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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

Und so soll die ganze Welt aus lauter autonomen Gemeinden bestehen?

Gewiß! Warum nicht?

Weil -- weil -- ich fand allerdings keinen triftigen Grund dagegen --
und so lachte ich.

Dr. A, stimmte ein. Sehen Sie, Herr Baron, Sie beginnen bereits unsre
Idee garnicht so schrecklich zu finden. Meinen Sie nicht, daß es im goldnen
Zeitalter ungefähr so gewesen sei?

Allerdings glaube ich das. Und zu diesen primitiven Zuständen sollen wir
zurückkehren?

Wenn das Wohl der Menschheit es erfordert, unbedenklich! Ja dieser
"Rückschritt" wird der größte Fortschritt sein, den die Menschheit jemals
gethan hat.

Jetzt hört alles auf! Ich glaubte immer, ich wäre der ärgste Rückschrittler.
weil ich bis auf die Germania des Tacitus zurück will -- um kommt ein
Nihilist und überherodest deu Herodes! Am Ende werden Sie mir noch die
Dynamitpatrone in die Hand drücken.

Ich sagte Ihnen schon zweimal, daß ich das Dynamik verabscheue und
alles von der friedlichen Propaganda erhoffe.

Richtig! Aber auf diese Weise erlebe ich's wohl schwerlich noch, daß die
autonome Gemeinde fertig wird.

Wiegen Sie sich nicht zu sehr in Sicherheit! Es kommt nur darauf an.
daß ein großer Mann aufsteht, dem es gelingt, die Massen mit sich fortzureißen;
über Nacht kann Europa nihilistisch werden.

Gottlob, unsre Heere sind treu.

Das waren sie im Juli 1830 und im Februar und März 1848 auch.
Was hilft das, wenn die Fürsten das Heer im Stiche lassen?

Ja ja, Sie haben leider nur zu sehr Recht! Aber nehmen wir an, die
Revolution triumphire, wie soll es denn in ihrer autonomen Gemeinde aussehen?

Das wird jede Gemeinde selbst festsetzen. Auch in dieser Hinsicht kann
nur die Erfahrung das letzte Wort sprechen. Ausgeschlossen ist nur. daß ein
Einzelner an der Spitze steht -- das wäre eine Herrschaft, und somit eine Gefahr
für die Gemeinde selbst und für die Nachbargemeinden. Es existirt bereits in
Rußland eine nicht unbedeutende Anzahl völlig demokratisch organisirter Dorf¬
gemeinden, Mir genannt. I", nördlichen Rußland giebt es sogar solche, in
welchen sich aus den urältesten Zeiten die Einrichtung erhalten hat, daß aller
Grund und Boden Eigentum der Gemeinde ist und nur nach einem gewissen
Turnus dem Einzelnen zur Bebauung überwiesen wird.

Wir hatten noch in meiner Jugendzeit fast überall in Norddeutschland ein
ähnliches Verhältnis: alles Weideland war Gemeindeeigentum und wurde ge¬
meinschaftlich benutzt. Es war meines Trachtens ein verhängnisvoller Fehler,
daß man das Gemeindecigentnm auflöste und in lauter Privateigentum parzellirtc.


Mein Freund der Nihilist.

Und so soll die ganze Welt aus lauter autonomen Gemeinden bestehen?

Gewiß! Warum nicht?

Weil — weil — ich fand allerdings keinen triftigen Grund dagegen —
und so lachte ich.

Dr. A, stimmte ein. Sehen Sie, Herr Baron, Sie beginnen bereits unsre
Idee garnicht so schrecklich zu finden. Meinen Sie nicht, daß es im goldnen
Zeitalter ungefähr so gewesen sei?

Allerdings glaube ich das. Und zu diesen primitiven Zuständen sollen wir
zurückkehren?

Wenn das Wohl der Menschheit es erfordert, unbedenklich! Ja dieser
„Rückschritt" wird der größte Fortschritt sein, den die Menschheit jemals
gethan hat.

Jetzt hört alles auf! Ich glaubte immer, ich wäre der ärgste Rückschrittler.
weil ich bis auf die Germania des Tacitus zurück will — um kommt ein
Nihilist und überherodest deu Herodes! Am Ende werden Sie mir noch die
Dynamitpatrone in die Hand drücken.

Ich sagte Ihnen schon zweimal, daß ich das Dynamik verabscheue und
alles von der friedlichen Propaganda erhoffe.

Richtig! Aber auf diese Weise erlebe ich's wohl schwerlich noch, daß die
autonome Gemeinde fertig wird.

Wiegen Sie sich nicht zu sehr in Sicherheit! Es kommt nur darauf an.
daß ein großer Mann aufsteht, dem es gelingt, die Massen mit sich fortzureißen;
über Nacht kann Europa nihilistisch werden.

Gottlob, unsre Heere sind treu.

Das waren sie im Juli 1830 und im Februar und März 1848 auch.
Was hilft das, wenn die Fürsten das Heer im Stiche lassen?

Ja ja, Sie haben leider nur zu sehr Recht! Aber nehmen wir an, die
Revolution triumphire, wie soll es denn in ihrer autonomen Gemeinde aussehen?

Das wird jede Gemeinde selbst festsetzen. Auch in dieser Hinsicht kann
nur die Erfahrung das letzte Wort sprechen. Ausgeschlossen ist nur. daß ein
Einzelner an der Spitze steht — das wäre eine Herrschaft, und somit eine Gefahr
für die Gemeinde selbst und für die Nachbargemeinden. Es existirt bereits in
Rußland eine nicht unbedeutende Anzahl völlig demokratisch organisirter Dorf¬
gemeinden, Mir genannt. I», nördlichen Rußland giebt es sogar solche, in
welchen sich aus den urältesten Zeiten die Einrichtung erhalten hat, daß aller
Grund und Boden Eigentum der Gemeinde ist und nur nach einem gewissen
Turnus dem Einzelnen zur Bebauung überwiesen wird.

Wir hatten noch in meiner Jugendzeit fast überall in Norddeutschland ein
ähnliches Verhältnis: alles Weideland war Gemeindeeigentum und wurde ge¬
meinschaftlich benutzt. Es war meines Trachtens ein verhängnisvoller Fehler,
daß man das Gemeindecigentnm auflöste und in lauter Privateigentum parzellirtc.


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[0613] Mein Freund der Nihilist. Und so soll die ganze Welt aus lauter autonomen Gemeinden bestehen? Gewiß! Warum nicht? Weil — weil — ich fand allerdings keinen triftigen Grund dagegen — und so lachte ich. Dr. A, stimmte ein. Sehen Sie, Herr Baron, Sie beginnen bereits unsre Idee garnicht so schrecklich zu finden. Meinen Sie nicht, daß es im goldnen Zeitalter ungefähr so gewesen sei? Allerdings glaube ich das. Und zu diesen primitiven Zuständen sollen wir zurückkehren? Wenn das Wohl der Menschheit es erfordert, unbedenklich! Ja dieser „Rückschritt" wird der größte Fortschritt sein, den die Menschheit jemals gethan hat. Jetzt hört alles auf! Ich glaubte immer, ich wäre der ärgste Rückschrittler. weil ich bis auf die Germania des Tacitus zurück will — um kommt ein Nihilist und überherodest deu Herodes! Am Ende werden Sie mir noch die Dynamitpatrone in die Hand drücken. Ich sagte Ihnen schon zweimal, daß ich das Dynamik verabscheue und alles von der friedlichen Propaganda erhoffe. Richtig! Aber auf diese Weise erlebe ich's wohl schwerlich noch, daß die autonome Gemeinde fertig wird. Wiegen Sie sich nicht zu sehr in Sicherheit! Es kommt nur darauf an. daß ein großer Mann aufsteht, dem es gelingt, die Massen mit sich fortzureißen; über Nacht kann Europa nihilistisch werden. Gottlob, unsre Heere sind treu. Das waren sie im Juli 1830 und im Februar und März 1848 auch. Was hilft das, wenn die Fürsten das Heer im Stiche lassen? Ja ja, Sie haben leider nur zu sehr Recht! Aber nehmen wir an, die Revolution triumphire, wie soll es denn in ihrer autonomen Gemeinde aussehen? Das wird jede Gemeinde selbst festsetzen. Auch in dieser Hinsicht kann nur die Erfahrung das letzte Wort sprechen. Ausgeschlossen ist nur. daß ein Einzelner an der Spitze steht — das wäre eine Herrschaft, und somit eine Gefahr für die Gemeinde selbst und für die Nachbargemeinden. Es existirt bereits in Rußland eine nicht unbedeutende Anzahl völlig demokratisch organisirter Dorf¬ gemeinden, Mir genannt. I», nördlichen Rußland giebt es sogar solche, in welchen sich aus den urältesten Zeiten die Einrichtung erhalten hat, daß aller Grund und Boden Eigentum der Gemeinde ist und nur nach einem gewissen Turnus dem Einzelnen zur Bebauung überwiesen wird. Wir hatten noch in meiner Jugendzeit fast überall in Norddeutschland ein ähnliches Verhältnis: alles Weideland war Gemeindeeigentum und wurde ge¬ meinschaftlich benutzt. Es war meines Trachtens ein verhängnisvoller Fehler, daß man das Gemeindecigentnm auflöste und in lauter Privateigentum parzellirtc.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/613>, abgerufen am 15.01.2025.