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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Wollen Sie noch eine Mondscheinpromenade am See machen, Herr Doktor?

Nein, es ist nur, um Ihnen die Treppe hinabzuleuchten und die Hausthür
zu öffnen.

Und dazu ziehen Sie den Pelz an?

Ja, es ist kalt im Treppenhause -- ich muß sehr vorsichtig mit meiner
Gesundheit sein. --

Und solch ein Mann will Rußland vom Joche befreien und die Ordnung
der Welt umkehren! --

Ich gestehe, daß ich in der Nacht nach dieser Unterredung nicht viel ge¬
schlafen habe. Immer wieder fragte ich mich: Wie ist es denn möglich! Im
Laufe eines 66 jährigen Lebens habe ich so ziemlich verlernt, mich noch über
irgend etwas zu wundern. Aber hier, im Angesichte des ersten wirklichen Nihi¬
listen, hier wunderte ich mich. Indes war ich am folgenden Abende so weit
ruhig, daß ich das Zimmer des Dr. A. mit dem festen Vorsätze betrat, das Un¬
sinnigste ruhig anzuhören und ihn nicht durch Widerspruch kopfscheu zu mache",
vielmehr ihm wo möglich sein ganzes Glaubensbekenntnis zu entlocken.

Dr. A. empfing mich mit offner Freundlichkeit, fast herzlich. Prado war
vorzüglich bei Stimme; er sang das Trio des Chopinschen Trauermarsches;
sein Herr strahlte vor Stolz. Dann vertieften wir uns sofort in unser Thema.

Was wir Nihilisten erstreben, sprach Ur. A., läßt sich in die wenigen Worte
zusammenfassen: Jeder Mensch soll auf Erden so gut werden und einen so
großen Anteil irdischer Glückseligkeit zugemessen erhalten, als möglich.

Erlauben Sie, lieber Herr Doktor, das erstrebe ich auch.

Das weiß ich, und eben darum wiederhole ich: im Herzensgrunde sind Sie
ein Nihilist. Wir gehen nur verschiedne Wege zum gleichen Ziele. Nur das
eine fürchte ich, Sie werden meine Vorlesung sehr trocken finden, wir Nihilisten
sind durchaus nicht phantastisch, weit eher sehr nüchterne Leute.

O, ich kann viel vertragen! Sie sollen mir überhaupt gar keine Vorlesung
halten, Herr Doktor, denn dabei könnten Sie nach Belieben das Wichtigste weg¬
lassen; Sie sollen nur meine Fragen beantworten.

Gut! so fragen Sie!

Also, Herr Doktor, nehmen wir an, Sie wären für einige Tage der Zar
und hätten zu dekretiren -- wie würde § I des Gesetzbuches Ihres Znkunfts-
stcmtes lauten?

Dr. A. lachte. Ihre Frage allein beweist wiederum die vollständigste Un¬
kenntnis unsrer Tendenzen. Wir wollen gar keinen Zukunftsstaat, weil wir
überhaupt keine" Staat wollen.

Keinen Staat -- was wollen Sie denn?

Wir wollen die menschliche Gesellschaft.

Also Rußland hört ans?

Natürlich!


Wollen Sie noch eine Mondscheinpromenade am See machen, Herr Doktor?

Nein, es ist nur, um Ihnen die Treppe hinabzuleuchten und die Hausthür
zu öffnen.

Und dazu ziehen Sie den Pelz an?

Ja, es ist kalt im Treppenhause — ich muß sehr vorsichtig mit meiner
Gesundheit sein. —

Und solch ein Mann will Rußland vom Joche befreien und die Ordnung
der Welt umkehren! —

Ich gestehe, daß ich in der Nacht nach dieser Unterredung nicht viel ge¬
schlafen habe. Immer wieder fragte ich mich: Wie ist es denn möglich! Im
Laufe eines 66 jährigen Lebens habe ich so ziemlich verlernt, mich noch über
irgend etwas zu wundern. Aber hier, im Angesichte des ersten wirklichen Nihi¬
listen, hier wunderte ich mich. Indes war ich am folgenden Abende so weit
ruhig, daß ich das Zimmer des Dr. A. mit dem festen Vorsätze betrat, das Un¬
sinnigste ruhig anzuhören und ihn nicht durch Widerspruch kopfscheu zu mache»,
vielmehr ihm wo möglich sein ganzes Glaubensbekenntnis zu entlocken.

Dr. A. empfing mich mit offner Freundlichkeit, fast herzlich. Prado war
vorzüglich bei Stimme; er sang das Trio des Chopinschen Trauermarsches;
sein Herr strahlte vor Stolz. Dann vertieften wir uns sofort in unser Thema.

Was wir Nihilisten erstreben, sprach Ur. A., läßt sich in die wenigen Worte
zusammenfassen: Jeder Mensch soll auf Erden so gut werden und einen so
großen Anteil irdischer Glückseligkeit zugemessen erhalten, als möglich.

Erlauben Sie, lieber Herr Doktor, das erstrebe ich auch.

Das weiß ich, und eben darum wiederhole ich: im Herzensgrunde sind Sie
ein Nihilist. Wir gehen nur verschiedne Wege zum gleichen Ziele. Nur das
eine fürchte ich, Sie werden meine Vorlesung sehr trocken finden, wir Nihilisten
sind durchaus nicht phantastisch, weit eher sehr nüchterne Leute.

O, ich kann viel vertragen! Sie sollen mir überhaupt gar keine Vorlesung
halten, Herr Doktor, denn dabei könnten Sie nach Belieben das Wichtigste weg¬
lassen; Sie sollen nur meine Fragen beantworten.

Gut! so fragen Sie!

Also, Herr Doktor, nehmen wir an, Sie wären für einige Tage der Zar
und hätten zu dekretiren — wie würde § I des Gesetzbuches Ihres Znkunfts-
stcmtes lauten?

Dr. A. lachte. Ihre Frage allein beweist wiederum die vollständigste Un¬
kenntnis unsrer Tendenzen. Wir wollen gar keinen Zukunftsstaat, weil wir
überhaupt keine« Staat wollen.

Keinen Staat — was wollen Sie denn?

Wir wollen die menschliche Gesellschaft.

Also Rußland hört ans?

Natürlich!


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[0611] Wollen Sie noch eine Mondscheinpromenade am See machen, Herr Doktor? Nein, es ist nur, um Ihnen die Treppe hinabzuleuchten und die Hausthür zu öffnen. Und dazu ziehen Sie den Pelz an? Ja, es ist kalt im Treppenhause — ich muß sehr vorsichtig mit meiner Gesundheit sein. — Und solch ein Mann will Rußland vom Joche befreien und die Ordnung der Welt umkehren! — Ich gestehe, daß ich in der Nacht nach dieser Unterredung nicht viel ge¬ schlafen habe. Immer wieder fragte ich mich: Wie ist es denn möglich! Im Laufe eines 66 jährigen Lebens habe ich so ziemlich verlernt, mich noch über irgend etwas zu wundern. Aber hier, im Angesichte des ersten wirklichen Nihi¬ listen, hier wunderte ich mich. Indes war ich am folgenden Abende so weit ruhig, daß ich das Zimmer des Dr. A. mit dem festen Vorsätze betrat, das Un¬ sinnigste ruhig anzuhören und ihn nicht durch Widerspruch kopfscheu zu mache», vielmehr ihm wo möglich sein ganzes Glaubensbekenntnis zu entlocken. Dr. A. empfing mich mit offner Freundlichkeit, fast herzlich. Prado war vorzüglich bei Stimme; er sang das Trio des Chopinschen Trauermarsches; sein Herr strahlte vor Stolz. Dann vertieften wir uns sofort in unser Thema. Was wir Nihilisten erstreben, sprach Ur. A., läßt sich in die wenigen Worte zusammenfassen: Jeder Mensch soll auf Erden so gut werden und einen so großen Anteil irdischer Glückseligkeit zugemessen erhalten, als möglich. Erlauben Sie, lieber Herr Doktor, das erstrebe ich auch. Das weiß ich, und eben darum wiederhole ich: im Herzensgrunde sind Sie ein Nihilist. Wir gehen nur verschiedne Wege zum gleichen Ziele. Nur das eine fürchte ich, Sie werden meine Vorlesung sehr trocken finden, wir Nihilisten sind durchaus nicht phantastisch, weit eher sehr nüchterne Leute. O, ich kann viel vertragen! Sie sollen mir überhaupt gar keine Vorlesung halten, Herr Doktor, denn dabei könnten Sie nach Belieben das Wichtigste weg¬ lassen; Sie sollen nur meine Fragen beantworten. Gut! so fragen Sie! Also, Herr Doktor, nehmen wir an, Sie wären für einige Tage der Zar und hätten zu dekretiren — wie würde § I des Gesetzbuches Ihres Znkunfts- stcmtes lauten? Dr. A. lachte. Ihre Frage allein beweist wiederum die vollständigste Un¬ kenntnis unsrer Tendenzen. Wir wollen gar keinen Zukunftsstaat, weil wir überhaupt keine« Staat wollen. Keinen Staat — was wollen Sie denn? Wir wollen die menschliche Gesellschaft. Also Rußland hört ans? Natürlich!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/611>, abgerufen am 15.01.2025.