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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Mein Freund der Nihilist.

Arbeit an der Maschine selbst zur Maschine herabgewürdigt, von den reichen
Unternehmern und Aktiengesellschaften in entsetzlicher Weise ausgebeutet, fast
überall unter den niedrigsten Stand der menschlichen Bedürfnisse herabgedrückt,
und noch dazu ohne Garantie der Dauer auch nur dieser Existenz. Ich bin
ein entschiedner Gegner Zolas, aber unzweifelhaft schildert er überall durchaus
wahrheitsgetreu. Und ich muß sagen: wenn z. B. die Zustände in den Kohlen¬
bergwerken von Morceau-les-mines wirklich so sind, wie er sie im Sörrning,! uns
vorführt, so ist das eine Schande für die Menschheit, und speziell für die, welche
sich Christen nennen, und jene Unglücklichen haben ganz Recht, wenn sie sagen:
so wollen wir nicht weiter leben, auch wir sind Menschen, auch wir haben
Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein.

Es entstand eine Pause. A. ging mit großen Schritten im Zimmer umher.
Endlich sprach er:

Wissen Sie, was Sie sind, Herr Baron?

Nun?

Sie sind ein Nihilist as pur saiiK.

Ich danke schön!

Ja ja, und lebten Sie in Rußland. vollständig reif für Sibirien. Aber
bleiben wir bei unserm Thema, dem Unterschiede zwischen deutscher Sozial¬
demokratie und russischem Nihilismus. Die Zustände, welche Sie eben schildern,
existiren in Nußland nicht. Wir haben sehr wenige Fabriken. Überhaupt ist
bei uns die Bevölkerung der Städte verschwindend klein gegen die des platten
Landes. Und im Gegensatz zu Deutschland ist es gerade die Landbevölkerung,
welche in einem fast unerträglichen Elende schmachtet und welche der Nihilis¬
mus befreien möchte.

Wie hängt das zusammen?

Sehr einfach. Alexander der Zweite war ein Fürst von ungewöhnlich edelm
Charakter. Es war ihm unerträglich, daß Rußland allein die Leibeigenschaft
beibehalten hatte, während sie im ganzen übrigen Enropa als des Menschen
unwürdig beseitigt war. Er wünschte einen kräftigen freien Bauernstand zu
schaffen, wie ihn Deutschland besaß, um eine feste Stütze des Staates zu ge¬
winnen, vielleicht auch eine Stütze seiner Negierung dem mächtigen Grundadel
gegenüber. Daher begann er im Jahre 1861 die Emanzipation der Leibeignen,
er brach mit Hilfe Nasimvffs den anfangs heftigen Widerstand des Adels, und
nach wenigen Jahren war das große Werk durchgeführt.

Und wie verfuhr man dabei?

Nach einem einfachen, und wie es damals schien, durchaus verstündigen
Prinzip. Es wurde eine Norm aufgestellt, wieviel Land zur Erhaltung einer
Leibeignenfamilie erforderlich sei. Je nach der Zahl ihrer Mitglieder erhielt
dann jede Familie eine Anzahl Dessatinen Ackerland. Der Wert dieses Landes
wurde durch einen Kommissar abgeschätzt; die Regierung streckte dem neuen


Mein Freund der Nihilist.

Arbeit an der Maschine selbst zur Maschine herabgewürdigt, von den reichen
Unternehmern und Aktiengesellschaften in entsetzlicher Weise ausgebeutet, fast
überall unter den niedrigsten Stand der menschlichen Bedürfnisse herabgedrückt,
und noch dazu ohne Garantie der Dauer auch nur dieser Existenz. Ich bin
ein entschiedner Gegner Zolas, aber unzweifelhaft schildert er überall durchaus
wahrheitsgetreu. Und ich muß sagen: wenn z. B. die Zustände in den Kohlen¬
bergwerken von Morceau-les-mines wirklich so sind, wie er sie im Sörrning,! uns
vorführt, so ist das eine Schande für die Menschheit, und speziell für die, welche
sich Christen nennen, und jene Unglücklichen haben ganz Recht, wenn sie sagen:
so wollen wir nicht weiter leben, auch wir sind Menschen, auch wir haben
Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein.

Es entstand eine Pause. A. ging mit großen Schritten im Zimmer umher.
Endlich sprach er:

Wissen Sie, was Sie sind, Herr Baron?

Nun?

Sie sind ein Nihilist as pur saiiK.

Ich danke schön!

Ja ja, und lebten Sie in Rußland. vollständig reif für Sibirien. Aber
bleiben wir bei unserm Thema, dem Unterschiede zwischen deutscher Sozial¬
demokratie und russischem Nihilismus. Die Zustände, welche Sie eben schildern,
existiren in Nußland nicht. Wir haben sehr wenige Fabriken. Überhaupt ist
bei uns die Bevölkerung der Städte verschwindend klein gegen die des platten
Landes. Und im Gegensatz zu Deutschland ist es gerade die Landbevölkerung,
welche in einem fast unerträglichen Elende schmachtet und welche der Nihilis¬
mus befreien möchte.

Wie hängt das zusammen?

Sehr einfach. Alexander der Zweite war ein Fürst von ungewöhnlich edelm
Charakter. Es war ihm unerträglich, daß Rußland allein die Leibeigenschaft
beibehalten hatte, während sie im ganzen übrigen Enropa als des Menschen
unwürdig beseitigt war. Er wünschte einen kräftigen freien Bauernstand zu
schaffen, wie ihn Deutschland besaß, um eine feste Stütze des Staates zu ge¬
winnen, vielleicht auch eine Stütze seiner Negierung dem mächtigen Grundadel
gegenüber. Daher begann er im Jahre 1861 die Emanzipation der Leibeignen,
er brach mit Hilfe Nasimvffs den anfangs heftigen Widerstand des Adels, und
nach wenigen Jahren war das große Werk durchgeführt.

Und wie verfuhr man dabei?

Nach einem einfachen, und wie es damals schien, durchaus verstündigen
Prinzip. Es wurde eine Norm aufgestellt, wieviel Land zur Erhaltung einer
Leibeignenfamilie erforderlich sei. Je nach der Zahl ihrer Mitglieder erhielt
dann jede Familie eine Anzahl Dessatinen Ackerland. Der Wert dieses Landes
wurde durch einen Kommissar abgeschätzt; die Regierung streckte dem neuen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/555>, abgerufen am 15.01.2025.