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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

Sie ihnen bieten, sondern die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnen. Was
werden Sie mit diesen anfangen?

Ich glaube nicht, daß irgend jemand sich gegen die bestehende Ordnung
auflehnen wird.

So! Meinen Sie z. B., daß ich meinen Rock noch richtig am folgenden
Tage wiederfinden werde, wenn ich ihn abends vor der Hausthür liegen lasse?

Wer sollte ihn nehmen, da jeder einen Rock besitzt?

Das ist wahr. Aber wenn mir nun jemand eine Ohrfeige giebt?

So wird die Sache friedlich durch beiderseits erwählte Schiedsrichter
geschlichtet.

Und wenn er mich totschlägt und ich keinen Schiedsrichter mehr wählen
kann -- wie strafen Sie ihn?

Einen Menschen, der einen andern tötet, trifft überhaupt keine Strafe.
Er ist in unsern Augen ein Verrückter und wird ins Irrenhaus gesperrt, bis
er wieder vernünftig ist.

So! Und bekommt dort Wein und Zigarren, so viel er will? Da werden
Sie wenig Heilungen Unvernünftiger erzielen.

Wir werden sehr streng sein, ja nötigenfalls im Interesse des Ganzen so
weit gehen, dem Verrückten das Leben zu nehmen.

Was -- das Leben zu nehmen?

Unbedenklich -- aber nicht auf grausame Weise wie jetzt, sondern schmerzlos
und rasch, mit den Mitteln, welche die Wissenschaft an die Hand giebt, z. B.
im Schlafe mittels der Elektrizität.

Aber lieber Herr Doktor, das läuft ja einfach wieder auf die heimlichen
Hinrichtungen auf der Senfzerbrllcke hinaus, deren Stelle wir jetzt mit so großem
Vergnügen gegen ein Trinkgeld betrachten.

Darin irren Sie. Wir werden sehr selten in der Lage sein, eine Gesetzes¬
übertretung ahnden zu müssen; denn je einfachere Verhältnisse und je weniger
Gesetze, desto weniger Verletzungen derselben. Und das ist ein unendlicher Vorteil.

Gut. Denken wir uns einmal den Staat möglichst gesetzlos. Aber auch
in dem gesetzlosen Staate muß doch irgend etwas vorhanden sein, was dem
Menschen zur Richtschnur dient, und ein Antrieb, das Gute zu thun und das
Böse zu lassen.

Gewiß: die Moral und das Gewissen.

Sehen Sie, lieber Herr Doktor, jetzt kommt der Fuchs zum Loche heraus:
ohne ein Gesetz, und wenn es auch kein bürgerliches, sondern nur ein Moral¬
gesetz ist, und ohne einen starken Antrieb, das Gesetz zu halten, können Sie trotz
aller Einfachheit der Verhältnisse nicht fertig werden.

Das wollen wir auch garnicht -- im Gegenteil, wir erwarten alles vou
der Moral und dem Gewissen; wir wollen Menschen, die nicht aus Furcht vor
dem weltlichen Richter das Böse unterlassen und aus Egoismus das Gute thun,


Mein Freund der Nihilist.

Sie ihnen bieten, sondern die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnen. Was
werden Sie mit diesen anfangen?

Ich glaube nicht, daß irgend jemand sich gegen die bestehende Ordnung
auflehnen wird.

So! Meinen Sie z. B., daß ich meinen Rock noch richtig am folgenden
Tage wiederfinden werde, wenn ich ihn abends vor der Hausthür liegen lasse?

Wer sollte ihn nehmen, da jeder einen Rock besitzt?

Das ist wahr. Aber wenn mir nun jemand eine Ohrfeige giebt?

So wird die Sache friedlich durch beiderseits erwählte Schiedsrichter
geschlichtet.

Und wenn er mich totschlägt und ich keinen Schiedsrichter mehr wählen
kann — wie strafen Sie ihn?

Einen Menschen, der einen andern tötet, trifft überhaupt keine Strafe.
Er ist in unsern Augen ein Verrückter und wird ins Irrenhaus gesperrt, bis
er wieder vernünftig ist.

So! Und bekommt dort Wein und Zigarren, so viel er will? Da werden
Sie wenig Heilungen Unvernünftiger erzielen.

Wir werden sehr streng sein, ja nötigenfalls im Interesse des Ganzen so
weit gehen, dem Verrückten das Leben zu nehmen.

Was — das Leben zu nehmen?

Unbedenklich — aber nicht auf grausame Weise wie jetzt, sondern schmerzlos
und rasch, mit den Mitteln, welche die Wissenschaft an die Hand giebt, z. B.
im Schlafe mittels der Elektrizität.

Aber lieber Herr Doktor, das läuft ja einfach wieder auf die heimlichen
Hinrichtungen auf der Senfzerbrllcke hinaus, deren Stelle wir jetzt mit so großem
Vergnügen gegen ein Trinkgeld betrachten.

Darin irren Sie. Wir werden sehr selten in der Lage sein, eine Gesetzes¬
übertretung ahnden zu müssen; denn je einfachere Verhältnisse und je weniger
Gesetze, desto weniger Verletzungen derselben. Und das ist ein unendlicher Vorteil.

Gut. Denken wir uns einmal den Staat möglichst gesetzlos. Aber auch
in dem gesetzlosen Staate muß doch irgend etwas vorhanden sein, was dem
Menschen zur Richtschnur dient, und ein Antrieb, das Gute zu thun und das
Böse zu lassen.

Gewiß: die Moral und das Gewissen.

Sehen Sie, lieber Herr Doktor, jetzt kommt der Fuchs zum Loche heraus:
ohne ein Gesetz, und wenn es auch kein bürgerliches, sondern nur ein Moral¬
gesetz ist, und ohne einen starken Antrieb, das Gesetz zu halten, können Sie trotz
aller Einfachheit der Verhältnisse nicht fertig werden.

Das wollen wir auch garnicht — im Gegenteil, wir erwarten alles vou
der Moral und dem Gewissen; wir wollen Menschen, die nicht aus Furcht vor
dem weltlichen Richter das Böse unterlassen und aus Egoismus das Gute thun,


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[0660] Mein Freund der Nihilist. Sie ihnen bieten, sondern die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnen. Was werden Sie mit diesen anfangen? Ich glaube nicht, daß irgend jemand sich gegen die bestehende Ordnung auflehnen wird. So! Meinen Sie z. B., daß ich meinen Rock noch richtig am folgenden Tage wiederfinden werde, wenn ich ihn abends vor der Hausthür liegen lasse? Wer sollte ihn nehmen, da jeder einen Rock besitzt? Das ist wahr. Aber wenn mir nun jemand eine Ohrfeige giebt? So wird die Sache friedlich durch beiderseits erwählte Schiedsrichter geschlichtet. Und wenn er mich totschlägt und ich keinen Schiedsrichter mehr wählen kann — wie strafen Sie ihn? Einen Menschen, der einen andern tötet, trifft überhaupt keine Strafe. Er ist in unsern Augen ein Verrückter und wird ins Irrenhaus gesperrt, bis er wieder vernünftig ist. So! Und bekommt dort Wein und Zigarren, so viel er will? Da werden Sie wenig Heilungen Unvernünftiger erzielen. Wir werden sehr streng sein, ja nötigenfalls im Interesse des Ganzen so weit gehen, dem Verrückten das Leben zu nehmen. Was — das Leben zu nehmen? Unbedenklich — aber nicht auf grausame Weise wie jetzt, sondern schmerzlos und rasch, mit den Mitteln, welche die Wissenschaft an die Hand giebt, z. B. im Schlafe mittels der Elektrizität. Aber lieber Herr Doktor, das läuft ja einfach wieder auf die heimlichen Hinrichtungen auf der Senfzerbrllcke hinaus, deren Stelle wir jetzt mit so großem Vergnügen gegen ein Trinkgeld betrachten. Darin irren Sie. Wir werden sehr selten in der Lage sein, eine Gesetzes¬ übertretung ahnden zu müssen; denn je einfachere Verhältnisse und je weniger Gesetze, desto weniger Verletzungen derselben. Und das ist ein unendlicher Vorteil. Gut. Denken wir uns einmal den Staat möglichst gesetzlos. Aber auch in dem gesetzlosen Staate muß doch irgend etwas vorhanden sein, was dem Menschen zur Richtschnur dient, und ein Antrieb, das Gute zu thun und das Böse zu lassen. Gewiß: die Moral und das Gewissen. Sehen Sie, lieber Herr Doktor, jetzt kommt der Fuchs zum Loche heraus: ohne ein Gesetz, und wenn es auch kein bürgerliches, sondern nur ein Moral¬ gesetz ist, und ohne einen starken Antrieb, das Gesetz zu halten, können Sie trotz aller Einfachheit der Verhältnisse nicht fertig werden. Das wollen wir auch garnicht — im Gegenteil, wir erwarten alles vou der Moral und dem Gewissen; wir wollen Menschen, die nicht aus Furcht vor dem weltlichen Richter das Böse unterlassen und aus Egoismus das Gute thun,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/660>, abgerufen am 15.01.2025.