Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Zusatz der Redaktion. Wir habe" den vorstehenden Aufsatz eines unsrer
geschätztesten Mitarbeiter gern zum Abdruck gebracht, da er viel Wahres enthält,
wenn er auch vielleicht örtliche Erfahrungen etwas allzu kühn verallgemeinert.
Während z. B- die aus Berlin gerühmte Zuvorkommenheit des Publikums in den.
Pferdebahnwagen in Leipzig schlechterdings unbekannt ist, hat man in Leipzig nie
über den Unfug zu klagen, daß Kinder ans dem "Trottoir" Schüsseln. Sie legen
sich ihre Schleifbahnen auf den freien Plätzen oder in den neben den Fußwegen
herführenden Tngerinnen an, aber nie auf den Wegen selbst; wo sie es ja einmal
versuchen, wird ihnen der Spaß sofort dnrch den "Sandmann" verdorben. Da
wir aber einmal bei den "städtischen Arien und Unarten" sind, die sich übrigens
vielfach mit dein großen, schon bei andrer Gelegenheit in diesen Blättern be¬
handelten Kapitel von den "unerzogenen Erwachsenen" berühren, so wollen wir gleich
noch ein paar anschließen, die gerade in Leipzig im höchsten Maße im Schwange
sind. Das eine ist das lüderliche Herumwerfen von Papierfetzen ans den Straßen
und Plätzen. Dieser Unfug kann in keiner deutschen Stadt so arg sein wie in
Leipzig. Alles Straßenkehren hilft nichts -- nach ein paar Stunden liegt alles
wieder voll. Namentlich des Sonntags bieten in dieser Beziehung die Straßen Leip¬
zigs einen geradezu skandalösen Anblick dar. Zum Teil mag das damit zusammen¬
hängen, daß in der Buchhändlerstadt die Makulatur billiger ist als irgendwo sonst,
und infolgedessen ein Stück Einwickelpapier, das mau anderwärts drei- oder viermal
benutzen würde, als etwas völlig wertloses erscheint; zum Teil aber ist es sicherlich
eine bloße Unart der städtischen Bevölkerung, die einer dem andern gedankenlos nach¬
macht. Weitere Unarten herrschen ausschließlich unter der Herrenwelt. Dahin ge¬
hört der abscheuliche Unfug, auf deu außerhalb befindlichen Stehplätzen der Pferde¬
bahn oder an den Billetschaltern der Bahnhöfe, mitten im dichtesten Gedränge, die
glühende Zigarre im Munde zu behalten, sodaß die Umstehenden fortwährend in
Gefahr sind, ins Gesicht oder in den Nacken gebrannt zu werden; ferner die unbe¬
greifliche Gedankenlosigkeit, auf deu belebtesten Straßen den Stock entweder hori¬
zontal unteren Arme mit der Spitze nach hinten zu tragen oder -- uoch alberner --
in der Ueberzichertnschc (!) mit der Spitze uach oben, aber nicht etwa vorn an die
Schulter gelehnt, sondern hinter dem Arme (!), sodaß eine kleine Handbewegung
in der Tasche genügt, um dem ersten Besten, der hinter einem solchen Flaneur
hergeht, die Stockspitze ins Auge zu bohren. Auch das sind Dinge, um die
sich die Polizei recht Wohl kümmern könnte. Wenn sich Erwachsene wie unerzogene
Kinder benehmen, so dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn sie auf offener
Straße i:ora>in xublieo vou den Aufsichtsbeamten der Polizei zurechtgewiesen werden.
Wir lachen heute, wenn wir lesen, daß noch in den vierziger Jahren das Rauchen
auf den Straßen überhaupt verboten war, wir lachen, wenn nur lesen, daß uoch
vor achtzig Jahren junge Leute überhaupt keine Stöcke tragen durften. Aber "wir
haben nicht immer Recht, wenn wir lachen" -- sagt Lessing.




Zusatz der Redaktion. Wir habe« den vorstehenden Aufsatz eines unsrer
geschätztesten Mitarbeiter gern zum Abdruck gebracht, da er viel Wahres enthält,
wenn er auch vielleicht örtliche Erfahrungen etwas allzu kühn verallgemeinert.
Während z. B- die aus Berlin gerühmte Zuvorkommenheit des Publikums in den.
Pferdebahnwagen in Leipzig schlechterdings unbekannt ist, hat man in Leipzig nie
über den Unfug zu klagen, daß Kinder ans dem „Trottoir" Schüsseln. Sie legen
sich ihre Schleifbahnen auf den freien Plätzen oder in den neben den Fußwegen
herführenden Tngerinnen an, aber nie auf den Wegen selbst; wo sie es ja einmal
versuchen, wird ihnen der Spaß sofort dnrch den „Sandmann" verdorben. Da
wir aber einmal bei den „städtischen Arien und Unarten" sind, die sich übrigens
vielfach mit dein großen, schon bei andrer Gelegenheit in diesen Blättern be¬
handelten Kapitel von den „unerzogenen Erwachsenen" berühren, so wollen wir gleich
noch ein paar anschließen, die gerade in Leipzig im höchsten Maße im Schwange
sind. Das eine ist das lüderliche Herumwerfen von Papierfetzen ans den Straßen
und Plätzen. Dieser Unfug kann in keiner deutschen Stadt so arg sein wie in
Leipzig. Alles Straßenkehren hilft nichts — nach ein paar Stunden liegt alles
wieder voll. Namentlich des Sonntags bieten in dieser Beziehung die Straßen Leip¬
zigs einen geradezu skandalösen Anblick dar. Zum Teil mag das damit zusammen¬
hängen, daß in der Buchhändlerstadt die Makulatur billiger ist als irgendwo sonst,
und infolgedessen ein Stück Einwickelpapier, das mau anderwärts drei- oder viermal
benutzen würde, als etwas völlig wertloses erscheint; zum Teil aber ist es sicherlich
eine bloße Unart der städtischen Bevölkerung, die einer dem andern gedankenlos nach¬
macht. Weitere Unarten herrschen ausschließlich unter der Herrenwelt. Dahin ge¬
hört der abscheuliche Unfug, auf deu außerhalb befindlichen Stehplätzen der Pferde¬
bahn oder an den Billetschaltern der Bahnhöfe, mitten im dichtesten Gedränge, die
glühende Zigarre im Munde zu behalten, sodaß die Umstehenden fortwährend in
Gefahr sind, ins Gesicht oder in den Nacken gebrannt zu werden; ferner die unbe¬
greifliche Gedankenlosigkeit, auf deu belebtesten Straßen den Stock entweder hori¬
zontal unteren Arme mit der Spitze nach hinten zu tragen oder — uoch alberner —
in der Ueberzichertnschc (!) mit der Spitze uach oben, aber nicht etwa vorn an die
Schulter gelehnt, sondern hinter dem Arme (!), sodaß eine kleine Handbewegung
in der Tasche genügt, um dem ersten Besten, der hinter einem solchen Flaneur
hergeht, die Stockspitze ins Auge zu bohren. Auch das sind Dinge, um die
sich die Polizei recht Wohl kümmern könnte. Wenn sich Erwachsene wie unerzogene
Kinder benehmen, so dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn sie auf offener
Straße i:ora>in xublieo vou den Aufsichtsbeamten der Polizei zurechtgewiesen werden.
Wir lachen heute, wenn wir lesen, daß noch in den vierziger Jahren das Rauchen
auf den Straßen überhaupt verboten war, wir lachen, wenn nur lesen, daß uoch
vor achtzig Jahren junge Leute überhaupt keine Stöcke tragen durften. Aber „wir
haben nicht immer Recht, wenn wir lachen" — sagt Lessing.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0656" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197390"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2230"> Zusatz der Redaktion. Wir habe« den vorstehenden Aufsatz eines unsrer<lb/>
geschätztesten Mitarbeiter gern zum Abdruck gebracht, da er viel Wahres enthält,<lb/>
wenn er auch vielleicht örtliche Erfahrungen etwas allzu kühn verallgemeinert.<lb/>
Während z. B- die aus Berlin gerühmte Zuvorkommenheit des Publikums in den.<lb/>
Pferdebahnwagen in Leipzig schlechterdings unbekannt ist, hat man in Leipzig nie<lb/>
über den Unfug zu klagen, daß Kinder ans dem &#x201E;Trottoir" Schüsseln. Sie legen<lb/>
sich ihre Schleifbahnen auf den freien Plätzen oder in den neben den Fußwegen<lb/>
herführenden Tngerinnen an, aber nie auf den Wegen selbst; wo sie es ja einmal<lb/>
versuchen, wird ihnen der Spaß sofort dnrch den &#x201E;Sandmann" verdorben. Da<lb/>
wir aber einmal bei den &#x201E;städtischen Arien und Unarten" sind, die sich übrigens<lb/>
vielfach mit dein großen, schon bei andrer Gelegenheit in diesen Blättern be¬<lb/>
handelten Kapitel von den &#x201E;unerzogenen Erwachsenen" berühren, so wollen wir gleich<lb/>
noch ein paar anschließen, die gerade in Leipzig im höchsten Maße im Schwange<lb/>
sind. Das eine ist das lüderliche Herumwerfen von Papierfetzen ans den Straßen<lb/>
und Plätzen. Dieser Unfug kann in keiner deutschen Stadt so arg sein wie in<lb/>
Leipzig. Alles Straßenkehren hilft nichts &#x2014; nach ein paar Stunden liegt alles<lb/>
wieder voll. Namentlich des Sonntags bieten in dieser Beziehung die Straßen Leip¬<lb/>
zigs einen geradezu skandalösen Anblick dar. Zum Teil mag das damit zusammen¬<lb/>
hängen, daß in der Buchhändlerstadt die Makulatur billiger ist als irgendwo sonst,<lb/>
und infolgedessen ein Stück Einwickelpapier, das mau anderwärts drei- oder viermal<lb/>
benutzen würde, als etwas völlig wertloses erscheint; zum Teil aber ist es sicherlich<lb/>
eine bloße Unart der städtischen Bevölkerung, die einer dem andern gedankenlos nach¬<lb/>
macht. Weitere Unarten herrschen ausschließlich unter der Herrenwelt. Dahin ge¬<lb/>
hört der abscheuliche Unfug, auf deu außerhalb befindlichen Stehplätzen der Pferde¬<lb/>
bahn oder an den Billetschaltern der Bahnhöfe, mitten im dichtesten Gedränge, die<lb/>
glühende Zigarre im Munde zu behalten, sodaß die Umstehenden fortwährend in<lb/>
Gefahr sind, ins Gesicht oder in den Nacken gebrannt zu werden; ferner die unbe¬<lb/>
greifliche Gedankenlosigkeit, auf deu belebtesten Straßen den Stock entweder hori¬<lb/>
zontal unteren Arme mit der Spitze nach hinten zu tragen oder &#x2014; uoch alberner &#x2014;<lb/>
in der Ueberzichertnschc (!) mit der Spitze uach oben, aber nicht etwa vorn an die<lb/>
Schulter gelehnt, sondern hinter dem Arme (!), sodaß eine kleine Handbewegung<lb/>
in der Tasche genügt, um dem ersten Besten, der hinter einem solchen Flaneur<lb/>
hergeht, die Stockspitze ins Auge zu bohren. Auch das sind Dinge, um die<lb/>
sich die Polizei recht Wohl kümmern könnte. Wenn sich Erwachsene wie unerzogene<lb/>
Kinder benehmen, so dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn sie auf offener<lb/>
Straße i:ora&gt;in xublieo vou den Aufsichtsbeamten der Polizei zurechtgewiesen werden.<lb/>
Wir lachen heute, wenn wir lesen, daß noch in den vierziger Jahren das Rauchen<lb/>
auf den Straßen überhaupt verboten war, wir lachen, wenn nur lesen, daß uoch<lb/>
vor achtzig Jahren junge Leute überhaupt keine Stöcke tragen durften. Aber &#x201E;wir<lb/>
haben nicht immer Recht, wenn wir lachen" &#x2014; sagt Lessing.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0656] Zusatz der Redaktion. Wir habe« den vorstehenden Aufsatz eines unsrer geschätztesten Mitarbeiter gern zum Abdruck gebracht, da er viel Wahres enthält, wenn er auch vielleicht örtliche Erfahrungen etwas allzu kühn verallgemeinert. Während z. B- die aus Berlin gerühmte Zuvorkommenheit des Publikums in den. Pferdebahnwagen in Leipzig schlechterdings unbekannt ist, hat man in Leipzig nie über den Unfug zu klagen, daß Kinder ans dem „Trottoir" Schüsseln. Sie legen sich ihre Schleifbahnen auf den freien Plätzen oder in den neben den Fußwegen herführenden Tngerinnen an, aber nie auf den Wegen selbst; wo sie es ja einmal versuchen, wird ihnen der Spaß sofort dnrch den „Sandmann" verdorben. Da wir aber einmal bei den „städtischen Arien und Unarten" sind, die sich übrigens vielfach mit dein großen, schon bei andrer Gelegenheit in diesen Blättern be¬ handelten Kapitel von den „unerzogenen Erwachsenen" berühren, so wollen wir gleich noch ein paar anschließen, die gerade in Leipzig im höchsten Maße im Schwange sind. Das eine ist das lüderliche Herumwerfen von Papierfetzen ans den Straßen und Plätzen. Dieser Unfug kann in keiner deutschen Stadt so arg sein wie in Leipzig. Alles Straßenkehren hilft nichts — nach ein paar Stunden liegt alles wieder voll. Namentlich des Sonntags bieten in dieser Beziehung die Straßen Leip¬ zigs einen geradezu skandalösen Anblick dar. Zum Teil mag das damit zusammen¬ hängen, daß in der Buchhändlerstadt die Makulatur billiger ist als irgendwo sonst, und infolgedessen ein Stück Einwickelpapier, das mau anderwärts drei- oder viermal benutzen würde, als etwas völlig wertloses erscheint; zum Teil aber ist es sicherlich eine bloße Unart der städtischen Bevölkerung, die einer dem andern gedankenlos nach¬ macht. Weitere Unarten herrschen ausschließlich unter der Herrenwelt. Dahin ge¬ hört der abscheuliche Unfug, auf deu außerhalb befindlichen Stehplätzen der Pferde¬ bahn oder an den Billetschaltern der Bahnhöfe, mitten im dichtesten Gedränge, die glühende Zigarre im Munde zu behalten, sodaß die Umstehenden fortwährend in Gefahr sind, ins Gesicht oder in den Nacken gebrannt zu werden; ferner die unbe¬ greifliche Gedankenlosigkeit, auf deu belebtesten Straßen den Stock entweder hori¬ zontal unteren Arme mit der Spitze nach hinten zu tragen oder — uoch alberner — in der Ueberzichertnschc (!) mit der Spitze uach oben, aber nicht etwa vorn an die Schulter gelehnt, sondern hinter dem Arme (!), sodaß eine kleine Handbewegung in der Tasche genügt, um dem ersten Besten, der hinter einem solchen Flaneur hergeht, die Stockspitze ins Auge zu bohren. Auch das sind Dinge, um die sich die Polizei recht Wohl kümmern könnte. Wenn sich Erwachsene wie unerzogene Kinder benehmen, so dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn sie auf offener Straße i:ora>in xublieo vou den Aufsichtsbeamten der Polizei zurechtgewiesen werden. Wir lachen heute, wenn wir lesen, daß noch in den vierziger Jahren das Rauchen auf den Straßen überhaupt verboten war, wir lachen, wenn nur lesen, daß uoch vor achtzig Jahren junge Leute überhaupt keine Stöcke tragen durften. Aber „wir haben nicht immer Recht, wenn wir lachen" — sagt Lessing.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/656
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/656>, abgerufen am 15.01.2025.