich bin aber noch nicht zu Ende mit meinen
Fragen. Sie wollen den Kindern vor allem Moral beibringen. Auf welche
positive Religion Wollen Sie sich dabei stützen? Ohne Zweifel doch auf das
Christentum?

Nein. Wir verwerfen jede positive Religion, denn wir bedürfen derselben
nicht. Jeder Mensch wird einsehen, daß er, um glücklich zu sein, vor allem gut
sein muß -- darum werden alle gut sein.

Na na! sagt Papa Wrangel. So werfen Sie wohl auch den Glauben
an Gott und an eine Fortdauer nach dem Tode über Bord?

Wer an solche von der Wissenschaft längst überwnndne Dinge glauben
will, dem werden wir es nicht wehren. Aber in unsern Schulen werden wir
diese Lehren nicht dulden; sie würden rasch wieder zu den alten Mißbräuchen
im Namen Gottes, zur Priesterherrschaft und zur Unterordnung des einen
Menschen unter den andern führen. Wir aber wollen die Herrscherlosigkeit.

Dies ist der Puukt, Herr Doktor -- erwiederte ich nach einer Pause --,
wo unsre Wege sich definitiv scheiden. Eine religionslose Moral, wie neuer¬
dings Herbert Spencer sie predigt, halte ich für das unsinnigste aller Undinge.
Außerdem übersehen Sie völlig, daß die Religion nicht dazu allein dienen soll,
die Beziehungen der Menschen zu einander zu regeln, sondern vor allem dazu,
dem Einzelnen Kraft und Trost im Leiden zu verleihen und ihn über das
Elend des Lebens himvegzuheben, durch Vertrauen auf einen gütigen Gott und
auf ein Jenseits.

Das erscheint Ihnen so, weil Sie nicht imstande sind, sich von den An¬
gewöhnungen der Kindheit freizumachen. Aber auch andre Überzeugungen als
die Ihrigen können dem Menschen beigebracht werden, und ebenso feste. Glauben
Sie nicht, daß der Areopag, welcher Sokrates zum Tode verurteilte, fest über¬
zeugt war von seiner polytheistischen Lehre? oder war etwa Phidias, der den
Zeus schuf, ein Dummkopf oder ein Zweifler? Sehen Sie mich an: ich glaube


Mein Freund der Nihilist.

seine Stelle! Das wird die Menschen körperlich und geistig gesund und darum
auch glücklich machen. Sind wir darin einig?

Sie sprechen mir aus der Seele! Nur in dem Einen greifen Sie fehl, daß
Sie diese Erziehung ausschließlich der Schule zuweisen wollen. Freilich, wenn
Sie die Familie abschaffen, bleibt Ihnen nichts andres übrig. Eins noch sagen
Sie mir: Sollen denn z. B. alle Jungen Astronomie lernen?

Der Tadel in Ihrer Frage ist bitter, aber völlig ungerecht. Eben deshalb
wird das Vorzüglichste geleistet werden, weil die Familien- und Vermögens¬
verhältnisse niemandem mehr beengende Schranken ziehen. Nur die Befähigung
wird entscheiden, und alle die vielen Talente, die jetzt im Kampfe mit niedrigen
Verhältnissen zu Grunde gehen, werden zu voller Entfaltung kommen. Begreifen
Sie denn nicht, daß das eine Blüte der Menschheit geben muß, wie die Welt
sie nie gesehen hat?

Wen» es so sein könnte, gewiß! Ich bin aber noch nicht zu Ende mit meinen
Fragen. Sie wollen den Kindern vor allem Moral beibringen. Auf welche
positive Religion Wollen Sie sich dabei stützen? Ohne Zweifel doch auf das
Christentum?

Nein. Wir verwerfen jede positive Religion, denn wir bedürfen derselben
nicht. Jeder Mensch wird einsehen, daß er, um glücklich zu sein, vor allem gut
sein muß — darum werden alle gut sein.

Na na! sagt Papa Wrangel. So werfen Sie wohl auch den Glauben
an Gott und an eine Fortdauer nach dem Tode über Bord?

Wer an solche von der Wissenschaft längst überwnndne Dinge glauben
will, dem werden wir es nicht wehren. Aber in unsern Schulen werden wir
diese Lehren nicht dulden; sie würden rasch wieder zu den alten Mißbräuchen
im Namen Gottes, zur Priesterherrschaft und zur Unterordnung des einen
Menschen unter den andern führen. Wir aber wollen die Herrscherlosigkeit.

Dies ist der Puukt, Herr Doktor — erwiederte ich nach einer Pause —,
wo unsre Wege sich definitiv scheiden. Eine religionslose Moral, wie neuer¬
dings Herbert Spencer sie predigt, halte ich für das unsinnigste aller Undinge.
Außerdem übersehen Sie völlig, daß die Religion nicht dazu allein dienen soll,
die Beziehungen der Menschen zu einander zu regeln, sondern vor allem dazu,
dem Einzelnen Kraft und Trost im Leiden zu verleihen und ihn über das
Elend des Lebens himvegzuheben, durch Vertrauen auf einen gütigen Gott und
auf ein Jenseits.

Das erscheint Ihnen so, weil Sie nicht imstande sind, sich von den An¬
gewöhnungen der Kindheit freizumachen. Aber auch andre Überzeugungen als
die Ihrigen können dem Menschen beigebracht werden, und ebenso feste. Glauben
Sie nicht, daß der Areopag, welcher Sokrates zum Tode verurteilte, fest über¬
zeugt war von seiner polytheistischen Lehre? oder war etwa Phidias, der den
Zeus schuf, ein Dummkopf oder ein Zweifler? Sehen Sie mich an: ich glaube


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/662>, abgerufen am 15.01.2025.