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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dem Stilfser Joch.

Berlins geschaffen. Zu der letzter" Gattung gehörte auch Haralds Hauswirt,
und da die Treppen noch nicht mit Smyrnäer Teppichen belegt waren, die Flur¬
fenster nicht durch Glasgemüldc das Licht verdunkelten und Wandmalereien noch
nicht in den Treppenräumcn die phantasiereiche Ahnengcschichtc des Eigentümers
den staunenden Besuchen, verkündeten, war es unserm Freunde gelungen, gegen
einen mäßigen Mietzins sich ein Obdach und eine Werkstatt zu erschwingen.

Es war schon mit dem Anfang Oktober ein frühzeitiger Herbst eingetreten;
stürmische Nächte hatten die von der Sonnenglut gelb und starr gewordenen
Blätter von den Bäumen geschüttelt; diese waren fast gänzlich kahl geworden
nud hatten nur noch an dem einen oder andern Zweige ein paar Blätter aus¬
zuweisen, die als das letzte Merkmal des Sommers mit äußerster Anstrengung
dem Schütteln des Sturmes Widerstand zu leisten verstanden hatten. Der
Himmel war grau und schwer; es war kalt, kurz, gerade an einem jener Tage,
an dem es nicht mehr Sommer ist, die Sonne gänzlich Abschied genommen zu
haben schien. Und doch war noch nicht der Winter mit seinem behaglichen Aufent¬
halt im Hause eingekehrt. Die Straße war ruhig, nur ab und zu huschte ein
Dienstmädchen über den Damm, um eine Besorgung zu luachcu und bei dieser
Gelegenheit ein Viertelstttndchen ihr häusliches Einerlei im Geplauder mit den
Pvrtierleuten des Nachbarhauses einer Kritik zu unterziehen.

Harald saß am Fenster und starrte in das Leere hinaus; er dachte all
das, was die letzten Zeiten ihm gebracht hatten und was die nächste Zukunft
ihm bringen sollte.

Fürwahr, er hatte bei seinem Fortgange von Berlin keinen Grund zur
Traurigkeit gehabt, sondern hatte mit Fröhlichkeit und verheißenden Hoffnungen
den Wanderstab ergriffen. Seine Jugend war keine besonders glückliche gewesen,
aber die Harmlosigkeit seines Gemütes und seine natürliche Anlage zum Humor
hatten ihn die engen Verhältnisse, in denen er angewachsen war, nicht fühlen
lassen. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, als ihm sein Vater, ein Kommunal-
beamter mit mäßigem Einkommen in einem kleinen Städtchen an der schlesisch-pol¬
nische" Grenze, gestorben war. Das geringe Einkommen, mit dem nur sparsam die
Wirtschaft hatte geführt werden können, der Hang zum Wohlleben, den der Vater
nur dnrch die energische Dämpfung der Mutter hatte nnteldrückeii müssen, hatten
nicht selten den häuslichen Frieden gestört, und nur das kluge Einlenken der Mutter
hatte das Hauswesen soweit aufrecht erhalte", daß dem kindlichen Sinn des
Sohnes der innere Widerspruch und die tiefe Disharmonie der Gatten entgangen
oder doch nicht fühlbar geworden war. Die Mutter, welche noch zwei Jahre vor
dem Tode des Gatten demselben hintereinander einen Sohn und eine Tochter
geschenkt hatte, wäre der kleinen Pension gegenüber in der Lage gewesen, nur
notdürftig ihre Kinder und sich zu erhalten. " Aber sie hatte damals noch durch
die Erbschaft eines weitläufigen Verwandten in Dänemark, der schriftlich die
Patenstelle bei Harald angenommen hatte, ein kleines Kapital besessen, das sie


Auf dem Stilfser Joch.

Berlins geschaffen. Zu der letzter» Gattung gehörte auch Haralds Hauswirt,
und da die Treppen noch nicht mit Smyrnäer Teppichen belegt waren, die Flur¬
fenster nicht durch Glasgemüldc das Licht verdunkelten und Wandmalereien noch
nicht in den Treppenräumcn die phantasiereiche Ahnengcschichtc des Eigentümers
den staunenden Besuchen, verkündeten, war es unserm Freunde gelungen, gegen
einen mäßigen Mietzins sich ein Obdach und eine Werkstatt zu erschwingen.

Es war schon mit dem Anfang Oktober ein frühzeitiger Herbst eingetreten;
stürmische Nächte hatten die von der Sonnenglut gelb und starr gewordenen
Blätter von den Bäumen geschüttelt; diese waren fast gänzlich kahl geworden
nud hatten nur noch an dem einen oder andern Zweige ein paar Blätter aus¬
zuweisen, die als das letzte Merkmal des Sommers mit äußerster Anstrengung
dem Schütteln des Sturmes Widerstand zu leisten verstanden hatten. Der
Himmel war grau und schwer; es war kalt, kurz, gerade an einem jener Tage,
an dem es nicht mehr Sommer ist, die Sonne gänzlich Abschied genommen zu
haben schien. Und doch war noch nicht der Winter mit seinem behaglichen Aufent¬
halt im Hause eingekehrt. Die Straße war ruhig, nur ab und zu huschte ein
Dienstmädchen über den Damm, um eine Besorgung zu luachcu und bei dieser
Gelegenheit ein Viertelstttndchen ihr häusliches Einerlei im Geplauder mit den
Pvrtierleuten des Nachbarhauses einer Kritik zu unterziehen.

Harald saß am Fenster und starrte in das Leere hinaus; er dachte all
das, was die letzten Zeiten ihm gebracht hatten und was die nächste Zukunft
ihm bringen sollte.

Fürwahr, er hatte bei seinem Fortgange von Berlin keinen Grund zur
Traurigkeit gehabt, sondern hatte mit Fröhlichkeit und verheißenden Hoffnungen
den Wanderstab ergriffen. Seine Jugend war keine besonders glückliche gewesen,
aber die Harmlosigkeit seines Gemütes und seine natürliche Anlage zum Humor
hatten ihn die engen Verhältnisse, in denen er angewachsen war, nicht fühlen
lassen. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, als ihm sein Vater, ein Kommunal-
beamter mit mäßigem Einkommen in einem kleinen Städtchen an der schlesisch-pol¬
nische» Grenze, gestorben war. Das geringe Einkommen, mit dem nur sparsam die
Wirtschaft hatte geführt werden können, der Hang zum Wohlleben, den der Vater
nur dnrch die energische Dämpfung der Mutter hatte nnteldrückeii müssen, hatten
nicht selten den häuslichen Frieden gestört, und nur das kluge Einlenken der Mutter
hatte das Hauswesen soweit aufrecht erhalte», daß dem kindlichen Sinn des
Sohnes der innere Widerspruch und die tiefe Disharmonie der Gatten entgangen
oder doch nicht fühlbar geworden war. Die Mutter, welche noch zwei Jahre vor
dem Tode des Gatten demselben hintereinander einen Sohn und eine Tochter
geschenkt hatte, wäre der kleinen Pension gegenüber in der Lage gewesen, nur
notdürftig ihre Kinder und sich zu erhalten. " Aber sie hatte damals noch durch
die Erbschaft eines weitläufigen Verwandten in Dänemark, der schriftlich die
Patenstelle bei Harald angenommen hatte, ein kleines Kapital besessen, das sie


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[0059] Auf dem Stilfser Joch. Berlins geschaffen. Zu der letzter» Gattung gehörte auch Haralds Hauswirt, und da die Treppen noch nicht mit Smyrnäer Teppichen belegt waren, die Flur¬ fenster nicht durch Glasgemüldc das Licht verdunkelten und Wandmalereien noch nicht in den Treppenräumcn die phantasiereiche Ahnengcschichtc des Eigentümers den staunenden Besuchen, verkündeten, war es unserm Freunde gelungen, gegen einen mäßigen Mietzins sich ein Obdach und eine Werkstatt zu erschwingen. Es war schon mit dem Anfang Oktober ein frühzeitiger Herbst eingetreten; stürmische Nächte hatten die von der Sonnenglut gelb und starr gewordenen Blätter von den Bäumen geschüttelt; diese waren fast gänzlich kahl geworden nud hatten nur noch an dem einen oder andern Zweige ein paar Blätter aus¬ zuweisen, die als das letzte Merkmal des Sommers mit äußerster Anstrengung dem Schütteln des Sturmes Widerstand zu leisten verstanden hatten. Der Himmel war grau und schwer; es war kalt, kurz, gerade an einem jener Tage, an dem es nicht mehr Sommer ist, die Sonne gänzlich Abschied genommen zu haben schien. Und doch war noch nicht der Winter mit seinem behaglichen Aufent¬ halt im Hause eingekehrt. Die Straße war ruhig, nur ab und zu huschte ein Dienstmädchen über den Damm, um eine Besorgung zu luachcu und bei dieser Gelegenheit ein Viertelstttndchen ihr häusliches Einerlei im Geplauder mit den Pvrtierleuten des Nachbarhauses einer Kritik zu unterziehen. Harald saß am Fenster und starrte in das Leere hinaus; er dachte all das, was die letzten Zeiten ihm gebracht hatten und was die nächste Zukunft ihm bringen sollte. Fürwahr, er hatte bei seinem Fortgange von Berlin keinen Grund zur Traurigkeit gehabt, sondern hatte mit Fröhlichkeit und verheißenden Hoffnungen den Wanderstab ergriffen. Seine Jugend war keine besonders glückliche gewesen, aber die Harmlosigkeit seines Gemütes und seine natürliche Anlage zum Humor hatten ihn die engen Verhältnisse, in denen er angewachsen war, nicht fühlen lassen. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, als ihm sein Vater, ein Kommunal- beamter mit mäßigem Einkommen in einem kleinen Städtchen an der schlesisch-pol¬ nische» Grenze, gestorben war. Das geringe Einkommen, mit dem nur sparsam die Wirtschaft hatte geführt werden können, der Hang zum Wohlleben, den der Vater nur dnrch die energische Dämpfung der Mutter hatte nnteldrückeii müssen, hatten nicht selten den häuslichen Frieden gestört, und nur das kluge Einlenken der Mutter hatte das Hauswesen soweit aufrecht erhalte», daß dem kindlichen Sinn des Sohnes der innere Widerspruch und die tiefe Disharmonie der Gatten entgangen oder doch nicht fühlbar geworden war. Die Mutter, welche noch zwei Jahre vor dem Tode des Gatten demselben hintereinander einen Sohn und eine Tochter geschenkt hatte, wäre der kleinen Pension gegenüber in der Lage gewesen, nur notdürftig ihre Kinder und sich zu erhalten. " Aber sie hatte damals noch durch die Erbschaft eines weitläufigen Verwandten in Dänemark, der schriftlich die Patenstelle bei Harald angenommen hatte, ein kleines Kapital besessen, das sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/59>, abgerufen am 15.01.2025.